Die Ismen der Epoche

Nahezu alles, was Menschen tun, ist erklärungsbedürftig. Kaum etwas, was Menschen unternehmen, denken, fühlen, erleben, würde man – vergleicht man es mit den Verhaltens- und Existenzweisen ihrer nächsten Verwandten: Gorillas, Orangs, Schimpansen, Bonobos – so erwarten. Nichts versteht sich hier von selbst, alles ist seltsam und unnatürlich und in unterschiedlichen Graden grotesk. Konnte der grinsende Affe im Zoo unseren humanistisch überheblichen Ahnen noch als Zerrbild des Menschlichen erscheinen, so wird uns heute zunehmend deutlich, dass wir wohl eher die verzerrten, verfremdeten, aus der Art geschlagenen Karikaturen unserer primatischen Vettern sind.

Nahezu alles, was Menschen tun, erscheint dem bio-logischen Betrachter als gigantische Energieverschwendung. Es muss irgendein unermesslich großes Bedürfnis existieren, das all den Aufwand verständlich machen kann, all die Aufregung, den Ehrgeiz, die Verbissenheit, das Engagement, die Obsessivität, die Homo Sapiens in Ziele und Tätigkeiten investiert, die nichts mit den elementaren Lebensbehaglichkeiten – Geschlechtslust, Essen, Trinken, Schlafen, Spielen – zu tun haben. Lauter Inszenierungen, lauter Auseinandersetzungen, Suchbewegungen, Explorationen, Kämpfe, Grübeleien, Ordnungs-, Regelungs-, Systematisierungs-, Welt- und Selbstvergewisserungstechniken, Anstrengungen, die nur ein Wesen unternimmt, das im Innersten fundamental beunruhigt ist. Ein Wesen, das Sicherheit sucht. Homo Sapiens, der „verständige“ Mensch, ist in Wahrheit vor allem der verunsicherte Mensch. Oder der verängstigte Affe. Eine Frage der Perspektive.

Die Situation des Menschen ist keine. Der Mensch ist gerade nicht „situiert“. Der Mensch, der freie, vielleicht zu freie, seinen Instinkten entfremdete, nackte Affe, der im Grunde nichts kann, außer ein bisschen erkennen, er sitzt nicht auf der Erde, er fällt durch die Welt. Sein tiefstes und dauerndstes Bestreben ist es, Halt zu finden in einer Umwelt. Halt und Stellung und Sitz: Situation. [1]
Diesen Ort der Ansässigkeit, diese irdische Umwelt, in der er endlich seinen Platz und seinen Frieden findet, muss er sich schaffen, physisch und mental. Deshalb schlägt der Mensch Zaunpfähle in den Boden und sagt: Hier sei meine Situation, meine Re-sidenz, hier will ich wieder ein Tier werden, ein in sich ruhender natürlicher Organismus, der nicht hadert mit dem, was nur Menschen – die Metaphysiker unter den Mammalia – kennen und bewohnen zu müssen meinen: die Welt.

Der Mensch schlägt Pfähle in den Boden, dann zäunt und grenzt er sein Grundstück ab gegen das All, um ein Haus, einen Sitz im Leben zu errichten. Für den Bau seines Hauses braucht er ein Gerüst. Und alle Ismen sind Streben dieses Gerüsts.
Ein Gerüst ist ein Provisorium, ein Behelf, solange das eigentliche Haus noch nicht steht. Ein Gerüst braucht, wer im Freiraum oberhalb des festen Bodens operiert. Ein Gerüst bietet Tritt und Halt, aber es reduziert auch die Richtungen und Möglichkeiten, sich durch den Luftraum zu bewegen. Aus Sicht der Kolibris, der Königsweihen und Fledertiere ist ein Gerüst nur eine Art Rollstuhl für Flugbehinderte.

Die Streben des derzeit meistverwendeten Gerüsts sind wie folgt bezeichnet: Moralismus – Konstruktivismus – Fiktivismus – Konsumismus – Hedonismus – Distraktionismus – Onlinenismus – Globalismus – Universalismus – Relativismus – Equalitismus – Digitalismus – Infantilismus – Wokeismus – Deviantismus – Szientismus – Medialismus – Individualismus – Sensibilismus – Klimatismus. [2]

Der Mensch – wie er noch immer, und derzeit wieder in besonderem Maße leider nun mal ist – braucht seine mentalen Gerüste. Ohne sie, ohne seine stabilisierenden Ismen, würde er jeden Tag aufs Neue ins Leere fallen.
Es gibt allerdings Menschen, die gerade das wollen, oder es doch mindestens in Kauf nehmen: zu fallen. Nicht um des Fallens willen – wir alle kennen die Schrecken der Schwerkraft, unsere Träume bewahren die Urängste zigtausender Generationen aus Zeiten des Baumnestschlafs –, sondern um des festen Bodens willen, auf dem sie einigermaßen unzerbrochen und lebensfähig zu landen hoffen.
Das sind Menschen, die aus dem großen modularen Systemgerüst nach dem Abbruch nur noch eine einzige Strebe behalten, vielleicht um sie als Wanderstock oder als Abwehrwaffe zu gebrauchen: diese Strebe heißt Realismus.[3]



[1] Auch wenn die „Situation“ über franz. situation, von lat. situs ins Deutsche kam und somit eher die „Stellung“ als die „Setzung“ bezeichnet, scheint mir die spielerische Synonymisierung mit Blick auf die tiefere gemeinsame Wurzel statthaft: Situation, Sitz, Siedlung, Setting, Position, Residenz etc. gehen auf idg. *sed- (sitzen, sich setzen) zurück.

[2] Moralismus – Inhaltlich gesehen eine stark schematisiert-unterkomplexe Schwundstufe der Moral, ihrem Anspruch und Anwendungsbereich nach aber allumfassend und menschheitszuständig. Mehr Ideologie als Ethik. Der monoperspektivisch eifernde Moralist kennt im Gegensatz zum Menschen des Ethos keine Gewissensnöte, kein Hadern, keine Ungewissheit. Dilemmata und Konflikte verlagert er nach außen, inneres Ringen erspart er sich durch den Kampf gegen die überall ausgemachten Feinde seiner Gewissheiten. Nichts stabilisiert den haltlosen Menschen der Gegenwart so zuverlässig wie eine reduktionistisch-rigide Gut-Böse-Codierung der Welt. 

Konstruktivismus – Vulgarisierte Trashversion eines ursprünglich hochinteressanten wahrnehmungs- und erkenntnispsychologischen Ansatzes, mittlerweile weitverbreitete abergläubische Überzeugung von der Gemachtheit und (vor allem) der Machbarkeit aller sozialen, psychischen, neuerdings auch biologischen Umstände. Es gibt nichts Wesenhaftes, nur Gestaltetes. Es gibt keine Realität, keine Determinanten und Gegebenheiten, keine archimedischen Punkte im Sein, alles könnte anders sein, Wirklichkeit ist Ansichtssache, Natur ist Verhandlungssache, wenn nötig eine Frage der Mehrheitsentscheidung. Anthropologische Konstanten sind inakzeptabel, biographische Konstanz unerwünscht, erfinde dich jeden Tag neu, du kannst alles sein, was du willst.

Fiktivismus – Sieg der stimmigen Story über die Unstimmigkeiten der Existenz.

Konsumismus – Wer konsumiert, wer kauft, verbraucht, verzehrt, genießt, umsetzt, verstoffwechselt usw., nutzt die (nach der Erotik) einfachste und genussreichste Möglichkeit, den eigenen Organismus als Reaktor, als psychosomatisches Kraftwerk zu erleben. Konsumistische Grundtätigkeiten wie Jagen, Sammeln, Ergattern, Haben, Anhäufen, Anordnen, Benutzen, Einverleiben, das Sich-Dekorieren und Sich-Stimulieren und -Stabilisieren, ja noch das Wiederweggeben, das Aussortieren und Wegschmeißen, erzeugen Lust- und Entlastungsgefühle, wohlige Energieflüsse, die die dauernd drohenden Entleertheitszustände, Sinnkrisen, und die wohl unterschätzteste aller Implosionskräfte: die Langeweile äußerst effektiv kompensieren können. Wer über hinreichende materielle Mittel verfügt, kann mitunter ein ganzes Leben in konsumistischer Zufriedenheit hinbringen, ohne sich allzu viele Fragen zu stellen, ohne ernsthaft depressiv oder gar suizidal zu werden.

Hedonismus – Hochwirksamer Stabilisator, solange die nötigen Ressourcen zur Verfügung stehen: Geld, robuste Gesundheit, Schamlosigkeit, Gewissenlosigkeit, Risikofreude, etc; die existenzielle Stützkraft leitet sich nicht aus einer Vertikalspannung (Sloterdijk), sondern aus horizontalen Vektoren her, es ist die Stabilität des Rades, das aufrecht rollt, solange eine Mindestgeschwindigkeit nicht unterschritten wird. 

Distraktionismus – Wer sich gekonnt ablenkt, ablenken lässt, braucht gar keine Leere zu füllen, weil er sie erst gar nicht bemerkt. Problem: die Reize müssen immer stärker, immer dichter, immer sensationeller werden, jedes Gewitter muss zum Unwetter werden, jedes Problem zur Krise oder zur Katastrophe, jeder Konflikt verlangt nach einem Brennpunkt und einer Sondersendung. Ein Tag ohne Mondlandung und WM-Finale ist ein verlorener Tag. Menschen, die ihr Existenzgerüst vorwiegend mit distraktionistischen Streben errichtet haben, sind nach fünf Minuten ohne Handy, Fernseher und Radio, ohne Achterbahn und Rätselheft reif für die Klinik.

Onlineismus – Der in der Alltagspraxis mittlerweile präsenteste Stabilisator des zeitgenössischen Homo Vacuus. Die „Line“, die den Einzelnen mit der „Community“ der digitalen Parallelwelt verbindet, ist eine emotionale Nabelschnur. Psychische Unsicherheits- und soziale „Unterzuckerungs“-Zustände erfordern die stabile Verbindung zu den virtuellen Almae Matres und ihren Plazenten, den permanenten Zugang zu den Nährmitteln der Welt. Der beunruhigte, entleerte Mensch, der früher an der Zigarette saugte, nuckelt heute am Netz, bis die Infos, die Narrative, die Einordnungen der Welterklärer, die geistig-moralisch-emotionale Synchronisation mit der eigenen Bubble oder zumindest die süßen Katzenvideos ihn einigermaßen beruhigt haben.

Globalismus – Die Bezugsgröße deiner Aufmerksamkeit, deiner Empathie, deiner Ethik, deiner Identitätsentwicklung sei die gesamte planetare Menschheit, es gibt keine akzeptable Gruppierung unterhalb der One-World-Ebene, die bloße Beschränkung auf eine erlebbare Umwelt, ein Leben im Rahmen des Dorfes, der Region, der Nation ist ein Leben in Sünde, oder bestenfalls ein verschwendetes Leben, ein anachronistisches Vegetieren auf Pflanzenniveau.

Universalismus – Alles gilt immer und überall für jeden.

Relativismus – Nichts gilt, wenn es einem gerade nicht in den Kram passt.

Equalitismus – Alle Menschen sind gleich – an was auch immer …

Digitalismus – Glaube, dass die Digitalisierung von Hilfsmitteln und Prozessen ein Fortschritt sei, Sieg der technischen Oberfläche über die praktische Funktionalität. Beispiel: Orientierungsqualität anhand von Karte versus Display, massive Kommunikationsbeeinträchtigung beim Telefonieren (häufiges Scheitern des Sprecherwechsels durch technisch bedingte Delays), lernpsychologische Verschlechterungen beim Textverständnis etc. – trotzdem glaubt der „moderne“ Massenmensch unverdrossen: „digital ist besser“. 

Infantilismus – „Zv der selbigen stunde tratten die Jünger zu Jhesu vnd sprachen Wer ist doch der Grössest im Himelreich? Jhesus rieff ein Kind zu sich vnd stellet das mitten vnter sie vnd sprach Warlich ich sage euch Es sey denn das jr euch vmbkeret vnd werdet wie die Kinder so werdet jr nicht ins Himelreich komen. Wer nu sich selbs nidriget wie das Kind der ist der grössest im Himelreich.“ Matthäus 18,1-4. Vielleicht das – psychoanalytisch gesehen – verhängnisvollste Jesus-Wort.

Wokeismus (Syndrom aus Antirassismus, Antifaschismus, Antieuropäismus, „Antirechtsismus“, Antisexismus, Antibiologismus etcetc.) – Religionsförmige Ausrichtung der moralischen Energien auf eindeutige, meist künstlich und reduktionistisch vereindeutigte Feindbilder, Konsolidierung des Selbst durch Erweckungsbewusstsein, Herausgehobensein aus der dumpfen, schlafenden Masse (woke, von to wake – erwachen). Regelmäßig gepaart mit illusionärem Heroismus, also der Überzeugung, man befinde sich in einem großen, gefahrvollen Heldenkampf, einem Befreiungs- und Anerkennungs- und Widerstandskrieg gegen finstere Mächte, während man doch längst zur siegreichen, herrschenden und bestens abgesicherten Mehrheitsgesellschaft zählt.

Deviantismus oder Antinormalismus – Verherrlichung des Abweichenden, Feier des Grotesk-Fratzenhaften, Selbstaufwertung und -stabilisierung durch Exposition, manchmal auch künstliche Exaggeration gegebener oder erworbener Deformationen, Lust am Selbst durch provokante Anormalität.

Szientismus – Glaube an wissenschaftliche Lösungs- und Steuerungsmöglichkeiten für politische oder ethische Probleme. Verwechselung von Erkenntnis und Entscheidung. Suche nach Sachzwängen zur Beruhigung der Furcht vor der Freiheit. Wissenschaftlich abgesicherte Alternativlosigkeit erspart ambivalente und anstrengende Abwägungsentscheidungen. Überzeugung von weitgehender Modellier- und Kalkulierbarkeit komplexer künftiger Entwicklungen.

Medialismus – Tendenz, medial erzeugten Wirklichkeiten höhere Relevanz zuzumessen als unmittelbar erfahrenen Geschehnissen, eigenen Erlebnissen, eigenhändig produzierten Ansichten, Wertvorstellungen, Bedürfnissen, Zielen. 

Individualismus – Glaube an die Möglichkeit zur Vereinzigartigung des Selbst durch Lifestylepraktiken, zur Persönlichkeitsausdifferenzierung durch Konsumgüter wie Kleidung, Tattoos, Sprechweisen und mimische Moden, Autoausstattungen, Statusbilder, Handyhüllen, Konfigurations- und Personalisierungsoptionen bei Möbeln, Burgern, Nummernschildern, Kameraperspektiven, Müslimischungen etc. innerhalb hochgradig formatierter und konsensuierter Megagesellschaften. Der real existierende uniforme Massenindividualismus verdeutlicht eindrucksvoll die Autosuggestionskräfte des Menschen.

Sensibilismus – Vorstellung, dass feinere Antennen und forcierte Achtsamkeit in allen Lebensbereichen zu besseren Entscheidungen, harmonischerem Miteinander, intensiverem moralischem Behagen führen. Der Mensch soll permanent empfänglich sein für alle Elends-Eventualitäten des Globus. Wegschauen ist ein Verbrechen. Du hast acht Milliarden Nächste, die deiner Aufmerksamkeit bedürfen. Du sollst nicht ruhen, nicht schlafen, nicht entspannen, solange irgendwo ein Menschenleben von Krankheit, Tod, Klima, Langeweile, Fragen nach der Herkunft oder Komplimenten bedroht ist. Oder sein könnte. Du sollst fühlen!

Klimatismus – neue Weltkirche, in der exakte Wissenschaft und eifernder Weltenbrand-Glaube genau jene Balance bieten, derer der moderne moralistische Atheist bedarf. Das Klima ist so unbestimmt wie ein Gott und so unkalkulierbar wie das eigene Himmels- oder Höllen-Schicksal am Tag des jüngsten Gerichts, so zukünftig und zeichenhaft, so komplex und exegetisch ergiebig, so apokalyptisch und prophetiebedürftig, wie man sich eine Religion gar nicht optimaler ausdenken könnte.

[3] Bekanntlich ist so ein Stahlrohr innen hohl, und auf der Innenseite steht – etwas schwer leserlich – eingestanzt: Romantik.




 

Wenn Ihnen dieser Text gefällt oder sonstwie lesenswert und diskussionswürdig erscheint, können Sie ihn gern online teilen und verbreiten. Wenn Sie möchten, dass dieser Blog als kostenloses und werbefreies Angebot weiter existiert, dann empfehlen Sie die Seite weiter. Und gönnen Sie sich hin und wieder ein Buch aus dem Hause Flügel und Pranke.

 

© Marcus J. Ludwig 2022
Alle Rechte vorbehalten