Vorwort zu einem „depublizierten“ Buch

verbunden mit dem Aufruf an meine hochverehrte Leserschaft (welche bekanntermaßen die schönste, sexyeste, intelligenteste und engagierteste Leserschaft des gesamten gottverdammten Internets ist), tatkräftig an der Re-Publizierung mitzuwirken.


Mein neues Buch ist mutmaßlich das am kürzesten verfügbar gewesene Druckwerk aller Zeiten. Es war vom Abend des 4. Juli 22 bis zum Morgen des 5. Juli 22 in der Welt, das heißt am Markt erhältlich und käuflich zu erwerben, dann wurde es von – ich weiß nicht, ob humanen oder maschinellen – „Durchsichts“-Instanzen aus Gründen, die bislang nicht in Erfahrung zu bringen waren, als irgendwie „schädlich“ oder „in sonstiger Weise abzulehnend“ detektiert und ohne viel Federlesens „depubliziert“. Lingua Imperii Cancelculturii. Ich habe keine DDR-Biographie vorzuweisen, aber so wie sich dieses Wort – „depubliziert“ – anfühlt in seiner graubraunvergilbten Bürokratenchromatik, so in etwa muss sich wohl das Leben in der Zone angefühlt haben. Zwölf Anschläge durchs blässelnde Farbband, Stempel drunter, ab in den Archivkeller, Brille putzen, jetzt ein schönes Tässchen Mocca Fix Gold, Vormittagsbehagen nach erster getaner Unschädlichmachung, lang lebe die Depublik.

Aber das ist ahistorisches Assoziieren, heute nämlich freut sich nicht nur der Depublizist, auch der Bibliophilen-Markt gerät in Aufregung. Ich habe noch keinen Einblick in die Verkaufsstatistik, aber ich vermute, dass kaum jemand das knappe Ergatterungszeitfenster genutzt hat, um mein Buch zu bestellen, zumal ich ja nicht mal dazu kam, überhaupt auf sein Erscheinen hinzuweisen und meine kleine private Marketingmaschine anzuwerfen. Insofern stellt das Werk mit dem sich selbst beweisenden Titel „Damals im Coronismus“ (bei Thalia oder Amazon noch zu besichtigen, aber nicht zu bestellen) nun gewiss eines der spektakulärsten Rarissima der Literaturgeschichte dar. Zum Glück habe ich selbst ein Exemplar zu Prüfzwecken bestellt, und ich hoffe, dieses dereinst mal für ein paar Millionen an irgendeinen bibliomanischen Tech-Milliardär verscherbeln zu können.

Was ich hier mit gezwungener Lustigkeit wegzulächeln suche, ist der todtraurige Surrealismus dieser ganzen Angelegenheit und der Schock, der mir noch immer in den Gliedern sitzt. Eigentlich kann ich nicht so richtig glauben, was mir da gerade passiert, aber ein Blick in den Mailwechsel mit dem namenlosen Autorenberater der Publishingplattform, deren Druck- und Vertriebsservice ich bis dato gern und mit einer gewissen, aus alten Independent-Musiker-Zeiten übriggebliebenen DIY-Überzeugung genutzt habe, beweist mir glasklar, dass das Ganze kein Albtraum ist, keine fiese Verstehen-Sie-Spaß-Nummer, kein schräges Kafka-Reenactment, sondern die Realität in der Bundesrepublik Deutschland des Jahres 2022.

So eine Firma ist nun keine staatliche Behörde, insofern kann man korrekterweise nicht von Zensur sprechen, aber – und das ist das (im Wortsinn) Gemeingefährliche: Zensur ist eben gar nicht mehr nötig, die Öffentlichkeit ist mittlerweile offenbar derart „linksliberal“ (im Wagenknecht‘schen Sinn) durchklimatisiert, dass man sich solche psychoterroristischen Vernichtungspraktiken lockeren Gewissens leisten kann, weil man sich ja auf der sicheren Seite weiß. Man handelt im Einklang mit den Direktiven des woken Zeitgeistes, des mikroaggressionssensiblen Verfassungsschutzes, des Netzwerkdurchsetzungsgesetzes, des politmedialen Tugendtheaters.

Aber abgesehen davon, dass diese Entwicklung aus genuin liberaler Sicht extrem bedauerlich ist, kann so ein Unternehmen natürlich machen, was es will. Es ist sein gutes Recht, sich seine Partner auszusuchen, Kooperationen zu beenden, ein Firmenethos zu definieren und das unternehmerische Handeln danach auszurichten. Wenn ich aus der Sicht des Unternehmens also ein Nazi, ein Rassist, ein Antidemokrat, ein Pornograph, ein bedrohlicher Rechtsverletzer sein sollte, dann kann ich diese Leute nicht mit Verweis auf Meinungs- und Kunstfreiheit zu irgendetwas zwingen. Ich kann appellieren, das ist alles. Und dann muss ich mich mit den Bedauerlichkeiten der Welt abfinden.

Der Punkt, der wirklich ärgerliche, je nach Tagesform groteske oder gruselige Punkt ist der: Man sagt mir überhaupt nicht, dass oder gar warum ich ein Nazi, ein Rassist oder sonstwas für ein Schädling bin, man bietet mir sogar an, es nochmal zu versuchen: „Nehmen Sie die notwendigen Änderungen an Ihrem Buchprojekt vor und veröffentlichen Sie es dann neu.“ Dummerweise erfahre ich aus solchen Textbausteinen aber nicht, was ich ändern müsste, um nicht erneut depubliziert zu werden. Sagt man mir einfach nicht. Keine Auskunft. „Wir sind nicht verpflichtet, unsere Entscheidung weiter zu begründen.“ Weitere Nachfragen führen zu nichts. „Wir haben uns ausreichend zu dieser Angelegenheit geäußert.“
Überleg dir selbst, weshalb du angeklagt sein könntest …
Kafka, nur nicht ganz so unterhaltsam.

Wertes Publikum, geschätzte Leserschaft, liebe Freunde da draußen im Offenen – jetzt sind Sie dran: Bislang habe ich mich mit Spenden-, Förderungs- und Unterstützungs-Aufrufen immer ziemlich zurückgehalten, mein (kaum existentes) „Geschäftsmodell“ bestand einfach darin, einen Blog mit lesenswerten Texten zu präsentieren, um die Besucher dadurch zum Kauf meiner Bücher zu ermuntern. Denn meinem Selbstverständnis nach bin ich in erster Linie gar kein Blogger (ein Blogger ist meinem Gefühl nach ein dreiteiliges Mischwesen: unten Bagger, in der Mitte Nogger und obendrauf die Frisur von Sascha Lobo), sondern ein Autor von Büchern. Und diesem Buchautor sollen Sie jetzt bei der Verlagsvermittlung helfen, damit Sie so schnell wie möglich jenes Buch lesen können, welches Ihnen der Diskurshegemon vorenthalten will.

Ich gehe davon aus, dass unter den paar tausend Leuten, die hier regelmäßig vorbeischauen, einige sind, die entweder direkte Kontakte zu Verlagen, Agenten, Literaturbetriebsmenschen welcher Art auch immer besitzen oder vielleicht aufgrund irgendwelcher Kenntnisse, Ahnungen, Lektüreerfahrungen die eine oder andere Idee haben, wen Sie auf mein Buch hinweisen könnten, um – über wie viele Ecken herum auch immer – verlegerisches Interesse zu wecken. Dieses Potenzial zwischen „Schwarmintelligenz“ und der legendären Justus-Jonas’schen „Telefonlawine“ möchte ich nutzen.

Ich könnte den üblichen Weg wählen, Verlage anschreiben, Exposee schicken, Textprobe einreichen, warten, Däumchen drehen, etc. Die Zeit habe ich nicht. Deshalb möchte ich den umgekehrten Weg versuchen: mit Hilfe meiner Leser so viele Leute wie möglich (vor allem natürlich die passenden Leute) auf das Buch und seinen Autor aufmerksam machen und mal schauen, ob sich Interessenten bei mir melden und sich eine fruchtbare, stabile Zusammenarbeit ergibt. Übrigens ist mir relativ egal, ob ein Verlag rechts, links, mittig, bipolar hin und her oszillierend oder sonst was ist, Hauptsache, er ist oben. „Oben“ im Sinne von: über all solche Zuschreibungen erhaben, allein auf Qualität ausgerichtet, erhobenen Hauptes die Flattereien des Zeitgeistes ignorierend.

Also denn, liebe Leserinnen, liebe Leser, bitte legen Sie los und tun Sie sich keinen Zwang an.

Es grüßt Sie herzlich, Ihr
MJL


PS: Müsste ich jetzt noch schreiben „es winken attraktive Preise“, oder so was? Nein, es winken keine Preise. Es winken Werte. Es winkt die Freiheit des Geistes in diesem Land. Es winkt die Überwindung der verheerenden Cancel Culture. Es winkt die Durchbrechung der Schweigespirale. Es winkt die Wiederbelebung der Öffentlichkeit. Es winkt die Rückkehr zu einem repressionsfreien Klima, zu einem herrschaftsfreien Diskurs, zu … was sollen die vielen Worte … es winkt einfach die Normalität.

PPS: Von etwaigen Protestschreiben an das besagte Depublikationsunternehmen bitte ich abzusehen. Es hat keinen Sinn.


So. Und hier ist es – das Vorwort zum neuen Buch:


Vom Optimismus des Oberpessimisten

Holland. Noordwijk. Koningin-Wilhelmina-Boulevard. Ich blicke aufs Meer und lasse die Nachrichten der letzten Tage Revue passieren. Die Ereignisse überschlagen sich. Revolution der Realisten. Lauterbach entlassen. Von einem Schnellgericht zu zehn Jahren unbezahlter Arbeit als Laiendarsteller beim Wilhelm-Busch-Ensemble Bad Krautscheuch verurteilt, dort wird er reihum den Schneider Böck, den Lehrer Lämpel und den Raben Hans Huckebein spielen. Sein Vorgänger im Amt geht auf große Entschuldigungs-Tour durch deutsche Seniorenheime, Schulen und Gastro-Betriebe. Kniend, wie man hört. Die Nächte will er auf Friedhöfen verbringen, in stiller Zwiesprache mit den einsam und unbegleitet Gestorbenen. Die Regierung tritt geschlossen zurück, das Parlament wird neu gewählt, im Bund wie in den Ländern, und niemand darf mehr antreten, der in den letzten zweieinhalb Jahren Verantwortung getragen hat, niemand, der nicht laut und vernehmlich Nein gesagt hat. Sämtliche Haupttäter, Mittäter, Mitläufer müssen die nächsten zehn Jahre als Laiendarsteller beim … nein, Moment, so viele Theater-Ensembles gibt es doch gar nicht in Deutschland. Aber es werden sich gewiss andere Verwendungen finden … ehrenamtliche Pflegedienste, Graffiti-Beseitigung, Hausmeister-Assistenz in Brennpunktschulen. Gebraucht werden auch Resozialisierungshelfer für abgesetzte Verfassungsrichter, RKI-Präsidenten und Ethikratsvorsitzende. Oder Bullshit-Checker beim Öffentlich-Rechtlichen Rundfunk, wobei so was zukünftig vielleicht nicht mehr nötig sein wird, denn auch dort walten gerade – wie ich aus sicherer Quelle vernehme – Eisenbesen und Hochdruckreiniger ihres Amtes: In Zweierreihen, Hand in Hand, gesenkten Hauptes, verlassen die Mainzelmännchen, die Deutschlandfunker, die ARD-Aktivisten, die Desinformanten und Propagandisten aller Bundesländer ihre Sendeanstalten, um Platz zu machen für eine neue, unbelastete Generation von nüchternen, sachlichen, staatsfernen, kritischen, realistischen … okay, nein, stopp! – Das ist ziemlich sicher kein guter Anfang. Vielleicht ist es ein guter, oder zumindest ein launiger Anfang für ein Buch namens Neulich in der Corona-Klapsmühle. Aber dies hier heißt ja nun mal Damals im Coronismus.

Warum übrigens heißt es so? Weil der imaginierte historische Rückblick aus der Zukunft die nötige Außenperspektive bietet, den Erkenntnis- und Urteils-Abstand, den es braucht, um überhaupt sehen (und einigermaßen verstehen) zu können, was unsere durchgeknallte Gegenwart gerade an Durchgeknalltheiten so treibt. Es gibt auf dem gesamten Planeten kein neutrales Außen mehr, es gibt keinen Ort, der nicht durch permanente mediale Verstrahlung einer Neu-Normalisierung unterzogen worden wäre. Es gibt nur noch die Zukunft. Gut, vielleicht gibt es in einem entlegenen Hochtal Papua-Neuguineas noch ein Völkchen unentdeckter Naturmenschen, die beim Stichwort Corona nur die Brauen hochziehen und fragen „Was für n Ding? Nie gehört …“, aber ich kann mich einfach leichter in einen Psychohistoriker des Jahres 2070 hineindenken als in einen zeitgenössischen Urwaldjäger ohne Internet und Tagesschau.

Wenn ich kurz mal in einer Anwandlung von Unbescheidenheit all das ernstnehmen darf, was Leser meines Blogs mir über meine Texte schreiben, dann ist es vielleicht diese momentweise Fähigkeit zur Außenperspektive, die habituelle – und professionelle – „Weltfremdheit“ des kritischen Analytikers und Humoristen, was hier und da für Klarheit sorgt in meinen Essays. Eine Klarheit, die auch ich mir jeden Tag aufs Neue erringen muss. Oft genug vergeblich. Denn man ist Analytiker und Humorist in diesen Zeiten nur durch Kraftakte der Konzentration und Kreativität, und nichts in meinem bisherigen Leben habe ich je als so kraftraubend empfunden wie den geistigen Kampf gegen die Mächte des Coronismus.

Ich veröffentliche dieses Buch in der etwas gezwungenen, einer hellen Stunde abgerungenen Zuversicht, dass das ganze Corona-Elend irgendwann einmal vorbei sein wird. In dem halbherzigen Optimismus, dass die Menschen sich einmal die Augen reiben und mit völligem Unverständnis zurückblicken werden auf eine nie gekannte, nie zuvor für möglich gehaltene Ausnahmezeit. Jahre eines kollektiven Wahns, eines allgemeinen Verlusts von Maß und Vernunft, Jahre der Kopflosigkeit, der Irrationalität, des Rückfalls in kindlichste Reaktionsmuster. Vielleicht ist es auch kein Optimismus, sondern nur ein ebenso kindisches Wunschdenken meinerseits, was mich anfallsweise ein Vergangen- und Überwundensein dieses Menschheitsalbtraums imaginieren lässt.

Ich lege die Texte dieses Bandes vor, wie sie in meinem Blog erschienen sind, mitsamt den Einstweiligkeiten, die zum Entstehungszeitpunkt naturgemäß nicht immer als solche erkennbar waren. Ich dokumentiere damit auch mein eigenes Suchen und Irren in einer Zeit, die mir im Navigieren zwischen Tatsachenwelt und Pseudorealität einiges abverlangt hat. Ich weiß nicht, ob eine solche Dokumentation für irgendwen heute oder morgen von Wert ist, ob es nicht nur eine Erleichterung für mich selbst ist, wenn ich diese Sammlung in die Welt stelle, in den Buchhandel und in die Deutsche Nationalbibliothek, um sie aus meinem Kopf zu kriegen und mich wieder anderen Dingen zuwenden zu können.

Ich müsste mir vielleicht die Mühe machen, aus meinen gesammelten Betrachtungen, diesen nach Sound und Anspruch sehr unterschiedlichen Versuchen, Anläufen, Umkreisungen, etwas Rundes und Gültiges zu komponieren. Aber es gibt ja mittlerweile genug Bücher, in denen ein kritisch korrigiertes Gesamtbild der Corona-Anomalie dargeboten wird. Ich für meinen Teil habe solchen Expertenwerken nicht viel an Fachwissen, an Fakten und Beweisen hinzuzufügen. Ich bin kein Wissenschaftler, ich bin nicht für die Wahrheit zuständig. Ich bin für die Wirklichkeit zuständig, noch mehr vielleicht für die Unwirklichkeit, die suggerierte, fabulierte Wunschwirklichkeit. Und für die Wahrhaftigkeit, mit der Menschen sich im Ernstfall mühen, das eine vom andern zu unterscheiden. Und leider auch für die Wahnhaftigkeit, mit der sie sich dieser Aufgabe verweigern.

Ich bin es gewohnt, skeptisch auf meine Zeit zu blicken, kritisch zu sein, vielleicht manchmal unangemessen argwöhnisch. Aber selbst ich Oberpessimist war nicht darauf gefasst, eine Epoche mitzuerleben, in der ich an jedem einzelnen Tag einen Wirklichkeitsabgleich würde vornehmen müssen, mich immerzu würde fragen müssen, ob das, was man mir in der Zeitung und im Fernsehen, in Mainstream- und Alternativmedien, im Internet und im Supermarkt, auf der Straße und im Wald, in der Talkshow und im Bekanntenkreis zu sehen, zu hören, zu verstehen gibt, irgendwie noch in Einklang zu bringen sei mit dem, was ich in meinem Innern für logisch, stimmig, faktisch, für empirie- und evidenzbasiert, kurz: für realistisch halte.

Dieses Fragen musste sich bei jemandem, der schreibt, irgendwann schriftlich niederschlagen, und das tat es. Ich schrieb nach langem Zögern einen Text, der die Runde machte, der irgendeinen Nerv traf und mir neue Leserkreise erschloss. Dann kam noch ein Text dazu, der eigentlich der letzte zu dem Thema sein sollte, aber dann kam noch etwas, das zu sagen mir nötig schien, und schließlich war jeder Text, der mir entfloss, irgendwie ein Corona-Text. Mittlerweile habe ich das Gefühl, alles gesagt zu haben, was ich sagen kann zu dem Thema. Ich stelle fest, dass all meine Kommentare, die ich im Alltag so von mir gebe, nur Wiederholungen all dessen sind, was ich seit zwei Jahren sage. Alle Diskussionen, die ich privat führe oder medial mitbekomme, laufen immer wieder, nach wie vor, auf die neuralgischen Punkte zu, an denen die Glaubensdifferenzen unüberbrückbar scheinen:

Die einen glauben, Corona sei eine Seuche wie Cholera oder Ebola, die andern glauben, Corona sei ungefähr vergleichbar mit dem, was man so allgemein und undifferenziert „die Grippe“ nennt.

Die einen glauben, es seien in Deutschland über hunderttausend Menschen gestorben, die ohne Corona alle noch leben könnten, die andern glauben, dass es sich bei den Toten vor allem um Alte und Kranke handelt, die statistisch gesehen in etwa der gleichen Größenordnung auch ohne Corona, dafür halt infolge eines anderen Infekts gestorben wären.

Die einen glauben, Corona habe eine immense Übersterblichkeit verursacht, die andern glauben, dass die Todeszahlen für 2020 so ziemlich den statistisch erwartbaren Werten entsprechen und die Zunahme seit dem zweiten Halbjahr 21 auf die Impfung zurückzuführen sei.

Die einen glauben, in Bergamo hätten im März 2020 hunderte Militärlaster mit zig Särgen auf der Ladefläche Tag und Nacht die Krematorien angefahren, die andern glauben, es seien vierzehn Laster mit je zwei Särgen gewesen.

Die einen glauben, der Staat müsse das Leben der Menschen um jeden Preis schützen, die andern glauben, man müsse es der Eigenverantwortung der Bürger überlassen, wie sie sich vor den alljährlichen saisonalen Atemwegsinfekten schützen wollen.

Die einen glauben, das Gesundheitssystem habe mehrfach vor dem Kollaps gestanden, die andern glauben, es sei mit der Belastung einigermaßen klargekommen und punktuelle Engpässe seien, so wie seit Jahren, menschengemachten Systemschwächen geschuldet, die durch politische Inkompetenz noch befördert worden seien.

Die einen glauben, ohne AHA-Regeln, ohne Massentests, Schulschließungen und Lockdowns, ohne das rigide Handeln der Regierenden wäre alles noch viel schlimmer gekommen, die andern glauben, dass die ganzen Maßnahmen keinen großen Unterschied gemacht haben und verweisen auf Länder, in denen auch ohne Lockdown kaum andere Resultate zu verzeichnen sind.

Die einen glauben den Einschätzungen von Lauterbach und Buyx und Wieler und Lesch, die andern glauben den Einschätzungen von Schrappe und Guérot und Ioannidis und Esfeld.

Alle glauben, nur wenige wollen wissen. Wenn die einen ihre Zahlen vorlegen, glauben die andern, die Zahlen seien gefälscht oder einseitig oder aus dem Zusammenhang gerissen oder von den falschen Leuten veröffentlicht worden, von denen man ja schließlich wisse, was sie sonst noch so sagen und denken. Die Lage scheint aussichtslos. Und ich habe keinen neuen Gedanken, kein schlagendes Argument, keinen bislang übersehenen, blitzartig überzeugenden Gesichtspunkt mehr, mit dem ich in diesem Glaubenskrieg noch irgendwie heilsam intervenieren könnte.

Ich dokumentiere, was ich zu sagen hatte. Mehr nicht. Ich hoffe, es kommt noch einmal eine Zeit, in der ich diese Texte mit Befremden überfliegen werde: Wirklich? Das habe ich einmal geschrieben? Dazu fand ich mich genötigt? Diese Töne musste ich anschlagen, diese Register musste ich ziehen? Kaum noch nachvollziehbar, dass solche Zustände tatsächlich einmal geherrscht haben sollten … aber es gibt ja schließlich auch Bilder aus diesen Zeiten, Bilder von maskierten Menschen, es gibt Briefwechsel aus diesen Zeiten, Briefe von verfeindeten Freunden, es gibt Sammlungen von kaum mehr glaublichen Dokumenten, es gibt Gesetzestexte, Parlamentsprotokolle, Videos und O-Töne von Machthabern und Medienmenschen und Mitläufern aller Art, archivierte Aussagen, Bekenntnisse, Forderungen von Promis, Experten, „Kulturschaffenden“, Sportlern, Wirtschaftsgrößen, Philosophen, Komikern, Bischöfen, „moralischen Instanzen“, die zu wissen meinten, im Krieg gegen das Virus sei jedes Mittel recht und kein Preis zu hoch.

Es gibt die Gräber derer, die im Angesicht der Übermacht und der Aussichtslosigkeit zusammenbrachen, die es nicht ertrugen, so vom Leben abgeschnitten zu sein, so angefeindet und verleumdet zu werden, und deren Optimismus-Reserven nicht ausreichten, sich noch ein Leben nach dem Irrsinn vorzustellen.

Und es gibt – ein Glück! – Beweise genug auch von Humanität, von Freiheitsliebe, Biophilie, Gemeinsinn und Standhaftigkeit, es gibt Zeugnisse von echten, unbeugsamen Menschen, die sich nicht verrückt machen ließen, Menschen, die bei klarem Verstand blieben und dem Leben, der Lebendigkeit die Treue hielten, damals im Coronismus.

Noordwijk, Mai 22



Und, komm hier, was soll der Geiz – das Nachwort gibt’s gleich auch noch hinterher:


Die Schuld der Realisten

Wie wird es weitergehen? Kann gut sein, dass im Herbst ein neuer Akt des Corona-Dramas beginnt. Nein, kein neuer, nur ein weiterer. Denn wenn es weitergeht mit dem Mutieren der Viren und der allgemeinen Lust am Maskieren, Vakzinieren, Hysterisieren und Tyrannisieren, dann werden wir halt nur eine weitere Variation des schon hinlänglich Bekannten erleben, nichts grundlegend Neues. Und ich werde mehr als all das schon Gesagte nicht zu sagen haben. Ich bin kein Chronist. Mich interessiert nicht so sehr die Story, der Ablauf, der Hergang der psycho-sozialen Seuche, mich interessiert das Phänomen. Ich fühle mich nicht zuständig für die Krankengeschichte, sondern für das Krankheitsbild. Und das Bild ist inzwischen bestens sichtbar: Unsere Gesellschaft leidet an einer bösartigen Form von politisch-medialem Fiktivismus. Das Problem sitzt tief, und das Spektakel der letzten zwei Jahre ist nur die (bislang) wunderlichste Ausdrucksform einer strukturellen Deformation. Wäre die Nation eine Person, würden wir eine ausgeprägte Persönlichkeitsstörung diagnostizieren. Deshalb glaube ich auch immer weniger an so etwas wie Aufarbeitung. Wenn Corona mal vorbei sein sollte, bleibt ja trotzdem die Struktur, die Corona möglich gemacht hat. Und innerhalb dieser pathogenen Struktur, dieser perniziösen mentalen Matrix, sträubt sich alles gegen den schmerzhaften therapeutischen Weg zu gründlicher Gesundung.

Das Wort „Matrix“ hat durch den gleichnamigen Film einen starken Beigeschmack von Cybermystik und Mindfuck-Paranoia bekommen, die Matrix ist seitdem ein beliebtes Bild für eine Welt, in der die Menschheit in einem von unsichtbaren Mächten induzierten Tiefschlaf illusionär dahinvegetiert und nur einige wenige Erwählte die Kraft zum Aufwachen und Kämpfen finden, weil sie lieber in einer schmerzlich-gefährlichen, aber wenigstens echten Welt leben wollen als in einer komfortablen Scheinwelt.

Abseits aber von Science-Fiction-Märchen ist eine „Matrix“ einfach nur eine „gebärfähige“ Grundstruktur (lat. mater = Mutter), aus der etwas erwächst, eine Keimschicht, ein fertiles Gewebe, das entsprechend seiner Charakteristik und Artung „präformierte“ Produkte hervorbringt. Eine Mentalität ist also insofern eine Matrix, als sie bestimmte Arten von psychischen Akten, kognitiven und emotionalen Phänomenen „gebiert“. Und es ist sehr schwer, Menschen zu Gedanken und Einsichten zu veranlassen, für die ihre mentale Matrix eigentlich nicht produktiv ist. Hierfür bedarf es mittlerweile nicht mehr nur der klassischen sokratischen Mäeutik, also der kommunikativen „Hebammenkunst“, mit der man dem Gesprächspartner Einsichten entlockt, die er doch eigentlich längst in sich trägt. Es bedarf wohl eher einer Art „Transplantationskunst“ oder einer „gentherapeutischen“ Technik, um dem medial missgebildeten Menschen des 21. Jahrhunderts erst einmal zu einem gesunden „Gebärmutter“-Gewebe zu verhelfen. Auch ein Sokrates wäre heute als „Geburtshelfer“ überfordert, einfach weil in uns postmodern-konsumistisch zugerichteten Google-Krüppeln nun mal nicht viel Lebensfähiges oder gar Wohlgestaltetes heranwächst.

Es wird hinsichtlich der Covid-„Impfung“ hier und da auf den Contergan-Skandal verwiesen, man erinnert daran, wie damals alles ans Licht kam, wie die Welt – trotz bleibender Schäden – wieder „zurechtgerückt“ wurde, einfach dadurch, dass Wahrheiten ausgesprochen und Dinge klar benannt wurden. Denn das ist ja im Kern Gerechtigkeit: dass eine Realität wahrheitsgemäß in Worte gefasst und laut ausgesprochen wird. Ob einer ins Gefängnis muss und ein anderer Schmerzensgeld erhält, ist zweitrangig. Was alle Corona-Realisten sich am sehnlichsten wünschen, ist zuvörderst wohl, dass irgendwann einmal weithin hörbar, historisch-offiziell festgestellt und festgeschrieben wird, dass sie in der Wirklichkeit gelebt haben, während die andern, die Medien, die Machthaber und die Massen sich dem Wahn überließen. – Aber, wie gesagt, die Erfüllung eines solchen Wunsches scheint mir sehr unwahrscheinlich. Die Welt, in der Contergan zum Skandal werden konnte, war eine ganz andere als die, in der Corona zur Normalität werden konnte.

Was zum Skandal wird und was zur Normalität wird, entscheiden mehr denn je die Medien. Das Mediensystem, die große Klimaanlage der Öffentlichkeit, kann dafür sorgen, dass der Ausnahmezustand auf Dauer und damit auf Gewöhnung gestellt wird. Und aus einer mächtigen unbewussten Dynamik heraus (die ich in dem Faschismus-Fiktivismus-Text in diesem Band näherungsweise zu beschreiben versucht habe) wollen die Klimatechniker des Debattenraums, die Journalisten, es so.

„Das Medium als moralische Anstalt“ ist erledigt, ein erloschenes Funktionssystem gesellschaftlicher Selbstregulation aus intakteren Zeiten, da Skandalöses noch zum Skandal werden konnte. Heute haben wir es mit einer moralistischen Anstalt zu tun. Und Moralismus ist nicht nur eine unqualifizierte und übersteigerte Fehlanwendung von Moral, sondern zuweilen ihr glattes Gegenteil.

Die Medien, allen voran die öffentlich-rechtlichen, hätten es in der Hand, heilsam einzuwirken auf die produktiven Grundstrukturen unserer Mentalität, sie könnten mehr als jeder andere Akteur unserer Gesellschaft zum Aufbau einer lebensfreundlichen Matrix beitragen. Sie tun es nicht, weil sie es nicht können. Sie können es nicht, weil sie schwach sind. Es sind schwache, gestörte, labile, infantile Persönlichkeiten, die im Mediensystem ihre Religiosität ausleben, Charaktere, die die Realität nicht aushalten und daher permanent an einem Sinngeflecht aus stabilisierenden Fiktionen weben.

Wer den Coronismus bekämpfen will – oder seine zukünftigen Varianten, denn Anlässe für irgendeinen Ausnahmezustand wird es immer reichlich geben –, der muss den ersatzreligiösen Fiktivismus in seinen Machtzentren bekämpfen. Es bedarf keines Marsches durch sämtliche Institutionen. Nur eines Marsches durch die Sendeanstalten.

Ich glaube, keine Regierung, kein Parlament, kein Verfassungsgericht käme an gegen 21 öffentlich-rechtliche Fernsehsender und 73 öffentlich-rechtliche Radiosender, die der Bevölkerung rund um die Uhr nüchterne, sachliche Informationen und kritische, kontroverse Diskussionen darböten. Und dazu noch ein paar Kommentare und Satireshows, in denen fragwürdige Minister und extremistische Experten regelmäßig als Schwurbler und Aluhüte „eingeordnet“ werden. Ohne Frank Plasberg, Maybritt Illner, Oliver Welke und Mai Thi Nguyen-Kim, ohne die Tagesschau- und die Heute-Redaktion hätte diese Pandemie schlichtweg nicht stattgefunden.

Leider sind Realisten traditionell wenig motiviert zum Marschieren. Der Realist ist in der Regel Pessimist, er neigt zum Rückzug. Oder zum Gar-nicht-erst-Aufbrechen. Das ist sein historisches Grundproblem. Und seine Schuld.




© Marcus J. Ludwig 2022
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