Als ein im Körper eines Deutschen gefangener Schweizer, der sich gerade nach und nach eigenhändig zum Europäer umoperiert, werfe ich gelegentlich einen noch etwas andereren Blick auf die Extremismen der Gegenwart als der sogenannte „Deutschlandversteher“ vom sogenannten Zürcher „Westfernsehen“. Spaß macht mir das auch nicht, aber irgendwer muss ja mal anfangen, eingehend darüber nachzudenken, ob die ganzen goldenen Freitagsreden irgendetwas bringen, außer dem einen oder anderen Börne-Preis. Falls Sie jetzt gerade überhaupt nicht verstehen, wovon hier die Rede ist – lesen Sie einfach weiter.
„Der andere Blick“ – so heißt ein Newsletter der NZZ, der allfreitäglich vom Chefredaktor des Blattes, Eric Gujer, mit klarsichtigen Meinungen befüllt wird, welche dann von Klarsichtbedürftigen wie beispielsweise mir unter bedächtigem Brötchenkauen und Kaffeeschlürfen erwogen werden. Als Schweiz-Fan und Zürich-Fan – zugegebenermaßen: als Fan eines weitgehend literarisch-imaginären Zürichs, denn infolge unseliger Schicksalsverquickungen war ich noch nie leibhaftig an den Gestaden der Limmat zugegen, und das, obwohl ein überproportionaler Anteil meiner „Fanpost“ dorther stammt, was vielleicht aber auch nur daher rührt, dass die Zürcher einfach mehr Zeit zum Schreiben haben als andere, denn so mir meine Erinnerung nicht gerade einen statistischen Streich spielt, besteht gut die Hälfte der Zürcher Einwohnerschaft aus Millionären, hab ich irgendwo mal so aufgeschnappt, und da man als derart Betuchter ja nun nicht den ganzen Tag nur in seinem Geldspeicherli rumsitzen und all die schönen Franken und Rappen liebkosen kann, greift man halt schon mal zu Gänsekiel und Pergament und schreibt eine in Theuerdank-Fraktur kalligrafierte Epistel an einen Literaten aus dem nördlichen Barbarenreich, den man instinktiv und sehr zu Recht als Verwandten, als geborenen Eidgenossen und Baur-au-Lac-Habitué empfindet – worauf wollte ich jetzt noch gleich hinaus … richtig: als ein bedauerlicherweise im Körper eines Deutschen gefangener Wahl- und Fundamental-Schweizer also lausche ich den Leviten aus meiner transrhenanischen Fantasy-Heimat stets mit Behagen und Gewinn. Die Lektüre so eines Gujer-Traktats erspart einem sehr oft das Lesen dutzender sonstiger Kommentare zum Zeitgeschehen, denn hier wird vieles von dem, was unser Leben gegenwärtig so schüderlig und zum us de Huut fahre macht, fachgerecht analysiert und vernunftbasierter Kritik unterzogen. Mehr als einmal ist es mir passiert, dass ich einen eigenen Text mitten im Schreiben abbrechen musste, abbrechen durfte, nachdem ich die Gedanken des wohlverdienten Börne-Preisträgers verfrühstückt hatte. „Eigentlich hat der die Sache ja so ziemlich auf den Punkt gebracht, was soll ich da jetzt nochmal alles in meinen Worten wiederkäuen?“, so fragte ich mich des Öfteren und verschob manch obsolet gewordenen Textanfang in meinen mittlerweile ins Schrankkofferhafte angewachsenen „Fragmente-und-Rudimente“-Ordner.
Mit dem vorliegenden Textanfang wird dergleichen sicherlich nicht passieren, denn er leitet ein paar Überlegungen ein, die denen des Herrn Gujer zur Abwechslung mal eher skeptisch bis kritisch begegnen, und ich hoffe einfach mal, dass er meine Einwände nicht durch zuvorkommende Selbstkritik überflüssig machen wird.
Was also habe ich zu kritisieren? – Nichts Spezielles, eher Prinzipielles. Aus Eric Gujers Texten spricht der gesunde Menschenverstand einer guten alten Zeit und einer zur Selbstverständlichkeit gereiften Demokratie. Man kann sich eigentlich gar nicht vorstellen, dass etwa das, was er zuletzt in seiner Stellungnahme zu den gesinnungspolizeilichen Umtrieben an deutschen Hochschulen schrieb *, von irgendeinem mitteleuropäisch-aufgeklärten Menschen irgendwie anders gesehen werden könnte. Es sind im Grunde lauter Trivialitäten, die man in einem freiheitlich fundierten Gemeinwesen gar nicht aussprechen muss. Wenn man es doch muss, dann ist es mit der Freiheit offenbar schlecht bestellt.
Gewalt über das Weltgefühl
Der „Deutschlandversteher“ (Focus) von der Falkenstraße schreibt ganz in meinem Sinne von der Schändlichkeit und Gefährlichkeit dessen, was hasenfüßige Universitätsrektorate an extremistischer Einflussnahme dulden oder sich gar zu eigen machen, er verweist auf die deutsche „Cancel Culture“ der 30er-Jahre, von der der Zeitzeuge Golo Mann in seiner Autobiographie berichtet, er sieht in dem ideologischen Gebräu an den Hochschulen einen Vorgeschmack dessen, was wir in Bälde schon in der Gesamtgesellschaft erwarten dürfen. Gujer mahnt und warnt und verteidigt die Freiheit. So weit, so gut. Wo ist das Problem?
Das Problem ist, dass diese Art des Mahnens und Warnens mir zunehmend ungeeignet scheint, die Freiheit zu verteidigen, und dass wer auf diese alte, zivil-schweizerische Art mahnt und warnt, die tatsächliche Gefahr dramatisch unterschätzt. „Es ist später, als du denkst“, lautet nach Gehlen das erste Geschichtsgesetz (keine Ahnung, wo der das herhat). Und ich glaube, heute ist es schon sehr viel später, als wir denken. Nicht nur, was die Freiheiten an unseren Universitäten angeht, sondern überhaupt was die verbleibende Restzeit zur Rettung Europas und des gesamten freien, aufgeklärten, abendländischen Menschentums angeht. Vielleicht bin ich zu oft in nichtrepräsentativen Städten unterwegs, aber verglichen mit meinen Jugendjahren hat sich die Quote der Kopftücher und Freibadschlägerfrisuren in den Fußgängerzonen des Okzidents schätzungsweise verfünfzigfacht. Um gelegentlich ein bisschen altes Europafeeling ohne orientalische Archaismen zu tanken, muss ich mittlerweile hunderte Kilometer reisen, nach Münster, nach Weimar, nach … nach … hm, mir fällt bestimmt noch was ein …
Ich glaube, Eric Gujer ist wohl ziemlich genau das, was man einen Liberalen nennt. Ich glaube, das bin ich in etwa auch, zumindest im Prinzip und unter idealen Umständen. Ich sortiere mich normalerweise nicht so gern irgendwo ein, auch nicht unter irgendwelchen Hochwertvokabeln, aber „Freiheit“, im pathetischsten Sinne des Wortes (also ganz sicher nicht im FDP-Sinne), das ist letztlich alles, worum es mir in politicis geht, und als Künstler geht es mir letztlich vor allem um die Freiheit von der elenden Politik. Aber die Zeiten sind gerade nicht danach, dass sich der Künstler freinehmen könnte von seinen Bürgerpflichten und das Politische einfach den genuin dafür zuständigen drei Gewalten überlassen könnte. Und das liegt vor allem daran, dass die sogenannte vierte Gewalt großräumig von Kräften gekapert worden ist, die mit echter Demokratie, mit europäischer Gesinnung, mit Pluralismus, mit Freiheit, mit Bürgerlichkeit (und Bürgerschaftlichkeit) rein gar nichts mehr am Hut haben, und alles, was sie unter diesen gloriosen Namen im Munde führen, ist nur mehr Gebrabbel und billige Karikatur.
Was sie „Demokratie“ nennen, ist in Wahrheit eine Ochlo-Oligarchie, die Herrschaft verpöbelter Eliten.
Was sie „Europa“ nennen, ist in Wahrheit EU-Bürokratie und hat mit einem abendländischen Kulturraum nicht das Geringste zu tun.
Was sie „Pluralismus“ nennen, ist eine einseitige, ideologisch engstens umgrenzte Diversity, die sich mit aggressivem Moralismus gegen skeptische Einwände von Seiten echter Freigeister, echter Vielfaltsverfechter zu immunisieren trachtet.
Was sie „Freiheit“ nennen, ist in Wahrheit Laissez-faire nach links (bei quasireligiöser Prohibition und Delegitimierung nach rechts), Hemmungslosigkeit in Sachen Hedonismus und Habsucht, entfesselter Pseudohumanismus und Globalismus, Verwahrlosung des öffentlichen Raums, Entpflichtung des Staates, Aufgabe von Recht und Ordnung, permanente Infragestellung traditioneller Bindungs- und Sinnstiftungszusammenhänge, Privatisierung von Risiken, Überflutung mit Konsum- und Lifestyle-Optionen, Auflösung verlässlicher, lebensentlastender Institutionen.
Und der „Bürger“ ist bereits weitgehend abgeschafft und durch den „Menschen“ ersetzt worden. Der Unterschied zwischen Bürgerrechten und Menschenrechten wird kaum noch verstanden, ihn einzufordern gilt als nationalistisch, rechtsextrem, menschenfeindlich.
Das könnte einem alles reichlich schnuppe sein, wenn die durchgeknallte vierte Gewalt nicht über nie dagewesene Möglichkeiten zur Massenbeeinflussung geböte, über all die reichweitenstarken, hochfrequenten Kanäle, über die sie heute nun mal de facto gebietet. Und wenn der nach Dauerberieselung und billiger „Orientierung“ süchtige Massenmedienkonsument das ganze ideologisch-fiktivistisch zurechtdesignte Storytelling nicht so willig in sein Weltgefühl einbauen würde.
Kann man unter solchen Umständen überhaupt noch ein Liberaler sein? Und wenn doch, wie viele NZZs muss man pro Tag dafür lesen?
Das Ende des Arguments
Das grundsätzliche Problem des Liberalen ist, dass sein léger-optimistisches Weltbild immer einen gesellschaftscharakterlichen Rahmen voraussetzt, einen systemischen Unterbau, in dem Freiheit von der großen Mehrheit auch wirklich gewünscht wird und mindestens von den Eliten auch praktiziert wird. Wenn die Eliten aber antiliberal gesonnen sind und es schaffen, dem Volk einzureden, die Freiheit müsse hier und da eingeschränkt werden zugunsten der Sicherheit und des Anstands und der Menschenrechte und der Demokratie und des sozialen Miteinanders; wenn sie es schaffen, dem Volk einzureden, die, die sich Liberale nennen, seien in Wahrheit Rechte und Rechtsextreme und Demokratiefeinde und dergleichen, dann kann der Liberale einpacken. Der Liberale ist darauf angewiesen, dass das Spielfeld intakt ist und dass die Spielregeln gelten.
Herr Gujer und ähnlich geartete Liberale, gleichviel ob eher progressiv-liberal oder liberal-konservativ, befinden sich in einem verhängnisvollen Irrtum. Sie scheinen zu glauben, dass wir noch in den seligen Zeiten des herrschaftsfreien Diskurses lebten, in einer Habermas-Öffentlichkeit, in der (idealerweise) das bessere Argument entscheidet, ganz egal, von wem es vorgebracht wird.
Sie reden so, als gäbe es noch die FAZ** von Joachim Fest und Frank Schirrmacher, den Suhrkamp Verlag von Siegfried Unseld, als gäbe es noch einen Öffentlich-Rechtlichen Rundfunk, eine ARD, wo Gertrud Höhler zum Baden-Badener Disput und Peter Voß zur Bühler Begegnung einlädt, wo Volker Panzer, Biolek, Sloterdijk und Safranski kulturdandyistische Unterhaltsamkeiten moderieren, wo Günter Gaus den lieben, verehrten Herrn Professor Golo Mann oder die gnädige Frau Hannah Arendt nach ihren Einschätzungen der Lage fragt, wo antipodische Gelehrte wie Adorno und Gehlen im Mittelwellen-Radio über Gott und die intellektuelle Welt parlieren.
Sie reden, als lebten wir in Zeiten, da gebildete Eliten noch untereinander den Lauf der Dinge verhandelten, sich argumentativ austauschten, sich zuweilen auch bis aufs (geistige) Blut bekämpften und bekriegten, aber jedenfalls miteinander redeten. Das heißt, die Spielregeln akzeptierten und den andern als Mitspieler und Gegenspieler respektierten und ernstnahmen.
Fernab gentlemännischer Diskursmanieren
Wir leben aber nicht mehr in solch glänzend-grauen Zeiten, in diesen altabendländischen Zeiten interessant nuancierter Zwischentöne. Die Spielregeln haben sich geändert, und die Machtverhältnisse haben sich geändert, und zwar derart, dass im Laufe der letzten Jahre Mächte ans Ruder gelangt sind, die fernab gentlemännischer Diskursmanieren und frei von intellektuellen Gewissensbissen jeden vom Spiel ausschließen wollen, der ein starkes Gegenargument oder einfach nur eine andere Sicht auf die Dinge vortragen könnte.
Oder für Leute, die für alles eine Fußballmetapher brauchen: Die TSG Freiheitsfeinde ist am Drücker, sie stehen mit 90 Mann gegen 10 auf dem Feld, und ein paar Klarheiten und Wahrheiten aus der eidgenössischen Kommentatoren-Kabine werden sie nicht zum freiwilligen Fairplay bewegen. Das Publikum im Stadion findet’s super, und von einem Schiedsrichterteam ist weit und breit nichts zu sehen.
Was tun? Das Schreiben sein lassen, und stattdessen in die Politik gehen oder irgendeine tat- und schlagkräftige Direct-Action-Gruppe gründen?
Ich habe nicht den Eindruck, dass irgendetwas, was in den sogenannten alternativen Medien – und zu denen muss man die NZZ heute ja wohl rechnen – gesagt und geschrieben wird, bei den Produzenten und den Rezipienten der Leit- und Mainstream-Medien auch nur ansatzweise ankommt. Beispiel Corona: Was in den letzten Wochen hier und da, z.B. im MDR, an kritischen Fragen und Einsichten zur Sprache gebracht wurde, war erkennbar völlig neu für alle, die sich da äußerten; man merkte in jedem Bericht, jedem Gespräch, dass niemand überhaupt mitbekommen hatte, was zweieinhalb Jahre lang auf der Achse des Guten, auf Multipolar, auf Servus TV etc. diskutiert worden ist, auch vermeintlich kritischere, rationalere Geister wie Hendrik Streeck oder Klaus Stöhr haben sich nicht mit Gunter Franks Berichten oder Christof Kuhbandners Untersuchungen oder Mattias Desmets Analysen befasst. Dergleichen ist offenbar nie in ihr Blickfeld getreten.
Die Alternativen reden nur zu sich selbst, die 10 Prozent bleiben kommunikativ unter sich, so wie die 90 Prozent unter sich bleiben. Mit dem Unterschied allerdings, dass die Alternativen den Mainstream wohl doch wesentlich genauer wahrnehmen und einigermaßen wissen, was dort von wem auf welche Weise besprochen wird. Der Mainstream aber interessiert sich einfach nicht für den Talk im Hangar und Corona-Bücher aus dem Westend-Verlag.
Sarrazin brutzelt mit Böhmi
Die alte Zeitung, das klassische Fernsehen, das Radio – sie können noch so oft totgesagt werden, vorerst sind es immer noch ein paar große Zeitungen und ein paar Sender, die die Leitmedien bilden. In denen entscheidet sich, was relevant ist. Sie sind nicht deshalb die Leitmedien, weil sie hohe Auflagen und hohe Einschaltquoten hätten, sondern weil jeder, der irgendwie wichtig ist, jeder, der Einfluss hat und Entscheidungen trifft und Meinungen multipliziert, kurz: jeder, der zur erweiterten Elite zählt, sich dort sein Bild zur aktuellen Lage abholt. Wenn beispielsweise ein Bundeskanzler auf offener Bühne seine komplette Untauglichkeit erweist, indem er einem Antisemiten die Hand schüttelt, und dieser Vorfall findet in den Hauptnachrichten kaum und in den Talkshows gar nicht statt, dann wird daraus – egal, was auf Twitter oder Tiktok oder Tichys Einblick los ist – eben kein Skandal und keine Staatskrise, und die Elite, zum Beispiel der Bürgermeister oder die Brigadegenerälin, der AWO-Bezirksleiter, die Weinkönigin oder der Museumsdirektor wissen, dass sie sich zurücklehnen können bzw. sich den wirklich wichtigen Dingen, also etwa dem neuen Gender-Leitfaden oder dem täglichen Kampf gegen rechts widmen können.
Eric Gujer kommt in seiner Zeitung vor, sonst nirgends. Das ist zu wenig, um ein derart dekadentes und destruktives System zu reformieren. Müsste ein Börne-Preisträger nicht überall ein gefragter Gesprächsteilnehmer sein? Bei Scobel, bei Precht, bei Lanz, in der Münchner Runde und bei Böhmi brutzelt? Ich sehe ihn so wenig im Fernsehen, wie ich andere gewichtige oder einfach nur interessante, geistreiche, provokante Publizisten, Gelehrte, Intellektuelle im Fernsehen sehe. Ich sehe nirgendwo außerhalb der „alternativen Medien“ Leute wie Hauke Ritz, Martin Lichtmesz, Jens Berger, Martin Wagener, Michael Klonovsky, Sandra Kostner, Ulrich Vosgerau, Ulrich Teusch, Torsten Hinz, Peter Hoeres, Milosz Matuschek, Lothar Fritze, Laila Mirzo, Egon Flaig, Heino Bosselmann, Heinz Theisen, Henryk Broder, Thilo Sarrazin.
Ich sehe sie natürlich deshalb nicht, weil sie als „Rechte“ gelabelt werden, schon klar. Aber ganz unabhängig davon, ob der eine oder die andere vielleicht wirklich politisch rechts steht – was sollte das für ein Ausschlusskriterium sein?
Ich komm mir total bescheuert vor, das jetzt wirklich auszusprechen, aber in einer Demokratie ist die rechte Position so legitim, ja, so notwendig wie die linke. Und eine Demokratie, eine Öffentlichkeit, ein Gemeinwesen, in dem die rechte Position systematisch ausgeschlossen wird, ist dem Untergang geweiht. Eine Demokratie ist eine kippelige Sache, ihre Beständigkeit, ihre „Seetüchtigkeit“ ist immer eine Frage der Balance. Wenn der Kahn nach links kippt, muss es irgendwen geben, der sich nach rechts lehnt, um für Ausgleich zu sorgen. Und den sollte man dann vielleicht besser nicht über Bord schubsen, mein ich. Es sei denn, man will halt kentern, man will den Kahn versenken, man hat seine autodestruktiven, suizidalen Triebkräfte nicht unter Kontrolle, dann raus mit dem rechten Gelichter und Steuer hart Backbord! Und unter jubelnden „Deutschland verrecke!“-Gesängen neigt sich der Nachen hinab ins wogende, schwärzlich gurgelnde Nichts.
Burkhard Müller-Ullrich löst Maischberger ab
Ich meine übrigens, vor Jahren mal mitbekommen zu haben, dass auf irgendeinem Podium doch tatsächlich Jakob Augstein und der leibhaftige Karlheinz Weißmann in Menschengestalt diskutiert haben sollen. Weiß nicht, welche obskure Organisation den Mut hatte, so ein Meeting auszurichten. Aber solange dergleichen im deutschen Fernsehen eine absolute Undenkbarkeit bleibt, gibt es offenbar ein systemisches Problem.
Solange im deutschen Fernsehen keine Gespräche zwischen … sagen wir: Caroline Sommerfeld und Juli Zeh stattfinden können, oder zwischen David Engels und Gerald Knaus, zwischen Michael Meyen und Anja Reschke, solange ein sachlich und neutral moderierter Disput zwischen Götz Kubitschek und Matthias Quent als ungeheuerlicher Tabubruch angesehen wird, und dem Zuschauer nicht zugetraut wird, sich ein eigenes Urteil darüber zu bilden, wessen Ansichten und wessen Auftreten ihn mehr überzeugen, solange besteht wenig Aussicht auf ein Leben in echter geistiger Freiheit und echter republikanischer Öffentlichkeit. Solange Susanne Dagen nicht ins Literarische Quartett geladen wird, Paul Schreyer nicht im Presseclub sitzt und Burkhard Müller-Ullrich keine Primetime-Talkshow im Ersten bekommt, solange besteht wenig Aussicht auf Rückkehr zu einem Klima der publizistischen Ausgewogenheit.
Und solange diese Sätze erwartbarerweise nur verständnisloses Kopfschütteln, gallige Heiterkeit und „Träum-weiter“-Sprüche auslösen, besteht keine Hoffnung auf Heilung, ich zumindest habe so gut wie gar keine Hoffnung mehr. Diese ganze medial derealisierte Parallelwelt, dieses ganze verstockte, ideologisch versumpfte System ist höchstwahrscheinlich nicht mehr reformierbar.
Mollis und Gendersternchen
Die antirechten Schutztruppen des Systems, all die zivilgesellschaftlichen Kräfte, die Dies-und–das-Beauftragten, die Einordnungs-Experten und NGO-Sprecher leiern immer gern das Narrativ runter, diese und jene kritischen Gruppierungen, Medien, Demonstranten, Kreise etc., die wollten „das System ändern“, die wollten „ein anderes System“. Und das soll dann suggerieren, sie wollten die Demokratie abschaffen und stattdessen … ja, was eigentlich … eine Diktatur, eine Monarchie, eine Dschamahirija, eine Kakistokratie, eine Philosophen- oder Anthroposophenherrschaft installieren? Ich weiß nicht, was solche Verschwörungsfantasten sich in ihren Bubbles zurechthalluzinieren, aber die Leute, die ich so unter den bösen „Systemfeinden“ und „Staatsdelegitimierern“ wahrnehme, die wollen in erster Linie echte Demokratie, so ungefähr nach Schweizer Vorbild. Und das änderungsbedürftige „System“, von dem hier und da (mutmaßlich eher unreflektiert) die Rede ist, ist jedenfalls nicht die Herrschaftsform „Demokratie“, sondern eher ein Gesamtgesellschafts-System, welches abgesehen von der Möglichkeit, an Wahlen teilzunehmen, keine Sicherungen und Instrumente bietet, um Fehlentwicklungen, Entgleisungen, Deformationen, Dysbalancen, Dysfunktionalitäten zuverlässig und wirkungsvoll zu korrigieren.
Unser derzeitiges System ist offenbar nicht dafür ausgelegt, selbstzerstörerischen Kräften Einhalt zu gebieten, sie zu detektieren und zu entenergetisieren. Unser einstmals extrem liberales System hat Extremismen groß und mächtig werden lassen, die niemand hat kommen sehen. Ich mein, wer hätte je mit Moralkriegern gerechnet, die statt mit Mollis und Pflastersteinen mit Gendersternchen um sich schmeißen … aber jetzt sind sie tatsächlich da, und zwar nicht als vermummte, verlauste Untergrundgestalten, sondern als hochglänzende Diskurshoheiten, als Herren über die Tages- und Talkshowthemen.
Kein Wellental in Sicht
Eric Gujer redet zu sich selbst und zu den wenigen, die sich ohnehin schon den anderen Blick angewöhnt haben. Glaubt er, dass ein einziger Mensch an einer deutschen Universität nach der Lektüre seines Textes – wenn denn ein einziger ihn überhaupt liest – mit sich zu Rate geht und die Sache dann anders sieht? Und dass er, falls er die Sache tatsächlich anders beblicken sollte, dann auch noch irgendwie seine Stimme erhebt, Aufsehen erregt in den Institutsgremien und sich in seiner akademischen Community unmöglich macht, etwa durch Verbreitung solch rechtsextremer Pamphlete aus dem Hause NZZ? (Überhaupt „NZZ“ – klingt das nicht für deutsche Antifanten-Ohren schon wie irgendeine besonders blonde und zackige Sondereinsatzgruppe der SS?)
Vor allem aber redet Gujer so – und darauf wollte ich eigentlich hinaus, bevor ich dem Laster der ungepflegten Abschweifung zu frönen anhob –, er redet so, als gäbe es irgendwo hinter den Redaktionen und den Verlagen, über den Instituten und Fakultäten, den Parlamenten, den Regierungen und Gerichten, über all den geistigen Körperschaften der alten Res Publica, wo gesittete Menschen vernünftig miteinander reden konnten, als gäbe es da irgendwo noch eine Instanz, bei der man sich beschweren könnte, bei der man seine guten Argumente vortragen könnte, auf dass dann eine Mahnung von ganz oben ausgesprochen werde und die unfairen gegnerischen Mitspieler zur Achtung der Regeln angehalten würden. Als gäbe es noch ein Volk, einen Souverän, einen Common Sense, eine große Vernunftgemeinschaft, die mit Worten erreichbar wäre, auf dass sie sich andere Eliten zu Führern und Waltern und Mittlern erköre.
„Es lohnt sich, wachsam zu bleiben“, „der Respekt vor der Geschichte sollte dazu führen, dass man Cancel-Culture als das bezeichnet, was sie ist“, „in Deutschland sollte sich das verbieten“ – solche Formulierungen sind an eine Gemeinschaft der Gesitteten und Vernunftwilligen gerichtet, die es nicht mehr gibt. Die kritisch-rational-freisinnige Bürgerschaft ist eine winzige Minderheit von ein paar Prozenten, ein paar mehr vermutlich auf der schweizerischen Insel der Seligen (oder der zumindest etwas Seligeren). Die übergroße Mehrheit folgt dem westlichen Kurs Richtung Selbstaufgabe, Selbstzerstörung, Selbstbestrafung, Selbstauslöschung.
„Das freie Denken und sein Gegenteil, Zensur und Dogmatismus, treten oft zusammen auf. Das ist die negative Dialektik des akademischen Fortschritts. […] Das Phänomen verläuft wellenförmig, nur die Inhalte wechseln“, schreibt Gujer.
Nein, das Phänomen verläuft nicht wellenförmig, würde ich dem entgegenhalten. Aber das ist letztlich eine Glaubens- und Prophetenfrage. Ich glaube, wer so denkt, wiegt sich und seine Leser leichtfertig in der Zuversicht, dass der Spuk in ein paar Jahren schon vorbei sein wird. Vorgestern waren es die Nazis, gestern die Neomarxisten, heute sind es die Genderisten, die Wokeisten, die Critical-Whiteness-Rassisten, die Coronisten, die Nationalmasochisten, die „Menschheits“-Propagandisten und Transhumanisten aller Couleur. Und zwischen den Wogen des Wahnwitzes breiten sich mit geschichtlicher Regelmäßigkeit Wellentäler voller Ruhe und Freiheit aus.
Nein. Ich glaube, diese Welle, die sich seit Jahren vor unseren Augen auftürmt, wird Europa hinwegfegen, wird das, was das liberale Europa wesensmäßig ausmacht, unwiederbringlich ausradieren. Mitsamt der schönen Schweiz.
Ich weiß nicht, was man dagegen tun kann. Aber ich weiß – spreche ich noch von Eric Gujer oder doch mehr zu mir selbst? –, nur anders blicken und schlau schreiben wird sicherlich nicht reichen.
** Gujer sieht zwar, dass die FAZ nicht mehr die von ehedem ist: „Auch die ‚Frankfurter Allgemeine Zeitung‘ scheint in dieses Lager übergelaufen zu sein. Sie spöttelt über ‚Kampagnenmedien der Anti-Cancel-Kultur‘“. Aber er sieht es offenbar erst jetzt (oder tut wahrscheinlich nur so) und setzt sich verwundert zur Wehr: „Die politische Auseinandersetzung mit Extremisten ist […] das Gegenteil einer Kampagne, sie ist leidenschaftliches Engagement für Freiheit und Demokratie.“ Eben so, als wäre man bei der taz-FAZ noch interessiert an Argumenten von Leuten, die auf Wikipedia folgendermaßen „eingeordnet“ werden: „Seit der Ernennung von Eric Gujer als Chefredakteur […] attestieren verschiedene Medien und Medienforscher der NZZ eine ‚rechtskonservative‘ oder ‚rechte‘ Meinung bis hin zu Positionen der rechtspopulistischen, in weiten Teilen rechtsextremen Alternative für Deutschland (AfD). Nach Caroline Schmidt (NDR) habe Gujer die Zeitung ‚um typisch rechtskonservative Themen und Meinungen erweitert‘. […] Die NZZ erfreut sich […] steigender Sympathie in der politischen Rechten in Deutschland.“
Wenn Ihnen dieser Text gefällt oder sonstwie lesenswert und diskussionswürdig erscheint, können Sie ihn gern online teilen und verbreiten. Wenn Sie möchten, dass dieser Blog als kostenloses und werbefreies Angebot weiter existiert, dann empfehlen Sie die Seite weiter. Und gönnen Sie sich hin und wieder ein Buch aus dem Hause Flügel und Pranke.
© Marcus J. Ludwig 2022
Alle Rechte vorbehalten