Toxische Fragen nördlich von Zürich

Der Literaturclub des Schweizer Fernsehens ist eigentlich immer das Einschalten wert, er ist knapp nach dem SWR-Lesenswert-Quartett und weit vor dem Literarischen Quartett des ZDFs die beste Buchkritik-Sendung im deutschsprachigen Fernsehen.* Seit einiger Zeit zieht aber auch dort mit großen Schritten die identitätspolitische Achtsamkeit ein, und es wird für Zuschauer wie mich immer schwieriger, sich aufs Eigentliche, das Buch und seine Beurteilung, zu konzentrieren, wenn man sich parallel die ganze Zeit über moralistischen Mumpitz echauffieren muss.

In der letzten Sendung saß als Gastkritikerin das frech frisierte Frollein Anna Rosenwasser, was man als Vorkommnis einfach hätte verzeihlich finden und den segensreichen Kräften des Vergessens hätte überantworten können, wenn nicht die sonst immer sehr sympathische Gastgeberin Nicola Steiner sich derart in Selbstverdächtigungen und vorauseilenden Reumütigkeiten ergangen hätte, dass es einen stellenweise recht von Herzen gruseln musste.

Anna Rosenwasser ist laut Einblendung „Kolumnistin und LGBTQ-Aktivistin“, was ja heute irgendwie alle sind, die einem in Funk und Fernsehen begegnen, und sie war mir kurz zuvor auch schon schriftlich begegnet, nämlich mit einem Werbetext in der NZZ zum Thema Gendern**, der mir beim Verfassen meines eigenen Textes zum Thema Gender-Unfug gerade gut ins Stimulationsschema passte. 

Jedenfalls wirkt die Dame im Präsenzmodus recht manierlich, kein bisschen angsteinflößend, man muss – soweit meine bescheidene Menschenkenntnis ein solches Fern-Gutachten zulässt – nicht unbedingt erwarten, mit Flüchen und Flammenwerfern traktiert zu werden, sollte man gerade mal nicht das aktuell angesagte Vokabular zur Beschreibung irgendeiner sexuellen Minderheit zur Hand haben. Eben diese Angst aber schien die Seele der Moderatorin Steiner großflächig beschlichen zu haben, denn sie wurde nicht müde, mit gesenkt-geneigtem Kopf und dem, was der Humanethologe ein „silent bared teeth display“ nennt, um Nachsicht zu bitten dafür, dass sie wahrscheinlich alles falsch sage, Identitäten nicht korrekt benenne in ihrer Unachtsamkeit, und dieses und jenes Wort wahrscheinlich irgendjemanden verletzen könne.*** – Nun, Hand aufs Herz: Wem ginge es da groß anders, wer läge nicht nächtelang wach vor lauter Sorge, irgendeinem fluiden menschlichen Konstrukt im Vorbeigehen vielleicht einen Schaden fürs Leben verabreicht zu haben, durch toxisch-maskulines Wording, durch mikroaggressive grammatische Ausgrenzung, durch diese dauernden binär-heteronormativen Ungemeintheiten?

Die Aktivistin Rosenwasser reagierte mit Kulanz und Nachsicht, es rollten keine Köpfe, es wurden keine Augen verdreht, der Frau Steiner wurde weder das Gesicht zerkratzt noch das Gedärm herausgerissen oder sonstwie die Daseinsberechtigung entzogen. Alles blieb geschmeidig, mild und mitteleuropäisch. Jedenfalls im Zürcher Papiersaal. Ein paar Kilometer weiter nördlich ging es dagegen hoch her, denn vor dem Fernseher entbrannte ein enthusiastischer Ehekrach, nicht so sehr über die Frage, ob man sich als Moderatorin so kleinlaut und bußfertig inszenieren müsse, sondern darüber, ob der Mann mit der Hand an der Maus wirklich alle dreißig Sekunden das Video unterbrechen müsse, um seine spontanen Kommentare zum Geschehen live und barsch zum Vortrag zu bringen.

Die Frage wurde von der Gattin dahingehend entschieden, dass der Mann seine Barschheiten in sich aufbewahren möge, um sie am folgenden Morgen in gediegener Schriftlichkeit zu fixieren – und da sitzt er nun, den Kaffee zur Rechten, die Katze zur Linken, und schreibt sich den Neocortex wund über all die Fragen, die Frau Steiner und Frau Rosenwasser sich wohl eher selten stellen:

Muss man die Selbstbeschreibungen von normabweichenden Existenzen übernehmen und so über sie reden, wie sie sich das wünschen? Muss man grundsätzlich vorsichtig und verletzungsfrei formulieren, um Minderheiten sprachlich zu schonen? Wie ernst muss man ihre Empfindlichkeiten nehmen? Brechen die bei jedem provokanten Spott sofort zusammen, weil sie ja die offenen Brüche und Wunden ihrer jahrhundertelangen Diskriminierungshistorie mit sich herumschleppen? Und schleppen die, die da schleppen, ihre Historie aus eigenem biographischem Antrieb, aus Identitätserkenntnisdrang? Oder weil die Mehrheitsgesellschaft sie ihnen aufbürdet? Oder eher weil penetrante Aktivisten sie ihnen aufschwatzt?
Ist die Frage, was jemand sein möchte, wichtiger als die, was jemand ist? Ist sein Wunsch zu respektieren auch gegen alle Realität? Hat sein Wunsch, sein Selbstempfinden, sein Idealbild höheren Realitätsgehalt als ein Befund nach objektiven, wissenschaftlichen, nachprüfbaren Kriterien?
Setzt also die Realitätswahrnehmung des abweichenden Einzelnen oder der abweichenden Gruppe den Maßstab, nach dem die Allgemeinheit sich zu richten hat? Und ist jemand, der von irgendwas betroffen ist, damit auch automatisch Repräsentant, vielleicht gar Experte für das Besondere, das die Gruppe auszeichnet? Ist er/sie/es durch bloße Mitgliedschaft hinreichend qualifiziert, um etwa beurteilen zu können, welches Wort das angemessene ist, um eine bestimmte Gruppe von Menschen zu beschreiben?
Ist ein Name, den sich eine Gruppe zur Selbstbeschreibung wählt, automatisch auch die richtige Bezeichnung für diese Gruppe? Wenn People of Color sich People of Color nennen, muss ich sie dann auch People of Color nennen, obwohl ich die schlüssig begründbare Ansicht vertrete, dass der Aspekt „Color“ nicht sehr gut geeignet ist, um etwas Sachdienliches über ihre Gruppenidentität auszusagen? Und wenn ich weiß, dass sich diese Gruppe – sofern sich hier von „Gruppe“ oder gar „Community“ reden lässt – vor ein paar Jahren noch anders nannte und sich in ein paar Jahren wieder anders nennen wird, muss ich dann alle paar Jahre ihre neue Selbstbeschreibung übernehmen und mich ihren Moden unterwerfen?
Sind es überhaupt ganze Gruppen, die solche Identitäts- und Sensibilitäts- und Anerkennungsspielchen spielen, oder sind es nicht vielleicht nur die vorlauten Wortführer und Lobbyisten dieser Gruppen, die sich anmaßen, im Namen all ihrer vermeintlich schutzbedürftigen Brüder und Schwestern zu sprechen? Müssten die dann nicht mal Tacheles über die relevanten Probleme ihrer Mandanten sprechen? Ängstigen sich heranwachsende Homosexuelle zuvörderst davor, auf dem Schützenfest im Sauerland von den dort vorherrschenden Katholiken zusammengeschlagen zu werden oder eher davor, auf Schulhöfen und Straßen deutscher Multikultistädte von den dort herrschenden Mehrheiten muslimischer Provenienz, die sich hin und wieder berechtigt dünken, ihre homophoben Gelüste lustvoll auszuleben, zusammengeschlagen zu werden?
Sorgen sie sich vielleicht, aufgrund der einfach nicht auszurottenden Schwulenfeindlichkeit in den deutschen Medien den Moderatoren- oder Meteorologen-Job beim Morgenmagazin nicht zu bekommen, oder fragen sich eher, ob sie, wenn sie aus ihrem Dorf in die Welt ziehen, um irgendwas zu werden, erstmal halbnackt auf irgendwelchen CSD-Paradewagen durch Berlin fahren und sich wie dionysische Pornoclowns gerieren müssen, obgleich sie auch als introvertierte Menschen mit einer relativ unbedenklichen Devianz eigentlich doch das Recht auf ein normales Langeweilerleben mit schamhaft verborgener Sexualität zu haben glaubten?
Und kann es vielleicht sein, dass im Großen und Ganzen den allermeisten Angehörigen sogenannter Randgruppen die kleinkarierten, künstlich aufgeblasenen Lobbyistenthemen geradewegs am Arsch vorbeigehen?

Vor allem aber: Muss ich diese Fragen jetzt, da ich sie aufgeworfen habe, auch alle noch selbst beantworten? Oder könnte nicht vielleicht lieber Frau Steiner diese Fragen der Frau Rosenwasser stellen? Am besten in einer Sondersendung des Literaturclubs mit dem Titel: „Können in Literatursendungen zukünftig nicht einfach Literaturprofis über Bücher sprechen anstatt trendig-moralistische Influencerinnen ihre Selbstüberschätzung zur Schau stellen zu lassen?“

Und – letzte Frage – wird man es mir als billigen Beschwichtigungs- und Einschleimungsversuch auslegen, wenn ich als bislang vom Schweizer Fernsehen weitgehend unrezensierter Romanautor abschließend beteuere, dass ich Frau Steiner trotz allem immer noch für ausreichend qualifiziert und zudem sehr überdurchschnittlich hinreißend und somit für weiterhin bedenkenlos einschaltbar halte?

 


* Beim Lesenswert-Quartett sitzen mit Ijoma Mangold, Insa Wilke und Dennis Scheck echte Kritiker, die was verstehen von der Sache, plus ein Gast, der meistens auch was davon versteht. Im Literaturclub sitzen neben wechselnden Profikritikern leider auch schon mal Gäste, die nicht viel mehr zu sagen haben als „find ich gut“ oder „find ich nicht so gut“, und im ZDF-Quartett sitzen anstelle professioneller Kritiker fast immer Schriftsteller, die über die Bücher ihrer nicht anwesenden Schriftstellerkollegen richten, was ich für grob unsportlich halte. Ach ja, und dann gibt es noch die 3-Sat-Buchzeit, über die allerdings jedes weitere Wort eines zu viel wäre.

** Achtung – nichts für Logik-Liebhaber: https://www.nzz.ch/meinung/oh-boy-dieses-gendern-ld.1630730

*** https://www.youtube.com/watch?v=tCb_-TRDnk0 (vor allem ab 19:38, ferner ab 41:18)


 

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