SL

Mein reicher Freund Ray weiß seinen Reichtum gut zu verbergen. So einigermaßen zumindest. Man sieht es dem verdammten Dreckskerl nicht so direkt an. Ich jedenfalls hab echt keine Ahnung, wie reich er wirklich genau ist, ob er jetzt fünf Millionen oder fünfzig Millionen hat, also, ich mein, wenn man alles zu Geld machen würde, was er so hat, Firmen, Häuser, Kunst, Kram, Zeugs, Autos. Er hat überall im Süden der Stadt seine Garagen, und in den Garagen stehen Autos rum, also jetzt keine Lambos oder Maseratis oder ähnliche Schwanzverlängerungen, nein, nur ganz dezente Gefährte, jedes für sich nett, aber nicht so spektakulär, dass die Passanten sich total einnässen würden. Erst dadurch, dass er jeden Tag – nicht jeden Tag, aber jede Woche, oder vielleicht alle paar Wochen – mit einer anderen Karre angefahren kommt, ahnen die Leute, dass er wohl reich sein muss, und zwar eben nicht nur reich an Kohle, sondern offenbar auch reich an Geschmack und sozialverträglicher Lebensfreude, also ohne überall den mega Neid zu erregen. Man gönnt ihm seine paar Old- und Youngtimer von Herzen. So Prollo-Reiche kaufen sich für 300.000 irgendeinen diamantbesetzten Panamera oder Bugatti oder so nen bescheuerten Brabus-Hummer mit 17.000 PS und Whirlpool im Kofferraum. Mein reicher Freund Ray kauft sich für die 300.000 zehn geile Karren mit Stil und Ewigkeitswert, und das ist doch zweifellos das Vernünftigste, was man mit so einer Summe anstellen kann. Irgendwo steht ein Golf 1 rum, der noch keine 5000 km auf dem Tacho hat, dann hat er ein Granada Coupé, ochsenblutrot mit schwarzem Vinyldach, den sein Vater in den 80ern keinem Geringeren als Horst Tappert aus den Rippen geleiert hat, was heißt geleiert, er hat ihn getauscht gegen – ich weiß gar nicht, ob ich das sagen darf, gegen so Wehrmachtsscheiß, irgendwelche Offizierspistolen und Kaffeetassen und geheimes Zeug aus dem Generalstab, n Riesenschreibtisch war dabei und ich weiß nicht was … und wo Rays Vater das Zeug her hatte, weiß erst recht kein Mensch. Außerdem hat er einen Plymouth Fury, so ne himmelblaue Bullenkarre, original vom NYPD, und natürlich einen GMC Sierra, diesen Colt-Seavers-Pickup, aber nicht in goldbraun, sondern in nachtblau, und auf der Motorhaube ein Airbrush des Covers von Iron Maidens „Powerslave“. Mein reicher Freund Ray ist ein Assi mit Niveau, kann man sagen. Sagt er auch selber.
Heute holt er mich mit seinem taubenblauen SL-Cabrio ab, 1975, cognac-caramell-farbene Innenausstattung, das Schätzchen schnurrt wie ein gestriegeltes Kätzchen, und das Schmatzen der Beifahrertür, die neben mir zufällt wie eine gebutterte Bassdrum, kriegen die Daimler-Fritzen heute nur noch mit irgendwelchen abartigen Soundprozessoren hindesignt.
Wir begrüßen uns wie so Fußball-Assis, Männer-Handschlag, so angewinkelt wie beim Armdrücken, „Alder, was geht“ und so. Und dann cruisen wir ein paar Stündchen durchs Grün vor den Toren der Stadt, dieser gottverdammten Drecksstadt, von der man eigentlich gar nicht glauben kann, dass darin so geile Typen wie mein scheißreicher Freund Ray und sein geistreicher Freund Jay entstehen, aufwachsen und fünfzig Jahre überleben können. Er ist übrigens der einzige Mensch auf der Welt, der mich Jay nennt, wär ich selber nie drauf gekommen, aber ich lass es mir gefallen. Auf dem Beifahrersitz eines SL rumhängen, durch Sonnenbrillengläser in die Landschaft glotzen, ein paar Vormittagszigarettchen rauchen und dabei immer mit Jay angesprochen werden – warum sollte ich mir das nicht gefallen lassen?
„Hab gehört, du brauchst ne Golfplatzfahne, Jay?“
Ich wende den Kopf nach links. „Was brauch ich?“
„So ne Fahne, womit die auf dem Golfplatz die Löcher markieren.“
„Nö, eigentlich nicht.“
„Klar brauchst du die.“
„Warum noch gleich …?“
„Wirst nachher sehen, warum …“
Er grinst sein braungebranntes Tom-Cruise-Mister-Big-Lächeln. „Scheiße, wir werden ne Menge Spaß haben heute, hehe.“
Warum ist der Typ so scheißenochmal scheißbraun? Der geht nicht ins Solarium, er war auch dieses Jahr noch nicht im Urlaub, soweit ich weiß. Aber wenn ich seinen dunkelbraunen Arm neben meinem auf der Mittellehne liegen seh, dann sieht das aus, als würden wir verschiedenen Subspezies angehören. Ich glaub, ich hab ihn noch nie blass gesehen. Wahrscheinlich hängt das damit zusammen, dass er den ganzen Tag in seinem riesen Garten rumhängt, der direkt an den Golfplatz grenzt, und so dermaßen direkt nach Süden ausgerichtet ist, mit leichter Hanglage, dass er da schon Ende Februar mit kurzer Hose rumsitzen kann und mit freiem Oberkörper den Rasen mähen und die Rosen beschnuppern und Holzscheite spalten kann, sodass für mediterrane Pigmentierung stets gesorgt ist. Übrigens spielt er natürlich kein Golf. Er verachtet die Golfsnobs, die jenseits seines Gartenzauns ihrem Greisen-Sport nachgehen. Schließlich sieht er sich trotz seiner Millionen immer noch als ehrlichen Arbeiter – Industriemeister Papierverarbeitung, so steht es auf dem Diplom (sagt man bei Meistern „Diplom“?), das an der Wand seines Teak-getäfelten Arbeitszimmers hängt –, und außerdem zitiert er immer gern Bono von U2, der angeblich mal gesagt hat: „When you’re in U2, you can take drugs, you can carry weapons or collect art or fly to the moon, whatever – but you don’t play golf!“
Ray kann nicht lange irgendwas für sich behalten: „Alter, wir werden Golf spielen, und zwar auf meinem neuen Hubschrauberlandeplatz. Was sagst du?“
Ich zünde mir eine von seinen American Spirits an.
„Klingt erstmal reichlich behämmert“, sag ich, „aber ich bin für alles offen.“
„Das wollt ich hören.“

Hubschrauberlandeplatz hatten wir bisher noch nicht. Ich mein, Pool ist Standard bei diesen Hütten, eigenen Tennisplatz haben auch manche Anwesen, aber Hubschrauberlandeplatz kenn ich eher vom Unfallkrankenhaus. Mein reicher Freund Ray hat immer irgendwo neue Häuser am Start, das liegt daran, dass er mit Häusern handelt, er hat sich irgendwann mal so ne Maklerlizenz besorgt, nebenbei, so wie er alles nebenbei macht und im Vorbeigehen erledigt. Er folgt dem evolutionären Imperativ: Handle stets so, dass neue Möglichkeiten entstehen. Unter all den Unternehmungen, die er so unternimmt, hat sich das mit den Immobilien als das Lukrativste erwiesen, also hat er sich weitestgehend darauf fokussiert. Die andern Sachen laufen irgendwie weiter, ohne dass er sich darum viel kümmern muss, er hat da eine ausgeklügelte Firmenkonglomeration geschaffen, wo alles irgendwie so ineinandergreift, dass Verwalter und Vertrauenspersonen die Tagesgeschäfte regeln können und er möglichst wenig selbst machen und vor allem möglichst wenig Steuern zahlen muss, also jetzt nichts Illegales, nur halt fiskalisch und arbeitsaufwandstechnisch super optimiert. Er hat hier ein Büro und ein Lager, da eine Werkshalle, dort ein Restaurant, irgendwo ein Mietshaus, und irgendwo ein paar Städte weiter noch eins, oder mehrere, dort ein paar Hektar Weideland, und hier noch eine Aktiengesellschaft mit Aufsichtsrat und was weiß ich, das Organigramm dazu passt auf kein Whiteboard der Welt.
Jedenfalls, die Häuser, mit denen er dealt, die sind meistens so ultrateuer, dass die immer monatelang leerstehen – ich mein, es dauert halt einfach, jemanden zu finden, der bekloppt genug ist, elf Millionen für einen Wohnsitz in dieser Drecksstadt oder in den benachbarten Drecksstädten hinzublättern –, und dann kann man ja als Makler so ein Objektchen ruhig irgendwie nutzen, wenn man schon mal die Schlüssel hat, nicht wahr, um da halt mal hinzufahren, nach dem Rechten zu sehen, n bisschen zu chillen, n Tässchen Kaffee zu trinken, auf dem Bechstein rumzuklimpern, vielleicht ne Party zu feiern, oder auch mal ne Runde Golf zu spielen.

Man sehe meinem reichen Freund Ray seinen Reichtum nicht an, sagte ich? Ja, das stimmt, und stimmt auch wieder nicht. Wenn ich ihn so ansehe, ist da eigentlich nichts, was auf Schweizer Konten und Gucci-Shows an der Piazza di Spagna hindeutet. Er trägt nicht mal ne Uhr. Aber irgendwie sieht er hochwertiger aus als ich in meinen zehn Jahre alten C&A-H&M-P&C-Klamotten. Auf seinem Shirt steht ganz klein „Kjøbenhavn“. Auf meinem steht, keine Ahnung, was steht denn da … „Active 75 – Timeless Power Team“. Das könnte es sein. Das macht auf jeden Fall nen Unterschied. Ich knöpfe meine Jacke zu, damit man mein Schwachsinns-Shirt nicht sieht. Scheiße, auf der Jacke steht ja auch irgendwas. Lieber gar nicht erst lesen.
Vielleicht ist es aber gar nicht die Beschriftung seines T-Shirts, sondern einfach die generelle Lebenseinstellung, die er ausstrahlt, so eine Grund-und-Tiefen-Zuversicht, dieses „Wo ist das Problem? Läuft doch alles, irgendwie zumindest, wird schon, wird schon …“.
Er würde garantiert nie so Business-Wichser-Sprüche absondern, „Probleme sind nur dornige Chancen“ und so, aber er sondert so was eben nur deshalb nicht ab, weil das für ihn die selbstverständlichsten Fraglosigkeiten von der Welt sind. Er würde ja auch nicht sagen: „Nutella schmeckt besser als Scheiße“, oder „Rosen sind nur dornige Tulpen“, oder „Winterurlaube sind nur verschneite Sommerurlaube“, was weiß ich.
Nicht, dass er ein totaler Sonnenschein wär … er hat schon seine düsteren Seiten, seine Melancholien und Wutausbrüche, aber das ist alles Oberfläche, im Kern ist er … mir fällt kein besseres Wort ein: solide. „Solid as a Rock.“ Ja, „Rock“ würde vielleicht sogar besser passen für ihn als „Ray“. Wenn ich Jesus wäre, wär er mein Rocky, ich meine natürlich mein Petrus. Der Fels, auf den ich meine Kirche baute. Ich mein, als Jesus würde ich den Teufel tun, eine Kirche zu bauen, bloß nicht, ich würde alles tun, eine Kirche zu verhindern, zumindest eine Kirche wie die, die wir jetzt haben. Ich würde mich kreuzigen lassen, die sündige Menschheit erlösen, auferstehen und in den Himmel auffahren, und das müsste dann reichen. Kirche? Bräuchte kein Mensch. – Nur, wo würden die Leute dann Weihnachten feiern … darf man den kommenden Kinderlein das nehmen? Basiert nicht der ganze Lebenswille des westlichen Erwachsenen auf seinen kindlichen Weihnachtserlebnissen? Striche man aus unseren Biographien den Kirchen- und Kerzen- und Krippen- und Christkind-Zauber heraus, was bliebe dann? Die Struktur unserer Sehnsüchte wäre komplett kaputt, welchen Sinn hätte es zu leben, wenn es keine Erinnerung an unser Herkommen aus dem Märchen gäbe, aus dem traumtiefen Tannengrün, aus Krypten und Nischen voll flackernden Zauberlichts, aus dem gleißenden Orgelsturm, der stillen, heiligen Nacht? Dafür muss es wohl Kirchen geben, kalte, gotische Dome, glockenhallende, weihrauchverhangene Basiliken und Kapellen, dafür mussten Jahrtausende bauen und bauen, sich schinden und opfern. Ja, es war notwendig. Es war gut. Und wo es Kirchen geben soll, da muss es wohl auch die Kirche geben. Was will man machen …

Aber zur Hölle mit diesen Wintergedanken mitten im Sommer. Der kommende Winter wird wenig Anlass zu nostalgischen Retrotopien geben. Er wird kalt werden, er wird kostspielig werden, und Weihnachten wird wohl weitgehend ausfallen müssen. Zumindest als Fressfest, als Kaufland-, Douglas- und Saturn-Orgie. Was ja kein Schaden wäre. Ein Hungerwinter täte uns verfetteten Konsumschweinen eigentlich mal ganz gut. In der Kirche sitzen, in drei Decken gehüllt beten und singen, nach und nach die Bänke verfeuern, Geschichten erzählen … klingt doch ganz attraktiv als Alternative zum alljährlichen Lebkuchenkotzen und Amazon-Geschenkkarten-Verballern.
Mein reicher Freund Ray hat übrigens keine Angst vor dem Winter. Soll dieser plastinierte Clown im Kreml oder der Android im Kanzleramt doch das bescheuerte Gas abdrehen, er hat seinen Kamin und heizt damit ohnehin von jeher sein Haus. Irgendwo in Hessen oder in Thüringen hat er ein Stück Wald – ein paar Hektar oder Klafter oder Morgen, was weiß ich, wie die Forstleute das nennen –, und wenn ihm die Preise für das Brennholz hier vor Ort zu bunt werden, dann fährt er halt mit seinem Monster-Raptor rüber in sein komisches Knüllgebirge und fällt da ein paar Fichten zum Verfeuern, das heißt, er muss da gar nicht mehr groß was fällen, die abgestorbenen Stämme fallen ja schon um, wenn man nur dran klopft, und dann zerlegen die sich quasi selbst in handliche Formate, die er dann mit so nem Greifarm auf den Anhänger bugsiert, und dann fährt er damit wieder nach Hause, holt den Holzspalter aus der Garage und macht sich einen zünftigen Arbeitstag im Garten, begleitet von ein paar Tässchen Irish Coffee oder Schneewittchen, und dann hat er es mit seinen fünfzehn Kubikmetern Kaminscheiten für zwei Jahre schön warm in der Hütte.
Strom braucht er so gut wie gar nicht, Netty und die Mädels haben ein paar von den üblichen Frauen-Elektrogeräten, Föhn und Kühlschrank und so, aber er selbst braucht eigentlich nicht mal nen Fernseher. Er sitzt abends stundenlang vor dem Kaminfeuer oder vor dem großen Fenster zur Landschaft und nippt an seinem Bourbonglas und denkt sich so dies und das, meist düsteres Zeug, über die Zukunft des Landes und den Niedergang von allem. Er hat – wie gesagt – so seine philosophischen Momente, da verdichten sich solche finsteren Gemütswolken zu Geschichtsgesetzen, die er dann in ein kleines Notizbuch schreibt, und da steht dann zum Beispiel: „Es ist immer schon später als du denkst.“ Oder: „Irgendwann wird alles scheiße.“ Oder auch mal längere Einsichten: „Ab einem bestimmten – vielleicht eher unbestimmten – Punkt der Persönlichkeitsentwicklung ist es nicht mehr so wichtig, woher jemand kommt, sondern nur noch, wohin er will. Und wie er sich schlägt auf seinem Weg.“
Mehr als einmal war er versucht, sein Sammelwerk den Flammen zu übergeben, bevor das mal jemand findet … aber wenn er dann so darin herumblättert, fallen ihm doch immer wieder interessante Sätzchen ins Auge, die er schon halb vergessen hatte und über die er dann mehr schmunzeln als sich schämen muss, und warum sollte er seinen Töchtern nicht dereinst ein Büchlein mit tiefsinnigen Sentenzen hinterlassen, vielleicht wird ihnen das mehr bedeuten als seine Autosammlung und seine undurchsichtige Firmenkonstruktion.
Rays Töchter sind übrigens Genies, das ist jedem klar, der sie zum ersten Mal sieht. Sie sind zwölf und vierzehn, sehen aus wie Models, sind auch Models, neulich hatten sie ein Shooting für so einen Naturmode-Katalog, im Eichhörnchenwald von Lenzerheide, und wenn sie wieder daheim sind und ihre Kameratauglichkeit vergessen haben, wuseln sie runter in den Keller, um Protonen zu spalten oder Schostakowitsch-Sonaten zu üben. Oder sie polieren ihre ganzen Jugend-forscht-und-musiziert-und-erfindet-verrückte-Sachen-zum-Wohle-der-Menschheit-Urkunden. So vermute ich zumindest, wir reden nicht besonders viel über Familie und solche Sachen. Eigentlich weiß ich ohnehin relativ wenig über ihn, das meiste sind mehr so Annahmen und Interpretationen von Eindrücken.

Momentan ist mein Eindruck, dass ich mächtig in den weichen Ledersitz eingedrückt werde, denn Ray beschleunigt den SL auf der langen Geraden zwischen Quellhövel und Mettrath, um mir mal zu zeigen, was das kleine Raubkätzchen noch so drauf hat.
„Ganz schön Schub, was Alter?“
„Drückt wie Sau.“
„Die Karre muss ab und an mal richtig durchgeorgelt werden, rät mir mein Mecánico, also im Grunde alle Karren, aber gerade der SL hat so ne Neigung, sich kaputtzustehen, weißt du.“
„Ja, kenn ich von mir. Ich hab so ne Neigung, mich kaputtzusitzen.“
Diese Sitze hier sind aber auch ultrabequem, hab nie auf softeren Sesselchen gesessen als auf diesen ledernen Karamelltoffees. Eigentlich dürfte ich mich da gar nicht draufsetzen, auf so gepolsterte Leichenteile, aber naja, wolln wir heute mal nicht so nachdenklich und tugendhaft sein. Vor Jahren hab ich Ray mal für ein paar Wochen vom Veganismus überzeugt, er hat es echt versucht, aber musste dann leider Gottes abbrechen. Netty meinte, er werde da nicht von satt, von diesen Sojaschnitzeln und Tofubratlingen. Er läge nachts im Bett und habe ein Loch im Bauch und stöhne ganz grässlich vor Hunger. Es ging nicht. Ich hab mich damals kaputtgelacht und noch in der gleichen Nacht einen Song geschrieben, eine Hiphopnummer mit dem Refrain „Da wirda nich von satt!“ Das Ding wollte ich eigentlich den Jungs von Fettes Brot oder Fünf Sterne Deluxe anbieten, aber irgendwas kam dazwischen.
„Hier Alter, Spruch für dein Philosophenbüchlein: Irgendwas kommt immer dazwischen.“
Da merke ich, wie er mich schon die ganze Zeit von der Seite mustert.
„Was ist? Guck auf die scheiß Straße, Ray, die Karre hat bestimmt keinen Spurhalteassistenten.“
Er lacht. „Mann, jetzt wo du’s sagst: du sitzt echt zu viel rum, hast n bisschen angesetzt, was? Bäuchlein und Bäckchen und so, ne? Nächstes Mal gehen wir Radfahren statt Cabriocruisen, würd ich vorschlagen …“
„Maul halten, Arschgesicht.“
Ich weiß selber, dass ich nicht in Form bin, braucht der Wichser mir nicht noch unter die Nase zu reiben. Warum ist der überhaupt so scheißschlank, kein Bauchansatz nirgends.
„Warum bist du Wichser eigentlich so scheißschlank?“
„Tja, kleiner dicker Jay, pass gut auf, ich sag’s dir: Ich frühstücke gut und ich esse ausgiebig zu Abend, und dazwischen esse ich nix.“
„Gar nichts?“
„Null. Nada. Niente. Nur Kaffee und Zigaretten.“
„Interessant. Hast du das aus so ner Frauenzeitschrift? Die Rauch-den-Bauch-weg-Diät, oder so?“
„Die drei Zigarettchen sind nicht das Entscheidende, die könnt ich auch weglassen. Außerdem ist das keine Diät, das ist einfach Gewohnheit, fast schon meine Natur, seit ich von zu Hause ausgezogen bin. Hatte einfach nie Lust, mir mittags was zu machen.“
„Hättest dir ja was holen können.“
„Hatte ich auch keine Lust zu.“
„Also hast du einfach mittags kein Hungergefühl, oder wie? Sonst hättest du ja den Drang, dir was zu machen oder zu holen. Dann bist du also einfach physiologisch irgendwie defekt. Oder besonders begabt, wie man’s nimmt. Weil, wenn ich das so machen wollen würde, hätte ich garantiert jeden Mittag Hunger, das würde nie zu ner Gewohnheit oder zur Natur. Ich müsste mich lebenslänglich von vormittags bis abends durchquälen.“
„Tja, so musst du dich jetzt damit quälen, von Jahr zu Jahr dicker zu werden und all die Zivilisationskrankheiten zu kriegen, die das Bauchfett dir bescheren wird. Jedes Jahr kommt ein Kilo und eine Krankheit dazu. Du kannst dich täglich ein bisschen quälen oder alles geballt auf den Lebensabend verschieben. Und dein Lebensabend hat schon begonnen, wie du siehst.“
Ich antworte nicht. Er hat dermaßen recht, dass mir kein blöder Spruch dazu einfällt. Er merkt an meinem Schweigen, dass er eine Wahrheit gefunden hat, die der gültigen Formulierung bedarf.
„Qual ist das Leben sowieso, aber du kannst die Qualen erträglich verteilen.“
Ich nicke. „Amen.“
Am Horizont taucht der schiefe Turm von Trapprath auf. „Wollen wir da hinten an der Kirche mal kurz anhalten?“, frag ich.
„Was gibt’s da?“
„Erstens ne schöne Kirche, zweitens nen Friedhof mit nem Klo. Die sauberste Toilette im Umkreis von fünfzig Kilometern. Und drittens ne Pommesbude.“
„Beten, pinkeln, fressen – was will man mehr …“

Und dann kommt einer jener Zufälle, den kein ernstzunehmender Erzähler seinen Lesern jemals vorzusetzen wagen würde, weil jeder sagen würde, das sei ja dermaßen ausgedacht und konstruiert, dass man das echt nicht bringen könne. Aber das Leben schert sich nun mal nicht um Leserkommentare.
Ich krame im Handschuhfach herum, einfach so, um mir die drei Minuten bis Trapprath zu verkürzen, und da fällt mir eine Cassette entgegen, ein Mixtape, das ich meinem reichen Freund Ray vor Ewigkeiten aufgenommen habe. „Blitz-in-da-Brain-Mix“ steht da in Edding gekritzelt drauf. Und in Klammern drunter: „Schön laut machen!!!“
„Hast du die je gehört?“, frag ich. „Oder liegt die da seit 25 Jahren jungfräulich drin?“
„Keine Ahnung, leg mal ein.“
Ich lege sie ein. Facet squared ist der erste Track.
„Geil. Tausend Jahre nicht gehört“, sagt Ray. „Wegen dem Song hab ich mir damals alle Fugazi-Platten geholt.“
„Echt?“, frage ich und versuche, meine Freude nicht allzu überschwänglich klingen zu lassen. Es gelingt mir so gut wie nie, irgendwen mit meinen musikalischen Begeisterungen anzustecken.
„Logisch echt“, sagt er entrüstet und fängt an zu singen: „Pride no longer has definition, everybody wears it, it always fits, a state invoked for lack of position ….“ Den Rest der Strophe grölt er mit Nonsens-Lyrics zu Ende und reckt die Faust dazu. Ich gröle stumm mit und spiele Luftschlagzeug.
Aber jetzt kommt’s: Wir erreichen die ersten Häuser des Dorfs, wir nähern uns der Bruchstein-Kirche aus dem 13. Jahrhundert. Am Ende des Songs grölt Ray die Zeilen: „We draw lines and stand behind them, that‘s why flags are such ugly things, yeah!“
Und der unglaubwürdige Zufall, von dem ich eben sprach, ist nun der, dass wir genau zu diesen letzten Worten vor der Kirche parken, und über dem Portal weht die uglyeste aller Flaggen.
„Ich kotz gleich“, sagt Ray, „müssen die heutzutage echt zwanghaft vor jeder Kirche so n Ding aufhängen? – Jay, jetzt im Ernst, ich frage dich, dich als Art Director: Gibt es eine hässlichere Flagge als diese bekackte Regenbogenfahne? Ich hab mal irgendwo gelesen, die Natur könne nicht kitschig sein, aber der Regenbogen ist nun wirklich ein völliger Fehlgriff, das schlechteste Design der Natur überhaupt, der Inbegriff des Kitsches. Jedem Grafikdesigner tun doch die Augen weh, wenn er so eine ohne Sinn und Verstand zusammengezwungene Farbkombination sehen muss, oder? Und neuerdings muss er sie ja vor jeder Kirche und jeder Firmenzentrale, auf jedem Reichstag und jeder Produktverpackung sehen.“
Wir bleiben im Wagen sitzen, im Schatten der alten Lindenbäume, und betrachten das entstellte Gotteshaus. „Komm, wir rauchen erstmal eine“, sagt Ray und klopft mir eine Kippe aus dem Softpack.
Es läutet zwölf, dann ist es still, ganz sommerstill und warm und friedlich. Nur Vogelgezwitscher und in der Ferne ein gelegentliches Schafsblöken. Um nicht einzudösen, sage ich: „Ich würde sagen, diese Flagge ist vor allem deshalb hässlich, weil sie ein dümmlich-totalitäres Projekt mit infantiler Chromatik bewirbt. Weil sie Toleranzterror und Exklusionsfuror im Gewande buntestmöglicher Bildsymbolik feiert, was nicht nur geschmacklos, sondern auch verlogen ist. Und weil sie Grenzen zieht, wo vorher keine waren. ‚We draw lines, stand behind them …‘“
„Du sagst es, Mann.“
Er raucht in drei Zügen seine Kippe weg. Dann schnaubt er: „Was zum Teufel wollen die denn eigentlich, diese Diversity-Gender-Toleranz-Arschgeigen? Gibt es Gesetze, in denen steht, dass sexuelle Normabweichungen unter Strafe stehen, werden Schwule auf Scheiterhaufen verbrannt, Transen in KZs gesperrt? Nichts dergleichen … diese queeren Vögel sind dauerpräsent in allen Medien, keine Gruppe ist derart überrepräsentiert.“ Er gestikuliert in Richtung der Flagge. „Ihr habt auf ganzer Linie gewonnen. Ihr könntet also jetzt einfach die Klappe halten und euch so unauffällig und zurückhaltend benehmen wie all die Heteros, die auch nicht ständig mit Heteroflaggen für die Rechte oder die Anbetungswürdigkeit ihrer Lebensform werben.“
Ich steige aus und deute auf die pittoreske, beinahe schon niedliche Leichenhalle auf dem benachbarten Friedhof: „Ich geh da mal kurz nen Regenbogen pinkeln. Kommst du mit?“
„Nee, muss nicht. Aber ich geh mal da rein und guck, ob die innen auch alles so bunt dekoriert haben …“
„Okay, ich komm dann da hin …“

Als ich drei Minuten später durch das gotische Portal und das Dunkel des Windfangs ins Halbdunkel des Vestibulums trete, steht mein reicher Freund Ray auf der sonnenbestrahlten Kanzel inmitten des Kirchenschiffs. Es ist eine sehr schöne Kanzel, sechseckiges Barock, reich mit Schnitzwerk und Blattgold geziert, Engel, Evangelisten und eine Heiliggeisttaube unterm Baldachin, verbunden durch ein Banner, das da sagt: „Rufe getrost und schone nicht, erhebe deine Stimme wie eine Posaune über meinem Volk!“
„Bist du bescheuert?“, rufe ich.
Pastor Ray grinst wie einer, der weiß, dass er genug Geld hat, um sich Anwälte leisten zu können, die ihn zur Not raushauen, falls er erwischt und wegen irgendwelcher Kirchenschändungsdelikte angeklagt wird. „Ich war noch nicht fertig mit meiner Philippika, noch lange nicht.“ Er breitet die Arme aus. „Höret mich an, meine bunten Schäfchen und Paradiesvögel! Widersagt dem farbenfrohen, einhörnigen Satan – ich predige euch den mausgrauen, langweiligen Normalo, der seinen Brüdern und Schwestern möglichst wenig auf den Sack geht!“
„Ach du Scheiße“, murmele ich und setze mich in die nächstbeste Bank.


(Fortsetzung folgt)


 

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© Marcus J. Ludwig 2022.
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