Entertainment am Rande des Overton-Fensters

Deutschland lechzt nach meiner Wahlempfehlung. Das Volk stolpert unentschlossen und desorientiert durch Wälder von Wahlplakaten, es zockt sich am Wahlomat die Finger blutig, doch der spuckt immer nur uninterpretierbare Vieldeutigkeiten aus: Humanisten, V-Partei, NPD, Linke, Tierschutzpartei, Team Todenhöfer, Graue Murmeltiere liegen alle bei etwa 50 Prozent Übereinstimmung, knapp dahinter oder davor Grüne, AfD, Die PARTEI, ÖDP, und egal, wie man Antworten gewichtet und welche Beschwörungsformeln man flüstert, es kommt immer irgendwas in dieser Art heraus. Erfrischend klar ist immerhin der ewig letzte Platz für die FDP mit etwa 35 Prozent. Aber ein eindeutiger erster Platz mit 95 Prozent, wo dann zu Tusch und Bildschirm-Feuerwerk eine Lottofeenstimme sagt: „Herzlichen Glückwunsch, deine Partei ist die XYP, die musst du wählen!“, kommt einfach nicht zustande. Was soll das Volk also machen?

Okay, ich seh’s ein. Wie immer, wenn der Wahlomat versagt, muss ich es denn wohl richten. Ich hab zwar keine milliardenschwere Bundeszentrale für politische Bildung im Rücken, die mir für den Job die gebührende Aufwandsentschädigung transferieren würde, aber arbeite ich in diesem Business denn für die schnelle Mark?[1] Für den Kick, für den Augenblick? Nein, meine Schäfchen und Spätzchen, ich tu‘s aus reiner Bonhomie, aus Barmherzigkeit und Bürgerstolz, ich tu‘s als Beau Geste, für lau, nur für die Leuchtkraft des Lichtleibs, der mir auf Markt und Gasse das ehrfurchtsvolle Tuscheln des Volkes einträgt, den warmen Händedruck des einfachen Mannes, den artigen Knicks der Jungfer und dann und wann ein dankbares, zukunftsfrohes Kinderlächeln.

Wohlan, meine stimmviehischen Brüder und Schwestern, höret denn meine Wahlempfehlung: Wählet am 26. September 2021 die … Sekunde, Sekunde! Ich glaube, ich sollte, bevor ich jetzt schon irgendein Parteienakronym nenne, eine klitzekleine Erörterung voranschicken, denn wenn hier erst einmal SSW oder CSU oder DKP, SGP, LKR, DIB oder PDF oder was auch immer steht, dann liest ja keiner mehr weiter, und dann bin ich für alle Zeiten nur noch der, der diese oder jene drei Buchstaben empfohlen hat.

Ich würde also voranschicken wollen, dass man als gutwilliger Zeitgenosse, der brav seine monatlichen Spenden für arme Tiere und notleidende Menschen entrichtet und sich regelmäßig an Heine-Lyrik über das frühsozialistisch zu erkämpfende Erdenglück berauscht, eigentlich wohl irgendwas Linkes wählen müsste. Sogar Thomas Mann, dessen Autorität ich bislang nie Grund hatte anzuzweifeln (auch wenn er weder Veganer war, noch auf Vokabeln wie „Nigger“ verzichten konnte), rang sich bekanntlich einmal zu der Feststellung durch, dass „der Platz des deutschen Bürgertums heute an der Seite der Sozialdemokratie sei.“[2] Dieses „Heute“ war allerdings 1930, und in unserem Heute sind längst alle Parteien, die auf dem Wahlzettel stehen, Parteien des demokratischen Sozialismus, ausnahmslos. Unser Wohlfahrtsstaat, unser Bildungssystem, unsere Klassenlosigkeit, unsere Arbeitszeitstandards toppen alles, was Heine, Freiligrath, Herwegh und spätere Ausbeutungsanprangerer und Arbeiterrechteerstreiter sich zu erträumen gewagt hätten. Und keine Partei, soweit mir bekannt ist, will diese Errungenschaften sozialistischer, sozialdemokratischer Jahrhundertarbeit rückgängig machen.
Wenn also eh alle in diesem Sinne links sind, muss man dann noch die wählen, die sich explizit so nennen?


Geschmackssache

Man müsste sehr ernsthaft darüber nachdenken, die Linkspartei zu wählen, wenn da alle ungefähr so wären wie Sahra Wagenknecht. Sind sie aber nicht. Die sind da nämlich alle total anders. Und Frau Wagenknecht – das Gleiche in Grün gilt für Boris Palmer – sollte vielmehr ihrerseits mal ernsthaft darüber nachdenken, ob sie nicht in einer anderen, vielleicht erst noch zu gründenden Partei wesentlich besser aufgehoben wäre.

„Aufstehen“ – so hieß die mittlerweile halb versandete Bewegung, mit der Sahra Wagenknecht und der durch mehrere scharfsinnige Schriften auffällig gewordene Bernd Stegemann vor ziemlich genau drei Jahren irgendeine Art von Lebensenergie und Aufbruchfeeling in das schlummernde Reservoir gesamtlinker Schlafmützigkeit hineinsuggerieren wollten. Da ich mir hin und wieder gern mal was suggerieren lasse, und da die Menschen ja nicht nur in Rechte und Linke einteilbar sind, sondern auch in solche mit durchtrainiertem Gehirn und solche ohne, sah ich mir an, wer da so mitmacht, und konstatierte mit Wohlwollen ein beachtliches Antiverblödungspotenzial. Verblödung ist ja heute leider – wer wird da widersprechen? – das Hauptgebrechen unter linken Läuterungs- und Gerechtigkeitskriegern. Der ewige Heldenkampf gegen die allgegenwärtigen Nazis, Rassisten, Schwulenhasser, Frauenfeinde und sonstige Dämonen bindet einfach kognitive Energien und psychische Produktivkräfte, die dann in den Hirnregionen für Logik und Urteilskraft nicht mehr zur Verfügung stehen. Und das macht was mit dem Denkapparat, das ist wie bei Tennisprofis, bei denen der Schlagarm immer doppelt so dick ist wie der andere, der Ballhochwerf-Arm. Wann immer ich linke Gehirne auf dem Seziertisch habe, finde ich diesen kortikalen Riesenbizeps, diese durch moralisches Übertraining herangezüchtete Beule im Rousseau-Areal, wohingegen die Albert’schen Stirnhirnlappen, da wo „kritischer Realismus“ und „Skepsis“ und „schonungslose Selbstanalyse“ draufsteht, immer ganz blass und verkümmert sind.[3]

Jedenfalls, bei „Aufstehen – Die Sammlungsbewegung“ machen ein paar kluge Leute mit, also Ausnahmelinke. Ja sogar der neben Nietzsche, Hesse und Thomas Mann wichtigste Psychagog meiner Selbst- und Sinnfindungsjahre, Eugen Drewermann, gehört zum Kreis der Unterstützer, und da kann ich nun wirklich kaum anders, als dieser Initiative eine grundsätzliche Sympathie entgegenzubringen.

Aber Sympathie, geistige Nähe ist das eine, nüchterne Beurteilung das andere, und dann gibt es noch was anderes, das in solchen Angelegenheiten eigentlich immer den Ausschlag gibt, und das muss man wohl als politischen Geschmack bezeichnen. Was soll ich sagen – ich bin verwöhnt und verschnuckert wie Lagerfelds Kätzchen, und die Welt, die die Linken wollen, die schmeckt mir einfach nicht. Sie schmeckt mir zu sehr nach AStA und Antifa, nach „zivilgesellschaftlichen“ Kräften und gerechter Gewalt, nach Gesinnungsnachweis und Genderstern, nach Borschtsch in der Theaterkneipe, Brecht-Matinee in der Gewerkschaftsbücherei und Islamisierung städtischer Parkanlagen. Nach Pseudofreiheit und Denkmalschändung, nach Spraydosenvandalismus und Sozialkonstruktivismus. Ich hätte überhaupt nichts dagegen, wenn eine Bundeskanzlerin Janine Wissler den Millionenverdienern ordentlich was von ihrem Einkommen wegnähme, um es den Klofrauen und den Altenpflegern zu geben. Aber ich fürchte, bald danach würde sie die Werke Thomas Manns auf korrekturbedürftige Wörter durchsuchen lassen, und dann würde sie die „Verdammten dieser Erde“ und die Überzähligen des Morgenlandes nach Europa rufen, auf dass endlich alle Schuld der Vergangenheit gesühnt und globale Gerechtigkeit geschaffen werde. Also … das, was man links so unter Gerechtigkeit versteht.


Alte Sozis in die AfD!

Das Wagenknecht-Palmer-Sarrazin-Problem ist wohl das Problem der politischen Sesshaftigkeit, das Problem von nonkonformen, trendresistenten Menschen, denen ihre gewohnte Gesinnungsheimat im Geschiebe des Zeitgeistes abhandenkommt, und die doch darauf beharren, weiterhin dazuzugehören, obgleich man ihnen mit zunehmender Deutlichkeit signalisiert, dass sie sich doch mit ihren abweichenden Ansichten woanders hin bequemen mögen.

Ob Sozialisten, Grüne, Sozialdemokraten – etliche lebenslange Linke sind offenbar nicht bereit, auf ihre alten Tage noch einmal umzudenken, das Schwierige, das nahezu Unmögliche zu denken, nämlich, dass sie heute gar keine Linken mehr sind, sondern Rechte.
Leute wie der geschätzte – hin und wieder womöglich etwas überschätzte – Boris Reitschuster, die in TV- und Radio-Talks gern betonen, sie seien doch schließlich „alte Sozialdemokraten“, die müssen vielleicht mal einen Strich unter ihr nostalgisches Selbstbild machen und sich eingestehen, dass es die alte Sozialdemokratie nicht mehr gibt. Und dass ihnen die verbiesterten neuen Sozialdemokraten ohnehin nicht abnehmen, dass sie irgendeiner sozialen, demokratischen, linken und gutmenschlichen Regung fähig wären. Dass sich da, wo früher ihr „Links“ war, heute der moralische Totalitarismus auftürmt, laut und jung und grün und dumm, und dass es darauf heute vielleicht nur eine strategisch sinnvolle Antwort gibt: die Fremdzuschreibung annehmen und in eine neue Identität hineinwachsen. Wenn einem die alten Genossen dauernd sagen, man sei rechts, gut, dann ist man das nach heutigen Maßstäben vielleicht.

Thilo Sarrazin, auch ein „alter Sozialdemokrat“, mag sich in seinen Grundhaltungen nicht groß verändert haben, aber die politische Welt hat sich unter ihm weggedreht, und jetzt steht er glasklar rechts. Helmut Schmidt wäre in den Augen der heute amtierenden SPD-Subjekte ein Rechter, vermutlich sogar ein Rechtsaußen, denn dazu reicht ja mittlerweile, dass man es wagt, mit Begriffen wie Volk, Nation, Ausländer, Überfremdung, Entartung, Vaterland ohne Anführungszeichen zu hantieren.

Es nutzt nichts, darauf zu beharren, man selbst sei doch der wahre Linke, der wahre Anwalt der Arbeiterschaft, der wahre Sozialist, und die neuen woken Lifestyle-Linken seien nur eine pseudolinke Modeerscheinung. Nach der gleichen Logik waren auch die Nationalsozialisten nur eine Modeerscheinung. Zwölf Jahre Mode, die Maßstäbe gesetzt hat. Kann man so sehen.
Es ist oft herzzerreißend – oder eher thymoszerreißend[4] –, mitzuerleben, wie all die alten Linken à la Thierse weiter dazugehören wollen, es sich ja nicht verscherzen wollen mit den neuen Tonangebern. Die sozialpolitischen Altlinken, die die moralpolitischen Neulinken für ihren Gender-Multikulti-Windrad-Impfzwang-Diversity-Totalitarismus kritisieren und gleichzeitig devot und beschwichtigend zu verstehen geben, dass sie deshalb doch keine Rechtspopulisten seien und mit der AfD nichts zu tun haben wollen, müssen sich langsam wohl mal entscheiden. Wenn sie als Altlinke nicht mehr gefragt sind und von den Neulinken als Rechte abgestempelt werden, und wenn sie keine Rechten im Sinne der einzigen rechten Partei, die in der politischen Realität eine Rolle spielt, sein wollen, und wenn die nächstgemäßigtere Partei, in der man als gemäßigter Rechter früher eine Heimat finden konnte – die CDU – eine weitgehend, von wenigen Aufrechten abgesehen, linke Partei geworden ist, und wenn die ewige Ausweichpartei für jene, die zum Nichtwählen zu gewissenhaft, zum Rechtswählen zu feige sind – die FDP – sich im Zuge der Thüringenwahl als noch rückgratloser erwiesen hat, als man sich je hätte vorstellen können, dann muss man entweder eine neue Partei gründen, die eine konsequentere, erwachsenere, vertrauenswürdigere, weniger labile und weniger beschämende Alternative zur AfD verkörpern würde, oder man muss mithelfen, diese bereits bestehende Partei besser zu machen, umzugestalten, klar auszurichten, zu radikalisieren. Radikalisieren im Sinne einer radikalen Bürgerlichkeit, eines kompromisslosen Realismus.

Wie das gehen soll, weiß ich nicht. Wer hart im Nehmen ist, sollte da eintreten und den Laden von innen aufräumen, aufpolieren, korrigieren und kultivieren. Utopisch? Wir leben in Zeiten, wo am laufenden Band das Undenkbare geschieht. Da scheint mir eine Reformbewegung innerhalb der AfD realistischer als so manches, was mir täglich in den Nachrichten präsentiert wird.


Sprechakt und Geschwätz

Ich selbst beschränke mich naturgemäß aufs Schlauschwätzen vom Spielfeldrand aus. Das würde ich übrigens auch einem größeren Teil der derzeit sichtbaren AfD-Politiker dringend empfehlen. Es haben speziell in dieser Partei – in andern ist’s aber auch nicht viel anders – offenbar etliche noch nicht begriffen, dass Politiker eine andere Aufgabe haben als Publizisten. Im Bundestag und in Landesparlamenten kann man regelmäßig Redner auftreten sehen, die irgendeinen provokanten Kommentar zum Zeitgeschehen verfasst haben (oder haben verfassen lassen) und den dann vorlesen. Nicht selten verheben sie sich an satirischen Stilmitteln, überwürzen ihren Beitrag mit Dauerironie, Stammtischsarkasmus, Büttenpointen. Und wie im Reichstag, so auf Twitter. Es geht regelmäßig mit Geklirr daneben. Merke: Wenn das Volk geistreicher Feuilletons und Kolumnen bedarf, dann wird es sich mit den Erzeugnissen der dafür zuständigen Spezialisten zu behelfen wissen, mit Martenstein und Klonovsky und … und (Max Goldt, wollte ich sagen, aber der hat sich wohl ganz aufs Comic-Format zurückgezogen … vielleicht gar nicht das Schlechteste heutzutage …)

Der Politiker jedenfalls sei gefälligst unironisch, ernst, geradeaus, entschlossen, bestimmt. Er enthalte sich alles Redensartlichen, Uneigentlichen, Manierierten, aller Vieldeutigkeit und Künstlerwitzigkeit. Sein Ja sei ein Ja, sein Nein ein Nein. Der Politiker ist – ganz im Gegensatz zum Publizisten – ein Mann der Tat. Eine Politikerin ist eine Frau der Tat. Politikerworte sind potentielle Sprechakte, man denkt die realen Konsequenzen immer mit. Solche Worte müssen verantwortet werden. Publizistenworte dagegen sind – im besten Falle – Entertainment und Urteilskrafttraining, glitzernde Stimulation und Gedankengefunkel, anregende, aufregende, anstoßerregende Spielerei.

Der Politiker mag zeitweilig nicht viele Taten tun können, wenn er in der Opposition ist, aber er darf während des Wartens keinen Rollenwechsel hin zum Kolumnisten, Glossisten, Pamphletisten oder sonst einer Windbeutel- und Witzboldexistenz vornehmen. Der Politiker, der dauernd seine missglückten Scherze und Uneigentlichkeiten einfangen muss, um dann abzuwiegeln „ich hab’s nicht so gemeint, war doch nur Satire“, wird es zu Recht schwer haben, in verantwortliche Positionen zu gelangen. Oder Bürgermeister von Tübingen zu bleiben. Der Politiker muss immer das meinen, was er sagt.


Unmoralische Interessen

Ich verfolge die Debatten in (einigen) rechten (und antirechten) Medien, ich meine nicht nur die Beiträge von Publizisten, sondern auch die Kommentare der Leser … und ich vergleiche das, was ich da so lese und höre mit der Realität, die ich in meinem Umfeld wahrnehme. Und ich stelle fest, dass die rechts-links-intellektuellen Diskurse in meinem bürgerlichen Milieu niemanden auch nur im Entferntesten interessieren; niemand, der mit dem praktischen Leben hinreichend beschäftigt ist, würde auch nur ansatzweise verstehen, wovon die Rede ist, wenn von Gramscismus, Ethnopluralismus, Overton-Fenster[5], Deep State, Cuckservatives oder Kulturmarxismus die Rede ist.

Schon die Ablehnung des in rechten Kreisen so verpönten Moralismus ist normalen Bürgern, vor allem jener großen Akademiker-Mehrheit, die sich irgendwie mittig-halblinks verortet, kaum vermittelbar. Sie verstehen Politik (mittlerweile) ganz selbstverständlich und ganz wesentlich als Mittel zur Durchsetzung moralischer Prinzipien. Was denn sonst? Und schon jemand, der das anders sieht, kann in ihren Augen eigentlich nur ein moralisch bedenklicher Mensch sein und muss mindestens mit Sorge und Argwohn betrachtet werden. Man steckt ihm ein Grundgesetz zu und raunt mit gebremster Empörung was von Menschenwürde und Gleichheit.

Da, wo keine alten Freundschafts-Bindungen die Verfemungsgelüste hemmen, hält man sich natürlich nicht groß auf mit Sorgenfalten und Gesprächsangeboten. Unter Leuten, die gern Böhmermann-, Haldenwang- und Matthias-Quent-Hoodies tragen [6], ist der politische Gegner kein regulärer Kontrahent, der vielleicht eine andere Auffassung vertritt, sondern ein Feind, der mit allen „zivilgesellschaftlichen“ Mitteln bekämpft werden muss. Mindestens muss er ausgegrenzt werden, da er die grundlegenden Spielregeln des politischen Diskurses infrage stellt, eben zum Beispiel die, dass vor der Vernunft die Moral kommt.[7]

Das Bürgertum, das es nicht mehr gibt, das sich aber selbst als solches fühlt und ungefähr die mittige Mehrheitsmasse der Gesellschaft verkörpert, hält sich – wie gesagt – für irgendwie eher links und grün, es ist zwar unzufrieden mit allem, was das im konkreten Leben bedeutet, vom Benzinpreis über die Coronapolitik bis zur Dschalalabadisierung abendländischer Städte, aber es hält treudoof an seinem treulinken Lebensgefühl fest, so wie es an der Musik seiner Jugendzeit verbissen festhält und ab Depeche Mode und U2 nichts Neues mehr zur Kenntnis genommen hat. Ist von diesen Leuten zu erwarten, dass sie ihrer ersten Lebenshälfte untreu werden und die AfD wählen?

Man hört nicht selten die Aussage: „Ich kann vieles, was die AfD sagt, unterschreiben. Aber ich kann es moralisch nicht verantworten, die zu wählen.“
Gemeint ist damit einerseits, dass man Sorge hat, mit seiner Wahlstimme vielleicht dazu beizutragen, dass sich eine Partei etabliert, in der irgendwann „die Kräfte des Bösen“ die Oberhand gewinnen. Keiner will mitschuldig sein, wenn nach der übernächsten Wahl KZs in Deutschland errichtet werden. Klingt irre, ist aber eine ganz reale Sorge der Menschen, sogar solcher, die ansonsten durch Coolness und Geschichtskenntnisse zu imponieren wissen.

Zweitens meint „moralisch nicht zu verantworten“ wohl auch so etwas wie „stilistisch nicht zu verantworten“. Die AfD-Politiker werden vielfach als inkompatibel mit dem eigenen Menschenbild und der eigenen Peergroup wahrgenommen. Solche Gestalten hat man nicht im Freundeskreis. Man findet sie oftmals wenig sympathisch, wenig souverän, wenig professionell, in ihrer Mischung aus Selbstbemitleidung und Sprücheklopferei schlichtweg unangenehm. Die Medien tun natürlich alles, um diesen Eindruck zu verstärken und positive Gegenbeispiele zu unterschlagen. Aber ganz falsch ist der Eindruck trotzdem nicht.

Und drittens schließlich bedeutet „moralisch nicht zu verantworten“, dass man zwar in Programmatik und Zielsetzung vieles bei der AfD findet, was den eigenen Interessen entspricht, aber: die eigenen Interessen sind für den Mitte-Links-Menschen etwas moralisch Irrelevantes, wenn nicht gar etwas explizit Unmoralisches. Der gute Deutsche, der morgens noch in den Spiegel gucken will, meint die eigenen Interessen wo immer möglich negieren zu müssen. Eine Partei, die die Interessen der Deutschen zur Richtschnur ihrer Politik machen will, ist moralisch beinahe untragbar.


Laschet ist (vermutlich) nicht Kohl

Wenn in diesem Land irgendetwas mit rechten Dingen zugehen würde, dann müsste ich eigentlich die PARTEI wählen. Die machen das, was einer wie ich normalerweise auch machen würde, nämlich sich über Politik und Politiker lustig. Aber normal ist zurzeit leider nichts, und zum ungehemmten Sichlustigmachen ist die Lage zu ernst. Ich glaube, es gibt irgendeinen weisen Spruch, der besagt, dass gerade ernste Zeiten gut für die Satire seien, oder schlechte Zeiten seien goldene Zeiten fürs Kabarett, irgendwie so was. Diese Sprüche sind – also, falls es sie gibt – falsch. Richtig ist vielmehr, dass normale Zeiten, das heißt: langweilige Zeiten gut für die Satire sind. Und zwar, weil langweilige Zeiten gut für alles sind.

Langeweile, Normalität, Ordnung, mittelmäßig-lauwarme Eintönigkeit – das sind die vier Raketenantriebe der Kreativität, für jede Form der Kreativität. Kurzweil und Spektakel killen jede Kreativität. Die dollsten Satiren werden nicht in Disneyland geschrieben, die bahnbrechendsten Relativitätstheorien nicht in Las Vegas entwickelt, und ich lehne mich mal ganz weit über die Fritteuse und behaupte, dass am 11. September 2001 in New York höchstwahrscheinlich nicht allzu viele Gemälde, Gedichte und Drei-Sterne-Gerichte erschaffen worden sind. Wo was los ist, entsteht nichts. Unter extremen Umständen entstehen vor allem Texte zur Wiederherstellung der Mäßigkeit.

Was wollte ich damit sagen? – Richtig: die PARTEI kann man wählen, wenn dereinst mal wieder einer wie Helmut Kohl Kanzler werden sollte und Helmut-Kohl-Politik macht. Dann kauf ich wieder die Titanic und wähle die PARTEI.

Wer jetzt denkt, „na, der Laschet ist doch irgendwie fast so eine Art Kohl, so ein rundlicher, rheinischer, leicht lächerlicher Provinzpolitiker“, der frage sich, ob es auch nur im Allerentferntesten vorstellbar sei, dass Armin Laschet irgendwann mal mit europäischem Trauerakt, Sarkophag-Schifffahrt nach Speyer und Großaufgebot an Elder Statesmen aus aller Herren Länder in die ewigen Weinberge verabschiedet wird? Ob also diese Frohnatur aus dem Aachener Auenland, zu der einem nicht mal ein Spottname einfallen will, gleich der Birne aus Oggersheim das Potenzial hat, sich vom Duodezformat zu echter historischer Gewaltigkeit emporzuentwickeln?
Ich mein, prinzipiell kann sich natürlich jeder Mensch zu jedem Zeitpunkt seines Lebens ändern und zu allem Möglichen entwickeln. Nichts spricht dagegen. Nur die Erfahrung.


Was also wählen?

Wenn es strikt nach Mindset und Gesinnung ginge, dann wäre die einzig relevante Frage: Welche Partei ist heute am ehesten die Anwältin des kritischen Rationalismus? Wo hat diese Geisteshaltung – man sollte sie vielleicht besser rationalen Kritizismus nennen – ihre politischen Fürsprecher, wenn es wirklich drauf ankommt – also heute, in Zeiten des Irrationalismus, des tausendfältigen antiliberalen Pietismus, der bedenkenlosen Frömmlerei. Wo hat eine Philosophie, die dem Ungeist des „totalen Engagements“ die Forderung nach prinzipieller Revidierbarkeit aller Zeit- und Erkenntnisstand-gebundenen Analysen entgegenhält, die nichts für dauerhaft bewiesen und glaubenspflichtig hält, die niemals „der Wissenschaft“ als höchster Erkenntnisautorität folgen kann, weil ein der Aufklärung verpflichtetes Denken weder der Politik noch der Religion noch der Moral und auch nicht „der Wissenschaft“ jene Autonomie zugesteht, die Corona- und Klima-Gläubige zwar mit höchster Emphase propagieren, die aber in Erkenntnis- und erst recht in Entscheidungsfragen allein dem rationalen Denken zukommt (nicht dem „Querdenken“, auch nicht dem „gesunden Menschenverstand“, sondern dem rationalen, kritischen, Kant‘schen Selberdenken, das den unantastbaren Kern der Aufklärung ausmacht, und das noch in Siegfried Unselds steinern-pathetischem Diktum „Folge niemandem!“ das pluralistische Ethos des alten Suhrkamp-Verlags ausmachte – und dieses „Folge niemandem!“ heißt heute ausdrücklich auch: Do not follow the Science!)[8] – wo also hat diese Geisteshaltung heute am ehesten noch eine Heimat?

Wenn es nicht nach Geistesheimat und Gesinnung geht, sondern nur nach ganz schnöden praktischen Erwägungen – und eben darum geht es wohl leider –, dann lautet die entscheidende Frage:
Kann man die einzige Partei, von der man sicher sein kann, dass sie erstens in den Bundestag einziehen wird, und dass sie zweitens in der Opposition bleiben wird, wählen, auch wenn sie AfD heißt?
Anders gefragt: Gibt es Alternativen zur AfD?
Alle kleineren Parteien, bei denen man eventuell größere inhaltliche Überschneidungen und vertrauenswürdigeres Personal sieht, werden an der Fünfprozenthürde scheitern.
Könnte man sich um Sahra Wagenknechts willen mit pochendem Herzen, schlechtem Gewissen und einer Jumbo-Jet-Packung Kotztüten ausgerüstet zur Wahl der Linkspartei durchringen, müsste man sich auf den nicht ganz unwahrscheinlichen Vorwurf gefasst machen, einer durchgeknallten Politsekte zur Regierungsbeteiligung verholfen zu haben. Und wenn die die Wagenknecht demnächst doch noch rausschmeißen, dann steht man richtig doof da.
Mittelfristig betrachtet wäre Rot-Grün-Rot allerdings auch wieder interessant, weil dann das sedierte Schlafmützen-Bürgertum vielleicht mal aufwachen würde, um zu sehen, welche realen Konsequenzen es hat, wenn die vereinigte Linke vier Jahre lang machen kann, was sie will. Das könnten vier äußerst lehrreiche Jahre werden.
Und ebenfalls interessant wäre es zu beobachten, inwieweit die dann eintretenden Zustände sich auf die Gesprächsbereitschaft von Union und FDP mit der AfD auswirken würden.

Wenn einem das zu viele Konjunktive sind, dann sollte man seine Zeit zukünftig nicht mit Entertainmenttextchen wie dem hier vorliegenden verschwenden, sondern stracks und spontan sein Kreuzchen da machen, wo die Giveaway-Tüte am leckersten und das Weltbild am knusprigsten ist. Oder wo man im Nachgang am wenigsten von den Speibsackerln (wie wir österreichischen Stewardessen sagen) verbraucht.

Ich persönlich wähle (und empfehle) natürlich die RPD. Nein, nicht die Republikanische Partei Deutschlands, sondern die Rationalpartei Deutschlands. Vielleicht nenne ich sie auch Deutsche Rationalpartei (DRP) oder Partei des kritischen Rationalismus (PKR). Ich muss die nur noch schnell gründen und beim Bundeswahlleiter anmelden.
Wenn Sie die auf Ihrem Wahlzettel nicht finden sollten, einfach selber draufschreiben (und ankreuzen!), das wird schon irgendwie funktionieren.


[1] Aus welchem Film stammt dieses Zitat? Wer’s weiß, wird Kulturminister im ersten Kabinett Ludwig.

 

[2] Deutsche Ansprache. Ein Appell an die Vernunft. Vortrag am 17.10.1930 in Berlin.

 

[3] Hans Albert: deutlich zu unbekannter Philosoph des kritischen Realismus, kürzlich 100 Jahre alt geworden. Leseempfehlung: Traktat über kritische Vernunft. Und: Traktat über rationale Praxis.

Jean-Jacques Rousseau: Stammvater des utopistischen Gutmenschentums. Leseempfehlung: Wikipedia-Artikel überfliegen, und in der eingesparten Zeit die Lustigen Taschenbücher 1–118 lesen. Oder ein Kunstbuch aus dem Taschen-Verlag, zum Beispiel das aus der kleinen Reihe über die Malerei der Gotik – der komplette Wahnsinn, ich schwör.

 

[4] Thymos, das ist diese von Platon und Peter Sloterdijk entwickelte Drüse über dem Herzen, wo neben anderen Gemütsqualitäten auch die Selbstachtung sitzt.

 

[5] „Als Overton-Fenster wird der Rahmen an Ideen bezeichnet, die im öffentlichen Diskurs akzeptiert werden, unter dem Gesichtspunkt der öffentlichen Moral. Nach diesem Modell enthält dieses Fenster eine Reihe von Postulaten, die im aktuellen Klima der öffentlichen Meinung als politisch akzeptabel angesehen werden und die ein Politiker empfehlen kann, ohne als zu extrem zu wirken, um ein öffentliches Amt zu erhalten oder zu behalten. Das Konzept wird auf der ganzen Welt angewandt, insbesondere von politischen Analytikern, zum Beispiel zur Evaluation und Einschätzung von Sachverhalten.“ (aus Wikipedia-Artikel „Overton-Fenster“)

 

[6] Kleinigkeit am Rande: In einer sehr aufschlussreichen Diskussionsrunde zur Wissenschaftsfreiheit sagte kürzlich der Grünen-Politiker Kai Gehring mit entwaffnender Offenheit, Matthias Quent forsche in Jena gegen Rechtsextremismus. – Ich versuche mir vorzustellen, wie man aussieht, wenn man gerade gegen irgendwas forscht. Und welche Pillen man nehmen muss, um sich selbst glaubhaft zu machen, dass man dann noch grundlegenden Objektivitätskriterien der Wissenschaftlichkeit genügt. Aber da Experte Quent zweifellos in der Tradition großer und größter Forscher steht – wir denken an Freud, der gegen das Unbewusste forschte, oder an Einstein, der gegen Raum und Zeit forschte, nicht zu vergessen natürlich Konrad Lorenz, der in Seewiesen gegen die Graugänse forschte –, werden solche kleinlichen Bedenken dem Wissenschaftspolitiker Gehring kaum mehr als ein Schulterzucken abnötigen können.

https://www.youtube.com/watch?v=FMNdu8hAP7k (bei ca 1h:10min)

Zum Problem der Agendawissenschaft:

https://www.nzz.ch/feuilleton/wissenschaft-wenn-macht-und-moral-die-erkenntnis-ersetzen-ld.1533154

 

[7] Ist der Moralismus-Gegner ein unmoralischer Mensch? Die Moral des Moralisten hat nicht sehr viel mit durchdachter Ethik zu tun, es handelt sich offensichtlich eher um das, was „Moral“ ehedem bezeichnete, nämlich einfach die in einer Gesellschaft verbreiteten Sitten, die herrschenden Sitten, die „guten Sitten“. Wenn ich von mir sprechen darf: Ich halte mich für einen ethisch halbwegs ambitionierten Menschen. Und das schließt geradezu notwendig ein, dass man regelmäßig gegen die Sitten verstößt, gegen die Gouvernantenmoral, gegen jene guten Sitten, von denen jeder, der fünf Minuten Nietzsche liest und dann fünf Minuten fernsieht, wissen kann, dass sie die für den Massengeschmack zurechtgezuckerten schlechten Sitten sind.

 

[8] Warum man der Wissenschaft nicht folgen soll, warum man ihr auch gar nicht folgen kann, will ich in einem meiner nächsten Beiträge darlegen.

 

 

 

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