Der grammatische Zeigefinger (1)

Ich gehöre nicht zu denen, die angesichts von Stoppersternchen, Doppelformen und Binnenmajuskeln von „Gender-Gaga“ sprechen. Das klingt mir irgendwie zu augenrollend, so als hätten wir es mit kapriziösen Überspanntheiten zu tun, mit den Allüren einer Diva, einem grotesken Hutschmuck etwa, mit dem man durch keine Autotür passt. Nein, „Gaga“ trifft es nicht. Der adäquate Terminus ist „Gender-Scheiße“. Damit ist im Grunde alles gesagt.
Da aber Fäkalsprache in manchen Kontexten als unterschwellig aggressiv empfunden wird und zu raschen Gesprächsabbrüchen führen kann, rate ich eher dazu, sich des ebenso treffenden, dafür aber wesentlich konzilianteren Ausdrucks „Gender-Unfug“ zu bedienen. „Unfug“ bezeichnet eine Sache, die „ungefüge“ ist, ein schiefes, wackeliges Unding, an dem nichts zusammenpasst … eine geistige Fehlkonstruktion.

Konstruktion – gutes Stichwort, denn das ist wohl der Kern der Misere: Der Gender-Unfug beruht, wie manch anderer Unfug der Gegenwart, auf der Weltanschauung des Konstruktivismus. Also der gerade wieder sehr modischen Vorstellung (man könnte sie auch „Vulgär-Indeterminismus“ nennen), dass es nichts Menschliches „von Natur aus“ gibt, dass vielmehr jedes neue Menschenkind ein unbeschriebenes Blatt ist, oder besser: ein ungeformter Klumpen sozialer Materie, der nach Belieben geformt, designt, gestaltet werden kann. Beklagenswert dünkt es die Konstruktivisten nur, dass die Menschen meist nicht nach ihrem, also der Konstruktivisten Belieben geformt werden, sondern nach den bestehenden Machtverhältnissen, die immer noch dafür sorgen, dass Neugeborene mit Penis einen blauen statt einen rosa Strampelanzug angezogen bekommen, dass sie, kaum aus dem Uterus geflutscht, schon Autos als Spielzeuge erhalten, wodurch sie zu Technikern prädestiniert werden, die dann später all die Autokonzerne beherrschen, wo die Frauen dann keinen Platz am Vorstandstisch bekommen, weil das Patriarchat ihnen nur blöde blonde Barbies zum Spielen gab und sie nur Psychologie und Hauswirtschaftslehre studieren ließ.

Der derzeitige Sozialkonstruktivismus ist die zur Arroganz, ja, zur Militanz gesteigerte Weiterentwicklung der behavioristischen Milieutheorie: Es gibt nichts Angeborenes, keine Stammesgeschichte, der Mensch ist kein Teil der Natur, er ist nicht abhängig von seinem Körper, weder von seinen Geschlechtsorganen, noch von seinen Hormonen, noch von seinen Genen. „Gebt mir ein Dutzend wohlgeformter, gesunder Kinder und meine eigene, von mir entworfene Welt, in der ich sie großziehen kann und ich garantiere euch, dass ich jeden […] so trainieren kann, dass aus ihm jede beliebige Art von Spezialist wird – ein Arzt, ein Rechtsanwalt, ein Kaufmann und, ja, sogar ein Bettler und Dieb, ganz unabhängig von seinen Talenten, Neigungen, Tendenzen, Fähigkeiten, Begabungen und der Rasse seiner Vorfahren“. So John Broadus Watson im Jahre 1913.

Von da führt eine gerade Linie zu den geschlechtergerechten Gehirnwäschern, die im Radio von „Schüler Innen“ und „Wissenschaftler Innen“ reden. Wenn – so meinen sie – die Welt ohnehin immer schon Konstruktion ist, wenn die Menschen samt ihrer Wirklichkeit eh „gemacht“ werden, dann sollten wir sie nicht länger von den Falschen, von den Bösen, also von den Männern, den weißen, christlichen, europäischen Vergewaltigern, Sklavenhaltern und Kriegstreibern machen lassen, dann machen wir sie jetzt besser selber.

Jetzt – der Zeitpunkt ist tatsächlich so günstig wie nie: Die Nachfahren der Achtundsechziger haben den Marsch durch die Institutionen weitgehend absolviert, an allen Hebeln sitzen grün grundierte Lifestyle-Linke, bestens Etablierte, die innerlich imprägniert sind mit jenen Philosophemen, die ihre Eltern in den Wohnküchen der 70er Jahre zwischen Joint und Flockenquetsche durchdiskutierten. Die Kinder und Schüler der quetschenden Küchenphilosophen sind heute Bürgermeister und Chefredakteusen, und sie exekutieren jetzt ganz freiwillig all das, was die Kiffer sich damals erträumten: sie befreien die Menschen aus all den tradierten Zwangsstrukturen und Machtverhältnissen, indem sie mit aller Macht das große Befreiungsglück herbei…, nun ja, herbeizwingen. Ganz ohne Zwang geht es halt nicht, aber diesmal ist es ja für die fraglos gute Sache.

Dummerweise nur gibt es – wie immer bei solchen Beglückungsprojekten – diese ganzen rückständigen Klotzköpfe, die es einfach nicht kapieren wollen. Der Kern des Gender-Problems ist dieser weltanschauliche Konflikt zwischen guten Sozialkonstruktivisten und bösen Biorealisten. Letztere hängen der „naiv positivistischen“ – und damit letztlich rechtspopulistischen – Auffassung an, dass es bestimmte Dinge faktisch gibt, dass es anthropologische Konstanten gibt, welche die soziale Lebenswelt der Menschen zu einem nennenswerten Teil strukturieren und Möglichkeiten und Grenzen von Seinsweisen vorgeben. Die Sozialkonstruktivisten, von denen die Genderfeministen die wohl radikalste Gruppierung darstellen, glauben, die Realität werde durch Deutungen und diskursive Praktiken hergestellt. Woraus folgt, dass man die Welt verändern kann, einfach indem man anders über sie redet, bis man auch anders über sie denkt und sie schließlich auch wirklich anders sieht. Ich glaube, ich muss nicht begründen, warum solch eine „Theorie“ weder etwas mit Wissenschaft noch mit gesundem Menschenverstand, dafür aber viel mit intellektuellen Lebenslügen zu tun hat.*

Die Idee des Konstruktivismus ist im Allgemeinen völlig diskutabel, es gibt da höchst interessante Ansätze, die man zum Beispiel in den Schriften Paul Watzlawicks präsentiert bekommt. Wie wirklich ist die Wirklichkeit? Zweifellos eine der faszinierendsten Fragen überhaupt, die man sicherlich nicht durch einen barschen Stammtisch-Realismus erledigen kann. „Da steht der Tisch, da drauf steht mein Bier, das kipp ich mir in meinen realen Rachen, und danach kommt es aus meinem faktischen und männlichen Geschlechtsteil wieder heraus. So wirklich ist die Wirklichkeit. Basta.“
Amüsant, aber erkenntnisphilosophisch doch etwas dürftig.

Der genderfeministische Sozialkonstruktivismus ist allerdings auch nicht viel subtiler. Das biologische Geschlecht (Sex) spielt in dieser Ideologie keine Rolle, es gibt keine Zweigeschlechtlichkeit; was es gibt, ist das Geschlecht als Gender, als soziale Konstruktion, als Zuschreibung, man möchte fast sagen: als schlechte Gewohnheit, die sich aber durch Sprachakte und soziale Praktiken überwinden lässt. Wenn ein Mensch mit Penis, Hoden, Bart und Y-Gonosom sagt, er sei jetzt eine Frau, dann wird er dadurch zur Frau, dass die Gesellschaft seine Selbstzuschreibung affirmiert, etwa indem sie ihm/ihr in Talkshows oder auf Twitter frenetisch applaudiert.

Das Ganze wäre harmlos, als Phänomen sogar leidlich interessant, solange es sich nur um ein Hobby von kauzigen Kurzhaar-Frauen in schwarzen Herrenanzügen handelte, und von Prominenten, die gewohnheitsmäßig auf jeden Tugendtrend aufspringen. Es wird gefährlich, wenn der Staat diese Art von Fantasy-Feminismus zur Richtschnur seines Handelns macht. Und das macht er. Die politische Umsetzung der Genderideologie findet sich im mittlerweile zur Staatsdoktrin erhobenen Gender-Mainstreaming. Der Staat verpflichtet sich zur Gleichstellung von Mann und Frau (und natürlich aller irgendwie „dritten“ Geschlechter). Wohlgemerkt: Gleichstellung, nicht Gleichberechtigung. Also Ergebnisgleichheit statt Chancengleichheit. Quotenregelungen für Parlamente und Vorstände, Parteien, Behörden und Aufsichtsräte sind in Arbeit oder schon existent.

Vor allem aber wird versucht, die Sprache und damit das Denken zu manipulieren, eine nicht erst seit Orwell bekannte und beliebte Herrschaftstechnik. Die Gendersprache zielt auf die dauerhafte Präsenz des Themas in der Öffentlichkeit. Es handelt sich um plumpstes Nudging zur Bewusstmachung eines Problems, das für fast niemanden außer ein paar lesbischen Professorinnen ein Problem ist. Eine ganze Hälfte der Menschheit – so ihre Sorge – bleibt unsichtbar, solange wir „Politiker“, „Lehrer“, „Arzt“, „Student“ sagen. Mädchen trauen sich nicht, Berufe zu ergreifen, in denen man sich grammatisch bedingt immer nur Männer vorstellen kann. – Jeder Blick in ein Lehrerzimmer einer beliebigen Grundschule wird diese Sorge zweifellos bestätigen. Dort sitzen, wie jeder weiß, seit jeher nur schnapstrinkende, muskelbepackte Kerle, spielen Skat und polieren ihre 44er Magnums, während die unterdrückten Frauen, die so gerne Lehrerinnen geworden wären, draußen vorm Fenster stehen und sich nicht hereintrauen. Denn da ja allenthalben nur vom „Lehrerberuf“ die Rede ist, dachten sie immer, so was dürften nur Männer machen. Dass eine Frau Grundschullehrerin werden könnte, war ihnen schlicht unvorstellbar. Die Sprache des Patriarchats hat ihnen den Zugang zu ihrem Traumberuf verbaut.

* * *

Von mir aus sollen Fußballmillionäre, Grüne Jugend und Literatursoziologinnen ihre Geschlechtergerechtigkeit zelebrieren, bis ihnen Sternchen zwischen den Beinen wachsen. Ich wäre nie auf die Idee gekommen, meine Zeit mit Genderkritik zu verschwenden, wenn man es denn unterlassen hätte, mich aggressiv mit diesem Unfug zu belästigen; wenn man einfach davon abgesehen hätte, mich immerzu mit unlesbaren Anschreiben und peinigendem öffentlich-rechtlichen Umerziehungsgestotter zu behelligen.
Ich kann abweichende Existenzformen und akademische Sonderlingsperspektiven durchaus ertragen. Wenn Queerness und Transidentität gerade in Mode sind, meinetwegen, mir ist nichts Menschliches fremd. Regenbögen für alle, die’s bunt brauchen.
Aber bei der Sprache hört der Spaß für mich auf.

Dazu mehr im zweiten Teil.

* Wer an aufwändigen und expliziten Begründungen interessiert ist, findet sie zum Beispiel in dem Sammelband „Gender Studies: Wissenschaft oder Ideologie?“ Herausgegeben von Harald Schulze-Eisentraut und Alexander Ulfig, Deutscher Wissenschaftsverlag, Baden-Baden 2019, namentlich in dem Beitrag von Heike Diefenbach (ab S. 84).

 

 

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