Die Moschee im Dorf meiner Mutter

Aufwärmübungen zu einem Buchprojekt über die Nation und die Bürgerschaft   

 

Der letzte Ort in Deutschland, an dem ich ein islamisches Gotteshaus erwartet hätte, dürfte das sauerländische Dorf sein, in dem meine Mutter 1932 zur Welt kam und in dem der idyllischere Teil meiner Kindheitserinnerungen spielt. Fachwerk, Schiefer, Bruchstein, 100% CDU, 200% Katholiken, 365 Tage im Jahr Schützenfest oder Fronleichnamsprozession oder Mariä-Empfängnis-Andacht – so etwa hatte ich dieses Mittelgebirgskaff zwischen Kircholpe und Greventrop im Gedächtnis. Keine Kurta, keine Burka, kein Muezzin weit und breit, nicht mal ein Gemüsetürke. Ewiges Abendland. Aber nun steht es da, das „Haus der Niederwerfung“, direkt neben der Sankt-Athaumasiuskirche, in der die kleine Bergmannstochter getauft und gefirmt wurde, in der sie die Erstkommunion feierte und mit zittrig piepsender Stimme ihre Jungmädchensünden beichtete. Es steht da mit klassischem Kuppeldach und Minarett und allem Pipapo, es ist nicht ganz so hoch, aber insgesamt etwa so voluminös wie das Haus dieses anderen einen Gottes, der hier jahrhundertelang das Sagen hatte, und auch ohne akribische Vor-Ort-Recherche bin ich einigermaßen sicher, dass die weißstrahlende Ditib-Repräsentanz wesentlich mehr Traffic verzeichnet als das olle Christengemäuer, in dem sich Sonntags um 11 ein paar plattdeutsche Großmütterchen in Mephistoschuhen und ein paar blasse Jünglinge aus dem Club der Ungebumsten versammeln.

Auf Fotos vom Innern der Moschee sehe ich hunderte von Männern kniend ihre Gebete verrichten, sie sehen nicht aus wie Dschihadisten, sie sehen zumeist fremdländisch, aber zivilisiert aus, mutmaßlich wird keiner von denen nach dem Freitagsritus mit der Machete durchs Dorf rennen, um meine dort noch lebenden Verwandten abzuschlachten. Welchen guten Grund also hätte ich, über diese Leute und dieses Gebäude in Verzweiflung zu geraten? Dürfen Sentimentalität und soziobiologisch bedingte Xenophobie Vorrang haben vor verbriefter Religionsfreiheit und „Weltoffenheit“? Habe ich als Auswärtiger, aber durch Abstammung und Tradition an diesen Ort Gebundener mehr Anrecht auf dieses Territorium als ein muslimischer Gastarbeitersohn, der dort geboren ist? Darf der seiner Tochter ein Kopftuch vorschreiben, darf er der örtlichen Schulleiterin den Handschlag verweigern, darf er Erdogan wählen, neben dem Dorfkrug eine Shishabar eröffnen und seine Söhne im Geist seiner Väter zu mohammedanischen Ehrenmännern erziehen? Und darf ich in Gedanken, Worten und Werken danach trachten, dass er entweder dieses ganze Verhalten, diesen ganzen Habitus, diese ganze unwestfälische Fremdartigkeit ablegt und sich assimiliert, oder aber in seine eigentliche Heimat zurückgeht, also remigriert?


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Ich habe zu dem Dorf meiner Mutter kaum mehr vitale Beziehungen, ich lebe woanders, und da, wo ich lebe, bin ich von Moscheen, Minaretten, architektonischen Dominanzansprüchen weitgehend unbehelligt. Die muslimischen Versammlungsstätten verteilen sich bislang einigermaßen unauffällig im Stadtgebiet, es dominieren immer noch eindeutig die christlichen Kirchen. Auffälliger sind da schon die ethnotypologischen Verschiebungen im Straßenbild. Die Statistiken stützen die Diagnose, dass orientalische Migranten bereits die gefühlte Mehrheit stellen, zwar nicht, aber in den Fußgängerzonen der City und der meisten Stadtteile erhält man per Augenschein und gelegentlichem Durchzählen genau diesen Eindruck. Wahrscheinlich deshalb, weil die Biodeutschen tendenziell älter sind und im Haus  oder im Schrebergarten herumhocken, während die vitaleren Jungmigranten rausgehen und den öffentlichen Raum unbekümmert in Anspruch nehmen.

Im Sommer treibt es auch die Deutschen vor die Tür, dann stellt sich unten am Fluss und rund um den Stausee ein vielsagend-zukunftsweisendes Szenarium ein: Rentner auf E-Bikes rollen wie verdrießliche Safari-Touristen durch Wiesen voller grillender Großfamilien und partylauniger Gruppen von Jungmännern im wehrfähigen Alter. Der letzten Generation von Günters und Gudruns dämmert, wer sie in Kürze beerben wird. Die Jungs mit den Freibadschlägerfrisuren haben außer ihren JBL-Boomboxen meist ein paar deutsche Mädels dabei, die mit den autochthonen Kartoffelbübchen längst nichts mehr anfangen können, geduldet werden allenfalls einzelne indigene Burschen, die es vermocht haben, sich in Sprache und Habitus einigermaßen dem dominanten Typus anzunähern. Klare Verhältnisse. Es riecht nach bedenkenloser Heteronormativität, Maillard-Reaktion und gesunder Sommerbarbarei. Die Rentner fahren mit Denkblasen voller Mollakkorde über ihren Helmen durch diese lang verleugnete Demographie hindurch und kriegen Depressionen.

Und man gönnt ihnen ihre Depressionen und ihre schlaflosen Nächte, man gönnt ihnen die aufsteigende Scham über ihre Lebensverlogenheit, die nagenden Fragen, wie sie so blöd sein konnten, wieder und immer wieder Merkel und ihresgleichen zu wählen und zu glauben, die würden den menschengemachten Bevölkerungswandel [1] schon in den Griff kriegen wollen und alles zum Guten regeln. Oh ja, man gönnt ihnen jede Gewissensqual, jede Zerknirschung. Mögen sie lange genug auf deutscher Erde weilen, um noch das Kalifat und die Scharia zu erleben, und mögen sie einst dahinscheiden unter den Flüchen des abendländischen Widerstands.


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Für meine heimatkundliche Privatsammlung durchstöberte ich kürzlich die DPW nach alten Fotos meiner Stadt und fand in Archiven und Flickr-Projekten allerlei Material aus den 70ern, 80ern und 90ern. Neben den zu erwartenden Auffälligkeiten – andere Klamotten, Frisuren, Geschäfte, geilere Autos, vor allem weniger Autos – stach vor allem der Umstand ins Auge, dass so gut wie keine Orientalen zugegen waren. Ich weiß, dass man auch damals schon hin und wieder eine Türkin mit Kopftuch antreffen konnte, aber offenbar doch so selten, dass auf hunderten von alten Aufnahmen nur eine einzige auftaucht, anlässlich der Eröffnung eines neuen Einkaufszentrums. Vielleicht haben die rassistischen Archivare die uneuropäischen Ausländer auch rausretuschiert, kann natürlich sein.

Der fotografische Befund passt jedenfalls gut zu meiner Erinnerung, denn in meiner gesamten Kindheit und Jugend gab es exakt drei Türken. Keinen einzigen Araber, keine Afghanen, keine Afrikaner. Einen iranischen Arzt gab es noch. Ich glaube, man sagte damals nicht Iraner, sondern Perser.

Meine ersten zwei Türken spielten mit mir im Fußballverein. Sie waren in gewisser Weise besser integriert als ich, weil sie halt besser Fußball spielten, nur wenn sie schlecht spielten, wurden sie von einem semmelblonden, total hysterischen Mittelfeldgenie ausgiebig als „Scheißtürken“ beschimpft, was außer mir keiner als sonderlich anstößig zu empfinden schien, auch Murat und Onur selbst nicht. Sie entgegneten irgendwas, „halt die Fresse, Heulsuse“ oder so, der Trainer sagte: „komm, Robbie, jetzt reiß dich mal zusammen“, und dann spielte man weiter.

War der Hysteriker ein Rassist? Glaub ich eigentlich nicht. Er griff sich halt in seinem Furor das hervorstechendste Merkmal des zu dissenden Gegenübers heraus, um daran seine maximale Respektlosigkeit aufzuhängen. Wäre Murat auf irgendeine andere Weise anders gewesen, hätte der arische Wüterich ihn halt als „Scheißbrillenschlange“, „Scheißspaghetti“, „Scheißschlitzauge“, „Scheißschwuchtel“, „Scheißspasti“, „Scheißirgendwas“ beschimpft. So oder so war der Typ natürlich ein Arschloch, oder in seiner Sprache: ein „Scheißarschloch“. Aber ob man ihn unbedingt in ein Antirassismus-Programm hätte stecken oder beim Haldenwang hätte melden müssen … ich weiß nicht.

Der dritte Türke kam ungefähr in der elften Klasse in unsere Stufe. Wir dachten erst, der sei ein Referendar. Halil sah aus wie 28, sprach kaum Deutsch, aber irgendwie kriegte er am Ende das Abiturzeugnis. Dass er keinen Kontakt zu irgendwem fand, lag definitiv nicht an uns. Herrenmenschen und Realschüler wie das blonde Fußballgenie gab es an unserm Gymnasium nicht, wir waren alle aufgeschlossen und sanft wie die Lämmer. Vielleicht hielt Halil uns einfach für „Scheißdeutsche“ oder „Scheißungläubige“, oder er war krankhaft gehemmt oder irgendwie autistisch, oder irgendeine sonstige psychokulturelle Barriere stand zwischen uns.

Jedenfalls habe ich persönlich nie eine Erfahrung gemacht, die mich zu irgendeiner Art von Fremdenfeindlichkeit hätte veranlassen können. Mir fällt höchstens ein, dass der persische Unfallchirurg mir damals wegen eines Kahnbeinbruchs für zwölf Wochen den Arm eingipste, und ein deutscher Arzt später dann meinte, sechs Wochen hätten’s nach aktueller Leitlinie aber auch getan. Nein, so nachtragend bin ich nicht, dass ich wegen der sechs zusätzlichen Wochen quälenden Juckreizes generalisierte Vorbehalte gegen Menschen aus dem Morgenland pflöge.

Meine Vorbehalte, meine Sorgen, meine mir selbst mittlerweile unsympathischen Aversionen speisen sich aus der schieren Masse an Fremdartigkeit, die sich in meiner Lebenswelt akkumuliert hat in den letzten Jahren. Mein Lebensraum ist bis zum Anschlag überfremdet. Jede Stadt, jedes Städtchen innerhalb meines Alltagsradius‘ ist voll von Leuten, die erkennbar keine Deutschen, keine Europäer (und erst recht keine Westfalen) sein wollen. Wollten sie es, so würden sie ihre Parallelidentitäten aufgeben, würden ihre Kopftücher ablegen, würden die Landessprache sprechen, würden nicht in Gruppen, aus denen es „wallah“, „yallah“, „inschallah“ tönt, durch die Einkaufsmeilen paradieren, würden sich vielmehr der angestammten Bevölkerung anverwandeln und ihren Kindern landesübliche oder wenigstens kulturraumübliche Namen geben. Sie müssen sie ja nicht gleich Günter und Gudrun nennen, irgendwas Europäisches würde ja schon reichen. Wie wär’s mit Guillaume oder Agnetha? Daryl, Dolly, Dwayne, Dornröschen … es gäbe doch so viel Auswahl.


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Auf einen Vorschlag wie den von Martin Sellner habe ich lange gewartet. Sein Buch „Remigration“ darf man getrost als visionär bezeichnen. [2]
Ich halte mich durchaus für einen … nicht tabulosen, aber tabuarmen Diagonaldenker – das Wort „Freigeist“ klingt mir irgendwie zu sehr nach Reformhaus und Liegerad –, aber bei dieser ganzen unbehaglichen Frage, wie man die Verheerungen der verfehlten Migrationspolitik der letzten Jahre rückgängig machen könnte, bemerke ich auch bei mir gewisse Hemmungen. Man mag sich bestimmte Szenarien in der Praxis nur ungern ausmalen, aber die gegenwärtige Realität – und die unschwer vorzunehmende Modellierung der näheren Zukunft – zwingt uns zum Ausmalen. Ich habe mich in meinem bisherigen Denken nur zu skizzieren getraut, Sellner aber malt endlich mal unerschrocken aus. [3] Und auf der Grundlage des entstandenen Bildes lässt sich dankenswerterweise endlich mal ganz konkret diskutieren. Man muss allerdings annehmen, dass der Multikultimainstream jenseits der Brandmauer dem „Rechtsextremisten“ Sellner weder danken noch seine Positionen diskutieren wird.

Abgesehen von den phobischen Reflexen, vom Bekenntniszwang gegen das personifizierte Böse – ein Zwang, von dem sich leider auch etwas rationalere, semi-nonkonformistische Medien wie die NZZ nicht zu lösen vermögen –, abgesehen also davon, dass Akteure außerhalb der rechten Bubble ohnehin nichts an diesem teuflischen Buch werden ernstnehmen können und frei von moralischer Panik zur Erwägung werden zulassen können, gibt es eine tatsächlich klärungsbedürftige Vorannahme, die Sellner gar nicht mehr groß diskutiert, weil die Sache für ihn und sein Milieu sonnenklar ist; eine Annahme, die man jedoch Lesern, die vielleicht prinzipiell aufgeschlossen, aber medial verbildet und intellektuell blockiert sind (was auf nahezu alle Leute zutrifft, die ich persönlich kenne), erst einmal begreiflich machen müsste. Es geht um …


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Danke! – und weiter im Text …

 

… es geht also um den Unterschied zwischen nationaler Zugehörigkeit und Staatsbürgerschaft. Es geht um die Frage, wer Deutscher ist. Wer zur Rechtsgemeinschaft und wer zur Abstammungs- und Kulturgemeinschaft gehört. Wer Mitglied im Club ist und wer Angehöriger der Familie ist.
Wenn Sellner zum Beispiel schreibt: „Da der Migrationshintergrund […] offiziell nach spätestens zwei Generationen nicht mehr erfasst wird, haben wir bereits die demoskopische Übersicht verloren“ [4], dann werden die Blockierten sagen: „Na selbstverständlich werden die nicht mehr als Migranten erfasst, weil sie ja schon seit Jahrzehnten in Deutschland sind und den deutschen Pass haben. Weil sie Deutsche sind.“

Das Problem des „realistischen Volksbegriffs“ wird kurz gestreift, aber nicht groß erörtert. Im Kampf um Bedeutung und Gebrauch der Begriffe Volk, Staat, Nation, Bürgerschaft, Ethnos, Demos, Bevölkerung, Landsleute etc. wird sich jedoch meines Erachtens entscheiden, ob die Migrationsfrage und also das Überfremdungsproblem praktisch gelöst werden wird oder nicht.
Das semantische Schlachtfeld ist riesig und unübersichtlich. Zum Volks- bzw. Nations-Begriff liegen diverse dicke und kluge Bücher vor, ich selber werde in absehbarer Zeit ein (hoffentlich nur mäßig dickes) Buch dazulegen (wie klug es wird, weiß ich noch nicht). Soviel vorab:

Der aktuelle Kulturkampf ist in der Tat vornehmlich ein Kampf um Begriffe. [5] Alle politisch-semantischen Kampfgruppen wollen ihre Begriffsbedeutungen durchsetzen, wollen unter den jeweiligen Vokabeln etwas anderes verstanden wissen und dem Gemüt der Masse ihre Definitionen samt den begleitenden Konnotationen aufprägen. Es ist eine reine Machtfrage, eine Frage der medialen Reichweite und Präsenz, ob der Normalbürger das Wort „Volk“ mit völkischem Denken und Ariernachweis verbindet oder aber mit echter Demokratie und Selbstbestimmung. Selbstbestimmung über das Eigene, über die Heimat, die gewachsene Lebenswelt.

Das Zerren an den Begriffen, das ewige Zuschreiben und Interpretieren und Unterstellen dessen, was einer sagt und was er eigentlich, in Wahrheit, heimlich, hinter verschlossen Türen meint, ist – mal abgesehen davon, dass es Politikern und Medienleuten meist nicht um Wahrheit, sondern um Hoheit geht – sprachidealistische Energieverschwendung, solange man nicht zu den Realitäten vordringt: zu Daten und Fakten, zum Gegebenen und zum Gemachten.
Das Entscheidende, das Überzeugende und Unbezweifelbare ist das Gegebene. (Jedenfalls müsste es das unter rationalen Erkenntnisinteressenten sein.) Das Datum rangiert auf einem höheren Realitätsniveau als das Faktum. Das Faktum, die Tat-Sache, kann etwas real Vorhandenes sein, es kann aber auch etwas bloß Vorgestelltes sein.

Der Staat ist eine Tatsache. Gibt es den Staat? Nein. Gibt es eine Bürgerschaft? Nein. Es sind reine Als-ob-Konstruktionen. Nützliche Fiktionen letztlich. Sobald man nicht mehr an sie glaubt, existieren sie nicht mehr.
Was wirklich existiert – nicht als Faktum, nicht als Fiktion, sondern als Gegebenheit –, das ist die Nation. Lateinisch „natio“, bedeutet „Geburt“, genauer: „das Geborenwerden“, abgeleitet vom Verb „nasci“, von welchem übrigens auch „natum“ abgeleitet ist, welches in der Umbildung „natura“ wiederum nichts anderes als „Geburt, natürliche Beschaffenheit, Schöpfung“ bedeutet.

Die Nation ist also kein Staatsgebilde, sondern eine „Geburtsgemeinschaft“. Das Reale an ihr ist die Abstammung, die Genealogie, die biologische Tradition genetisch verflochtener Säugetierkörper, die Kontinuität belebter Materie. Eine Realität, die so unabhängig ist von Glauben oder Nichtglauben wie jeder Heringsschwarm, jede Bonobohorde und jeder Tannenwald. Fortpflanzung, Verwandtschaft, Abstammung. Echte Substanzen, echte Elementarteilchen, kein soziales Konstrukt. Natur.

Die Gemeinschaft ist auch real, aber auf einem geringen Notwendigkeitslevel, sozusagen. Die Gemeinschaft ist ein Typus, und der Typus ist ein vor allem in seinen Randbereichen unscharfes Gebilde, eine Gegebenheit, die für Interpretationen teilweise offen ist. Und wo interpretiert wird, entstehen Probleme.

Wir sind gewohnt, die Nation als etwas lediglich Behauptetes zu denken, eine ideologische Konstruktion, einen narrativen Überbau, der Identität stiften soll, aber eigentlich längst zu den Akten, besser noch zu den Märchen des 19. Jahrhunderts gelegt werden sollte.

Es ist jedoch diese Denkgewohnheit, die selbst dem Reich der Ideologie entspringt, demselben zivilisierten Zauberreich, in dem es möglich sein soll, per Sprechakt und Stempel biologische Wesen, homines sapientes, zu verwandeln – einen Mann zu einer Frau, einen Mauretanier in einen Deutschen, einen Normalsterblichen in einen gottbegnadeten König. Solche Fiktionen funktionieren, solange Leute an sie glauben. An Nationen muss man nicht glauben, sie sind da, in echt, ganz ohne Transsubstantiation und sakramentale Magie.

Man kann theoretisch die verwandtschaftlichen Verhältnisse aller Menschen, die jemals auf Erden gelebt haben, nachvollziehen, die Verwandtschaftsgrade und -intensitäten exakt berechnen und einen „Stammbaum“ – eher wohl ein genealogisches Gestrüpp – zeichnen, in dem jeder Homo sapiens seinen genau definierten Platz hat und alle seine biologischen Beziehungen dargestellt sind. Dass die praktische Umsetzung nicht möglich ist, ist lediglich ein Einwand von Spielverderbern, es handelt sich gleichwohl um eine unbezweifelbar wahre theoretische Aussage über die Wirklichkeit organischen Lebens. (Dieses vollständige Verwandtschaftsschaubild könnte sogar ausgedehnt werden auf Vorformen des Menschlichen, im Grunde bis hinab zur Banane und zur Amöbe. [6])

Was sähen wir auf einer solchen Ahnentafel der Menschheit? Wir sähen Bereiche, in denen sich die netzartige Struktur verdichtet, und zwar infolge der gehäuften und verdickten Verbindungslinien, welche die Intensität der genealogischen Beziehungen repräsentieren. Wir würden ein Phänomen bemerken, welches in der Genealogie als Ahnenschwund oder Ahnengleichheit bezeichnet wird, noch treffender als Ahnenimplex, also Verflechtung. Gemeint ist die Abweichung der theoretischen Ahnenzahl eines Menschen von der tatsächlichen und die damit logisch einhergehende innere Verwandtschaft von Großgruppen, deren Paarungs- und Fortpflanzungsverhalten durch Endogamie, also Heirat „nach innen“ charakterisiert ist.

Die kurze Erklärung des Sachverhalts geht so:
Jedes Individuum hat 2 Eltern, 4 Großeltern, 8 Urgroßeltern usf. In der elften Generation sind wir rechnerisch bei 1024, in der einundzwanzigsten Generation – also etwa um das Jahr 1500 – bei etwa 1 Mio. Vorfahren. Im Jahr 1000 kämen wir auf 1 Milliarde. Pro Person, wie gesagt. Wenn aber jeder heute lebende Deutsche im Jahr 1000 1 Milliarde Urururur…großeltern hätte, müssten zu diesem Zeitpunkt über 80 Billiarden Menschen in Deutschland gelebt haben, für den gesamten Planeten wären es 8 Trillionen. Kann irgendwie nicht sein. Die letztlich sehr leichte Lösung dieses rätselhaften Phänomens lautet: Die heutigen Menschen – ebenso wie die damaligen Menschen – haben sehr viele Ahnen gemeinsam, oder andersherum betrachtet: Jeder Einzelne hat in seiner Ahnentafel viele Individuen mehrfach, also über mehrere Abstammungslinien, als Ahnen. Bei Adligen und Herrschern, deren genealogische Verhältnisse weitgehend dokumentiert sind, lässt sich dies empirisch nachvollziehen. Bei Kaiser Karl V. findet man statt der zu erwartenden 4096 Ahnen in der 13. Generation nur 1609 reale Vorfahren. Bei König Alfons XIII. von Spanien sind es statt 1024 in der 11. Generation tatsächlich nur 111.

Das bedeutet: Man bleibt über die Generationen heiratstechnisch unter sich. Das gilt nicht nur für Kaiser und Könige, sondern für die gemeine Landbevölkerung ebenfalls, oder sogar erst recht. Wobei dieses „Unter sich“ im Falle des Adels bekanntermaßen ziemlich international zusammengesetzt ist, was durchaus den Alltagsbefund erhärtet, dass Adel, Eliten, obere Gesellschaftsschichten vom einfachen Volk abgekoppelt sind, ihre Endogamie spielt sich innerhalb eines eigenen „Völkchens“ von europäischen Wohlgeborenen ab, während der Heiratsradius der normalsterblichen Land- und Stadtbevölkerung immer sehr klein war und trotz aller modernen Mobilität weiterhin klein bleibt. Man sehe sich diesbezüglich bitte einmal im eigenen Bekannten- und Verwandtenkreis um. Also, wenn ich mich umsehe, stelle ich fest: Erstaunlich viele, eigentlich fast alle Paare, die ich kenne, sind in einer Entfernung von weniger als fünf Kilometern voneinander geboren und aufgewachsen. Der lokale Lebensraum kann nach wie vor als die Hauptzone der Endogamie betrachtet werden, weshalb es auch erkennbare stadttypische Physiognomien gibt. Diejenigen Individuen oder Paare, die aus ihrer Geburtsumgebung fortziehen, in die Nachbarstadt, ins Umland, in entferntere Regionen Deutschlands oder aber ins Ausland, sorgen entweder selbst oder in der Generation ihrer Kinder per Exogamie, also Heirat außerhalb des bisherigen Abstammungszusammenhangs, für jene Verflechtungen, die aus lauter lokalen Verflechtungen die größere, also regionale und nationale Verflochtenheit perpetuieren. Bedeutender allerdings als das, was heute passiert, ist für unsere Frage das, was vor Jahrhunderten und Jahrtausenden auf dem Heiratsmarkt geschah und was daher als grundlegendes genetisches Erbe in den ethnischen (also stammesmäßigen) und nationalen Kontexten sich in evolutionsrelevanten Maßen reproduziert und schließlich zu Typen verdichtet hat.

Ich will hier nicht zu sehr ins Detail gehen, das Thema ist wahrlich komplex und soll daher, wie gesagt, demnächst in Buchform behandelt werden. Klar sollte aber sein: Relative Endogamie und Ahnenimplex haben Auswirkungen. Es gibt genetische, mit mathematischer Präzision benennbare Abstammungsverhältnisse, und zwar bis zurück in die Phase der Ethnogenese. Deutsche Menschen und französische Menschen, deutsche Menschen und griechische Menschen, deutsche Menschen und türkische Menschen, deutsche Menschen und japanische Menschen kommen aus verschiedenen genealogischen Kontexten. Im Falle Japans haben wir es mit vollständig geschiedenen Ursprüngen zu tun, mit Jahrtausenden separater Entwicklung, im Falle Frankreichs gibt es vielfältige Verflechtungen, logischerweise gerade in den Grenzregionen, und doch ist die Verschiedenheit infolge galloromanischer und germanischer Ursprünge eine nach wie vor erkennbare Tatsache. Jedenfalls für ideologisch unverblendete Beobachter der Realität.

Was folgt daraus für die Streitfrage Nation oder Staatsbürgerschaft? Die durch Endogamie und Ahnenimplex entstehende Verdichtung, also der höhere Grad an Großgruppenverwandtschaft, bildet einen genealogischen, letztlich „biostatistischen“ Typus ab, und dieser Typus heißt Nation. Mitglieder derselben nationalen Gemeinschaft sind häufiger, länger und intensiver miteinander verwandt als Mitglieder unterschiedlicher nationaler Gemeinschaften. Ein Deutscher hat mehr gemeinsame Ahnen mit einer Deutschen als mit einer Japanerin. Markus Lanz hat mehr gemeinsame Ahnen mit Richard David Precht als mit Eros Ramazotti. Der Südtiroler Lanz ist als „Pass-Italiener“ geboren, aber natürlich ist er ein ethnischer Deutscher.

Die (unscharfen) Grenzen der Nation sind nicht identisch mit den Staatsgrenzen. Im idealen Nationalstaat wären sie es. Nation und Nationalstaat zur Deckung zu bringen, ist das politische Anliegen von Nationalisten. [7] Es ist nicht mein Anliegen, von mir aus können Südtirol und Österreich bleiben, was und wo sie sind. Mir geht es nur um das Anerkennen von Realitäten und um das Aussprechen von Wahrheiten: Es gibt Angehörige der deutschen Nation, und es gibt Staatsbürger, Besitzer des deutschen Passes. Diese Gruppen sind nicht deckungsgleich. Die Pass-Deutschen sind dessen ungeachtet nicht „Deutsche zweiter Klasse“. Es geht nicht um Rangordnungen und Rechtsstellungen. Es geht um Fiktion und Realität. Und wie wir immer häufiger feststellen, können Fiktionen weitaus wirkmächtiger sein als reale Gegebenheiten. Wir leben im Zeitalter des Fiktionalismus. Was erträglich wäre, wenn es sich denn um nützliche Fiktionen handelte. Die Fiktionen aber, die die Machtelite uns andrehen will, sind lebensfeindlich, schlecht zurechtgestümpert, in sich verlogen.

Ach, wenn sie doch wenigstens besser lügen würden. Oder wenn sie doch einfach die Wahrheit sagen würden: „Wir wollen die Nation abschaffen und ein Kollektiv sein, das auf einer Fiktion gründet. Wir sind nicht so die Familienmenschen, uns interessieren keine Ahnentafeln, wir wollen eine bloße Wertegemeinschaft sein, und ob die dann Deutschland heißt oder Wokitopia oder Multikultistan ist uns im Grunde völlig latte.“ Sagen sie aber nicht. Sie sagen: „Wer Nation und Volk sagt, ist ein völkischer Nationalist, wer Ethnopluralismus sagt, ist ein Rassist, und wer irgendwas sagt, was uns nicht passt, ist ein Rechtsextremist. Und wer behauptet, dass wir so was sagen, der ist ein Delegitimierer und Hetzer, und den hole der Haldenwang!“


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Im Grundgesetz ist nur vom „Volk“ die Rede. Das ist ein Problem. Das Volk ist mittlerweile ein völlig unbrauchbarer Begriff. Er hat seine naive Fraglosigkeit, seine Selbstevidenz verloren. Das Volk des Grundgesetzes stammt aus einer Zeit, als zwischen Ethnie und Staatsangehörigkeit ein unstrittiger Zusammenhang bestand. Dieser Zusammenhang besteht nicht mehr. Wir können nicht mehr „Volk“ sagen, ohne in Streit zu geraten. Wer heute realistisch reden und sich eindeutig verständlich machen will, sollte auf das Wort „Volk“ verzichten, und stattdessen von „Nation“ oder eben „Bürgerschaft“ reden.

Wo im Grundgesetz „Volk“ gesagt wird, ist meist „Nation“ gemeint. Wie sollte es anders sein? Die Nation liegt dem Staat und seiner Verfassung voraus. Die Nation ist als Naturgegebenheit da. Der Staat ist etwas Gemachtes, etwas Gesetztes, eine Fiktion mit Geltungsanspruch. Die Staatsfiktion gilt, solange sie gilt. Alles, was lediglich gilt, kann von einer Sekunde zur anderen seine Geltung verlieren. Ehe, Versprechen, Verträge, Gesetze, Urkunden, Zugehörigkeiten, Positionen, Machtverhältnisse, Institutionen, Staaten. Wenn der Staat aufhört zu existieren, endet damit allerdings keineswegs die Nation. Wenn die Ehe geschieden wird, Dokumente, Namen und Eigentumsverhältnisse geändert werden, bleiben die beteiligten Säugetierkörper, zwei reale Zellhaufen mit personalen Identitäten, unverändert bestehen (jedenfalls in unserer Kultur).

Die Nation liegt dem Nationalstaat und seinen konstitutionellen Satzungen voraus. Repräsentanten, geistige Führer, Alphatiere der Nation geben dem Staat eine Verfassung. Nicht die Nation ist verfasst, der Staat ist es. Die Nation ist verstaatlicht – als Nationalstaat –, der Staat ist verfasst, durch die Staatsverfassung. Es gibt keine Nationalverfassung, keine Volksverfassung. Die Verfassung zähmt und zivilisiert den Staat, der erfahrungsgemäß die Tendenz hat, sehr rasch ein Eigenleben als Ungeheuer zu entwickeln. Die Verfassung zähmt nicht den Bürger, der wird durch einfache Gesetze in seine Schranken gewiesen.

Der Verfassungstext – insbesondere in den Grundrechtsartikeln – redet zum Staat. Der Text meint: Du, Staat! Denke immer daran: Die Würde des Menschen ist unantastbar. Du, Staat! Denke immer daran: Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich. Du, Staat! Denke immer daran: Jeder hat das Recht, seine Meinung in Wort, Schrift und Bild frei zu äußern und zu verbreiten. Und mit „Du, Staat“ ist gemeint: Du, Kanzler. Du, Parlamentarier. Du, Richter. Du, Polizist. Du, Staatsanwalt. Du, Lehrer. Du, Finanzbeamter. Du, Unteroffizier. Du, Bürgermeister. Du, Amtsarzt. Du, Verfassungsschutzpräsident. Denke daran: Du bist – entgegen der Alltagssprache – kein Staatsdiener, du bist der Staat. Ein Teil des Staates, ein Funktionär des Staates. Du dienst nicht dem Staat, du dienst der Nation. Denn der Staat ist eine Funktion der Nation.


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Unentgeltlicher Gesetzesvorschlag des epigraphischen Sonderberaters des Deutschen Bundestags, Marcus J. Ludwig

Der Deutsche Bundestag möge beschließen: Die Widmungsinschrift DEM DEUTSCHEN VOLKE auf dem Architrav über dem Westportal des Reichstagsgebäudes wird unverzüglich entfernt und ersetzt durch folgenden Text: DER DEUTSCHEN NATION UND DER DEUTSCHEN BÜRGERSCHAFT.

Das Kunstwerk DER BEVÖLKERUNG im nördlichen Lichthof wird meistbietend verhökert. Falls niemand das Ding kaufen will – was angesichts der Maße von 21 mal 7 Metern durchaus zu befürchten ist –, erhält es einen würdigen Platz im Vorgarten irgendeiner Ex-Kanzlerin.


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Die Moschee im Dorf meiner Mutter ist der Hauptgrund, warum die Menschen bei den kommenden Wahlen die AfD wählen werden. Die Verzweiflung über die migrationspolitische Fehlentwicklung können Politiker außerhalb der AfD offenbar nicht verstehen. Ein CDU-Mann wie Mario Voigt, der bestimmt ein vernünftiger Mittelmensch ist und in normalen Zeiten korrekt und unauffällig ein Bundesland oder eine Sparkasse regieren würde, denkt, die Leute würden ihn wählen, wenn er Kita-Plätze und Ausbildungsplätze organisiert. Er kapiert nicht, dass solche Sachen sekundär sind, dass die Menschen primär ihre Heimat erhalten sehen wollen, dass sie Angst haben vor einem Leben in der Überfremdung. Wenn sie solche Sorgen äußern, wird ihnen entgegengehalten, dass doch im Osten der Ausländer- und Migrantenanteil dermaßen gering sei, dass ihre Ängste einfach nur lächerlich und wahnhaft seien.

Dem entgegnet der gemeine Thüringer dann folgendes: Erstens ist der Anteil – gemessen am Ideal (oder auch nur an der Realität der 70er Jahre) – gar nicht so gering, für die regelmäßige Messerstecherei und Vergewaltigung reicht er jedenfalls. Und zweitens denken die Leute im Freistaat vorausschauend und national genug, um unter den Zuständen in anderen Teilen Deutschlands und den daher irgendwie absehbaren Zuständen in ihrem eigenen Bundesland zu leiden. Die Einwohner von Hildburghausen (5 Prozent Ausländeranteil) bekommen durchaus mit, wie sich das Pfeffernuss-Städtchen Offenbach (45 Prozent Ausländeranteil) im benachbarten Hessen in den letzten Jahren orientalisiert hat, und sie sagen sich: „Hm, och nö, finden wir eher nicht so schön, wählen wir mal lieber den Höcke, der baut uns garantiert keine Moschee auf den Marktplatz, der Voigt aber vielleicht schon, weil der es sich ja mit Lanz und Co. nicht verderben will.“

Ich habe jedes Verständnis für jeden, der mit dieser Begründung seine Wahl trifft, und dem alles, was möglicherweise gegen eine solche Entscheidung spricht, mittlerweile einfach egal ist. Es gibt nur eine ernstzunehmende politische Kraft, die die Hypermigration beenden und die Remigration einleiten wird. Die zweite, auf die manch einer naivermaaßen gewisse Hoffnungen gesetzt hatte, hat sich auf mysteriöse Weise in den Parteigründungswirren direkt selbst den Stecker gezogen. Die dritte, die das Potenzial hätte, mit der AfD eine „Querfront“ [8] zu bilden, wird von dieser historischen Chance ziemlich sicher keinen Gebrauch machen, aus ideologischer Borniertheit und aus Feigheit, den notwendigen Kulturkampf gegen die Kartellparteien und vor allem gegen die Kartellmedien aufzunehmen.

Die AfD ist ungefähr das, was die CDU/CSU vor dreißig, vierzig Jahren war. Das BSW ist ungefähr das, was die SPD vor dreißig, vierzig Jahren war. Nichts läge näher, als dass diese beiden in der Stunde der größten inneren Bedrohung unseres Landes eine Koalition der Vernunft bildeten.

Warum das Naheliegende so selten getan wird? Eine schöne Schlussfrage, die ich hier mit ganz viel Hall und psychohistorischem Geigenflimmern stehen lasse, bis mir oder irgendwem anders eine überzeugende Antwort einfällt.


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Kurzer Nachtrag noch zu den obigen Ausführungen betreffend Ahnentafel, Implex und Biodeutschtümelei: Zur Abstammung muss natürlich die Kultur hinzukommen. Was sie ja in der Regel, also in freier Wildbahn, auch ganz von allein tut. Man kann sich aber durchaus ein populationssoziologisches Großexperiment vorstellen, in dem Wissenschaftler (die sehr viel Zeit haben müssten) mittels künstlicher Befruchtung eine reine Abstammungsgemeinschaft züchten: Man startet mit fünfzig Frauen und fünfzig Männern, verpaart die, bzw. deren Keimzellen, nach einem natürlichen genealogischen Schema, und nach fünfzig Generationen hat man ein „Volk“ von ein paar Millionen vielfältig miteinander verwandten und verflochtenen Einzelwesen, die sich aber überhaupt nicht kennen, keiner ist dem andern je begegnet, sie haben nicht miteinander gelebt und daher keinerlei Kultur ausgebildet. Sie sind nur verwandt. Wäre es sinnvoll, diese menschliche Großgruppe dann ein „Volk“, eine „Nation“ zu nennen?

Offensichtlich nicht. Diese Gruppe wäre wie ein Mensch im Koma, ein Organismus ohne Geist und Gefühl. Reine Biomasse. Wo aber Verwandte real über längere Zeit miteinander leben, bilden sie eine Kultur aus. Von Jane Goodall wissen wir, dass schon Schimpansen dies tun. Ich weiß nicht genau, wie Schimpansen mit Migranten umgehen … in die Kulturen menschlicher Nationen jedenfalls kann man prinzipiell durchaus hineinwachsen, man kann Deutscher werden, auch wenn man z. B. als Japaner geboren ist und der letzte gemeinsame Vorfahr vor etwa sechzigtausend Jahren gelebt hat. Man kann adoptiert werden, man kann einheiraten, man kann in freier Selbstbestimmung eine neue kulturelle Identität annehmen. Dazu bräuchte es allerdings ein bisschen mehr als ein formelles Bekenntnis zum Grundgesetz. Liebe zum Beispiel.

Liebe ist der Grund, warum Hamed Abdel-Samad ein Deutscher ist. [9] Dann kommt die Akkulturation ganz von selbst. Und das Interesse an Genen und Ahnentafeln abseits der Hobbyforscherei erlischt einfach. Wenn wir in Deutschland nur Leute hätten, die Deutsche sein wollen (und das sollte doch eigentlich selbstverständlich sein), dann würde sich das ganze bekloppte Gerangel um den Volksbegriff einfach in Wohlgefallen auflösen. Dann blieben vielleicht noch ein paar hundert echte Rassisten übrig, die sagen: „Nein, der hat schwarze Haare, dem seine Vorfahren kommen aus Afrika, den wollen wir hier nicht.“ Aber mit den paar Flachwichsern würden wir schon fertig. Für die könnte der Sellner sich dann ja noch ein paar separate Remigrationsvorschläge ausdenken … Musterstädte auf dem Mond, oder so.


 

[1] Der „menschengemachte Bevölkerungswandel“ ist, soweit ich sehe, eine Begriffsschöpfung von Martin Lichtmesz. Sollte meines Erachtens öfter und offensiver verwendet werden, weil treffend, witzig und anschlussfähig.

Martin Lichtmesz: Gretas Apokalypse – und meine. Sezession, 24.07.2019.  https://sezession.de/61597/gretas-apokalypse-und-meine

[2] Martin Sellner: Remigration. Ein Vorschlag. Antaios, Schnellroda 2024.

[3] Dass und warum ich bestimmte Formulierungen und Argumentationen allerdings für reichlich unklug halte, habe ich an anderer Stelle ausführlich erörtert.

[4] Sellner, a.a.O. S. 14

[5] Nichts veranschaulicht diesen Befund besser als die Tatsache, dass das Wort „Remigration“ im Rummel um die „Geheimplan“-Schmierereien des Correctivs im Januar 24 hastig zum Unwort des Jahres erklärt wurde, und zwar rückwirkend für das Jahr 2023, in dem es einer größeren Öffentlichkeit noch völlig unbekannt war. 

[6] Das sagt sogar die weltanschaulich nicht immer so wahnsinnig neutrale Wikipedia. Im Artikel „Ahnengemeinschaft“ lesen wir: „[…] So gesehen, sind unzählige heutige Menschen sogar miteinander blutsverwandt, ohne sich dieser Tatsache bewusst zu sein. Ein Beispiel: Ausgehend von letzten gemeinsamen Vorfahren in der 11. Vorgeneration der Urururururururururgroßeltern, hat jedes Kind dieser Eltern bis heute statistisch gerechnet 1024 Nachkommen (2 hoch 10), […]. Die gegenwärtig lebenden Nachkommen dieser Seitenlinien sind zueinander Cousins und Cousinen 10. Grades. Zahllose solcher Seitenlinien verzweigten sich bereits in vorausgegangenen Generationen, wie auch in späteren, mit einer jeweils entsprechenden Anzahl von Nachkommen. Jede Person innerhalb einer dieser Linien ist (entfernt) verwandt mit allen anderen Personen aus allen anderen Seitenlinien und hat mit ihnen eine Ahnengemeinschaft, die bis in die Urzeit zurückreicht. Die archäologische Vererbungslehre (Archäogenetik) hat in Modellen errechnet, dass alle heute lebenden Menschen miteinander blutsverwandt sind, weil alle von nur einer Urahnin sowie einem Urahn abstammen […]. Nach der biologischen Abstammungstheorie sind alle Menschen sogar mit sämtlichen Lebewesen auf der Erde blutsverwandt.“

https://de.wikipedia.org/w/index.php?title=Ahnengemeinschaft&oldid=201544239

[7] Konsequente Nationalisten (nicht Chauvinisten) sind der Meinung, dass Deutsche und Österreicher eine Nation sind und dass daher die BRD und die RÖ einen Nationalstaat bilden sollten. Wie gesagt – ein legitimes Anliegen. Wenn sie das auf friedlichem Wege organisiert bekommen, soll’s mir recht sein. Wäre aber kein Projekt, für das ich persönlich jetzt extra Energie aufwenden würde.

[8] Empfehlung: Manfred Kleine-Hartlage: Querfront. Die letzte Chance der deutschen Demokratie. Berlin, 2023

[9] Hamed Abdel-Samad: Aus Liebe zu Deutschland. dtv, München 2022.


© Marcus J. Ludwig 2024
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