Die neunte Todsünde

der zivilisierten Menschheit. *   Oder: Wollt ihr die totale Welt?   Oder einfach: Zwei Tagebuchblätter über surfende Zombies, machtgeschützte Innerlichkeit und die wahre Willensnation der Atomisierten

 

19. Mai 2024

Man mache sich keine Illusionen: Die Lösung des Migrations- und Überfremdungsproblems ist nur ein Teil des großen Revisionsprojekts zur Rettung und Richtigstellung des Abendlandes. Für eine Revitalisierung der europäischen Kulturkräfte reicht es nicht, illegale Migranten zurückzuführen und uneuropäische Parallelgesellschaften abzubauen. Wenn der voraufklärerische Islam remigriert wäre, wäre das Internet immer noch da.
Der starre Blick auf die Gefahr der Islamisierung Europas fixiert die politischen Energien auf ein vordergründiges, klar verortbares Problem. Das Problem ist real, es drängt nach zügiger Lösung, aber es ist keineswegs das größte. Es ist Symptom einer fundamentalen Kulturschwäche, eines lebensartlichen Verfalls, einer identitären Autolyse, die es in dieser psychischen Tiefengründlichkeit noch nicht gab in der Geschichte, einfach weil es noch nie eine Technologie, ein salonfähiges Suchtsystem gab, das den Menschen derart von sich und seinen Lebensinteressen abzulenken imstande war.**
Was sollen wir mit einem deorientalisierten Abendland, wo wir doch geistig – wenn wir von „Geist“ noch sprechen können – längst in der Digitalen Parallel-Welt leben? Was nützt uns ein europäisches Europa, wenn es voll ist mit europäischen Idioten, europäischen Junkies, europäischen Zombies?

Im Gegensatz zu vordigitalen, vorvernetzten Zeiten geht der von sich selbst erlösungsbedürftige Mensch der Gegenwart nicht mehr in der Masse auf, sondern in der technischen Fiktion von Pluralität, im virtuellen Vorstellungsraum von myriadenfacher Individualität. Die Teilnehmer des Internets sind keine herkömmliche Masse, kein kompakter Pulk, wie es die Ansammlung in einem Stadion ist oder das Publikum einer Kundgebung, wie wir es von historischen Filmaufnahmen kennen, wo schwarzes Menschengestrüpp sich auf einen Redner im Zentrum ausrichtet. Gesichtslose Geschichtskräfte, Material sozialer Bewegung, depersonalisierte Schwärme, biosoziales Rauschen.
Die Masse kommt zusammen und löst sich wieder auf. Das Netz aber löst sich nie auf, die Milliarden vernetzter Monaden bleiben sich verbunden, selbst wenn alle Geräte offline sind. Sie wissen voneinander, dass sie noch da sind, dass sie weiter dabei sein wollen, jederzeit aktivierbar sind, dass sie süchtig sind nach diesem Gefühl, Teil einer Totalität zu sein, gemeinsam eine Sphäre aufzuspannen, die den leeren, gelangweilten Seelen Behausung gibt, die Illusion von Heimat und Gemeinschaft in einem Hyper-All, dessen Beinahe-Unendlichkeit man mühelos durchmisst. Anstrengungslose Bewegung, lichtgeschwinde Translokation, anonyme Anwesenheit allerorten. Ein universaler Safespace für Abstrakta und Avatare, geläutert vom Gestank des echten Lebens, die perfekte Sozietäts-Fiktion für den Endverschwender hominider Potenzen. Hier konstituiert sich das Weltvolk der Atomisierten als wahre Willensnation.

In der DPW hebt sich noch einmal das Lebensgefühl des entleerten letzten Menschen: aufgesetzte Pseudocommunity, falsches Grinsen, angeheiterte Masken, wohlige Verlogenheit. Die Feierlichkeit einer geschichtsmüden Gespensterwelt, leblose, finale Displaybegaffer, unfähig sich auf Erden zu gebrauchen, sich zu interessieren, sich zu genießen im Diesseits herkömmlicher Habitate, zukömmlicher Biotope.
Kappt ein technischer Defekt, ein Blitz, eine Sabotage die Nabelschnur zur Matrix, zur artifiziellen Muttersphäre, so dekompensiert das darbende Involut umgehend und offenbart seine organismische Verkommenheit. Panik bricht aus. Du bist jetzt ganz allein auf der Welt. Du stirbst. Du wirst kaputtgehen vor Langeweile, Ekel, Überdruss. Du wirst implodieren ohne die Ablenkung vom Ich. Du wirst in aller Deutlichkeit zu sehen bekommen, was du wirklich bist, und du wirst zeigen müssen, was du noch kannst ohne deine Seelenprothesen, und du ahnst, du weißt im Grunde, hinter dem zarten Häutchen des Vorbewussten, dass da nichts mehr ist an elan vital und Vertikalspannung, nichts mehr an Metaphysik und höherer Haltung, nur formloser Brei, nur Einheitseinerlei; du weißt, dass du eingehen wirst ohne die permanente Zufuhr deiner digitalen Nährlösungen, verdorren wirst, wenn es nicht bald wieder anläuft, das stärkende Surrogat aus den metapsychischen Tröpfen des Mediums.
Mal abgesehen davon, wirst du schlicht verhungern ohne Lieferando, du wirst erfrieren ohne Zalando, du wirst dich in deiner Wohnung verirren ohne Dirigando. Irgendwie wirst du jedenfalls krepieren.
Zum Glück aber nur für Sekunden! Im schlimmsten Fall für Minuten. Irgendwo in den Sicherungskästen des Systems wird irgendwas Unsichtbares repariert, reinstalliert, Heinzelmänner im Hintergrund verhaften die Hacker, Nanobots löten Neuronen und Glasfasern zusammen, trichtern dampfendes Adrenalin in die Kreisläufe des Hauptrechners, unter Stottern und Flackern wird die DPW wieder hochgefahren, Maschine läuft, lindgrünes Blinken breitet sich aus in den Adern des Großen Gewebes, Datenpakete und Distractozyten, ein mitigantes Lebenslicht streicht über die Menschheit, alles nochmal gutgegangen, alle existenzerhaltenden Verbindungen sind nach endlosen Momenten des Nahtodhorrors wiederhergestellt. –
Würde das Internet wirklich mal weltweit für Tage ausfallen, für eine Woche, einen Monat – was würde passieren? Wie viele würden den Entzug überleben, wie viele würden daran psychisch und somatisch zugrunde gehen?

Homo Google, der scrollende, wischende, klickende Mensch, hat den faustischen Menschen abgelöst, den suchenden, konzentriert-grübelnden, den einmalig innovativen und explorativen Menschen. Die kulturelle Evolution stoppt, regrediert, schlägt um in Involution, Abbau des eigentlich Menschlichen. Zumindest des eigentlich Europäischen. Wer nur noch Oberflächen und Öffentlichkeiten bewohnt, verlernt die Innerlichkeit.
Innerlichkeit ist die Fähigkeit, mühelose Fühlung zu nehmen zum eigenen Erleben, in Kontakt zu bleiben mit dem Stream of Identity. Das geht nicht in einem Klima andauernder Bedrohung. Bedrohung nicht zuletzt durch einen wahnhaften Staat, der sich weigert, für Sicherheit zu sorgen. Thomas Mann sprach mal – wenn auch mit halb mokantem Lächeln – von der „machtgeschützten Innerlichkeit“ des deutschen Bürgertums im Kaiserreich. Wir wüssten heute wohl wieder sehr zu schätzen, was eine stabile politische Schutzmacht für diese elementare Kulturbedingung leisten könnte, wobei uns eine „rechtgeschützte Innerlichkeit“ wohl noch lieber wäre. Wir erleben die völlige Verunsicherung des Menschen durch die politische Dauerdestabilisierung. Der Staat, der die Innere Sicherheit – in jeder Bedeutung des Wortes – nicht mehr garantieren will, nimmt dem Bürger den Mut zum Fallenlassen ins Innere, die Traute zur Versenkung, die unbekümmerte Lust zur Kulturleistung. Und dem Künstler die Spielfreude. Wer den Weg nach Innen nicht mehr findet, torkelt notgedrungen durch die totale Außenwelt des Internets.

Die Innerlichkeit hat keinen guten Ruf im Milieu der digitalistischen Progressisten, Innerlichkeit klingt nach Rückzug ins Private, Mimosentum und weltfremdelnder Biedermeierei. Der moderne Mensch sei gefälligst weltoffen, weltzugewandt, zeitgemäß und zuständig für die Menschheit und den Erdkreis. Das Interesse am Ich, das Lauschen auf die Resonanzen und Reflexionen im Erfahrungsraum des Eigenen, der phänomenologische Blick nach innen ist den Teilnehmern des „Weltgeschehens“ und der „Weltgemeinschaft“ verdächtig, mindestens lachhaft. Selbstbespiegelung ist in Zeiten, da acht Milliarden Schicksale unser soziales Engagement fordern, da das große Ganze des Globus auf dem Spiel steht, ein anrüchiger Luxus für heimatplanetslose Gesellen.

Wenn die Welt wesentlich Prozesscharakter hat, dann ist die Fähigkeit zur Innerlichkeit, zum temporären Ausstieg aus dem Prozess, und somit zur Erholung von der Zumutung des In-der-Welt-leben-Müssens, etwas zutiefst Menschennotwendiges. Im Gegensatz zum Tier, das immer nur in seiner Umwelt lebt, ist der Mensch mit der Welt konfrontiert, er ist gezwungen zur Welt. Das Internet hat die Welt um ein Vielfaches anwachsen lassen, die Welt wuchert um die Menschenseele herum als erstickendes Gestrüpp aus Pseudorelevanzen und Pseudobelangen: Inhalten, Bildern, Infos, News, Entwicklungen, Ablenkungsamüsement, Zeugs. Das Zeug, das nicht mehr dinglich zuhanden ist, nur mehr als digitales Gedöns, umschwirrt in hysterischer Schwerelosigkeit den flackernden Blick des Benebelten. Der Erlebensstrom wird permanent vergiftet. Die ständige Irritation der Identität durch nicht artgerechten Input zwingt die Feinfühligeren unter den Entartenden zum Exit durch Askese. Die Evolution hat den Menschen nicht ausgestattet für ein Leben in „der Welt“, jedenfalls nicht in dieser totalen Welt.
Das Bei-sich-Sein wird hygienischer Widerstandsakt und verzweifelte Kulturanstrengung. Der Verführung zur Fahrigkeit in der totalen Welt zu widerstehen, fordert die volle Konzentration und Kontemplation des Aussteigers. Innerlichkeit heißt nicht zuletzt, sich Steuerungs- und Zerstreuungsversuchen von außen zu widersetzen, heißt, nicht in Rollenmustern und Gesellschaftserwartungen zu leben, resistent zu werden gegen Massenbewegungen und Moden. Content Creator des Selbst zu bleiben.

Ceterum censeo, interretem delendam esse.

 

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Zum selben Thema noch eine ältere (und lesbarere) Aufzeichnung, die aus unrekonstruierbaren Gründen bislang unveröffentlicht blieb:

 

9. März 2018

Mit das Beste am Internet ist wohl, dass es mit dem weit verbreiteten Wahn Schluss gemacht hat, es ginge irgendjemandem mit irgendetwas ganz alleine so.
Man ist niemals mit irgendwas der Einzige. Es gibt – und das konnte man, bevor es das Internet in seiner heutigen Form gab, nur mühsam ahnen, aber auch selbstquälerisch, wie man war, leichthin wieder verwerfen – für jede Abstrusität, Perversität, Peinlichkeit, Unerträglichkeit, für jedes Schicksal, für jedes Geheimnis, das mit ins Grab gehen wird –, es gibt, kurz gesagt, für jedes lächerliche oder widerwärtige Alleinstellungsmerkmal ein Grüppchen von Leidensgenossen und gleichfalls Betroffenen.
Man muss zu denen allerdings nicht unbedingt näheren Kontakt suchen, und man darf sich nicht einbilden, dass man außer dem gemeinsamen Leiden sonst noch was gemeinsam hätte. Wer Talent und Geschmack hat, sollte ruhig weiterhin seinen Steppenwolf oder Tonio Kröger schreiben, statt sich nächtens in Foren über sein Mal an der Stirn oder seinen Pickel am Arsch auszutauschen.

Trotz manch digitaler Lebens- und Weltverbesserung: Hätte ich hier und jetzt einen Knopf zur unumkehrbaren Zerstörung des Internets, ich würde ihn ohne eine Sekunde des Zögerns betätigen.
Die größten Gefahren des Internets sind nicht Datenklau, Überwachung und Berechenbarkeit des Bürgers, sondern die Verhässlichung des Menschen, die Entstellung, die aus Willenlosigkeit, Selbsttäuschung und Schlaffheit erwächst. Und das endgültige Ende der Romantik.
Der Untergang des Abendlandes wird ja immer mal wieder gern in Aussicht gestellt. Meistens handelt es sich bei solchen Warnungen nur um das Gebrabbel alter, lernunwilliger Männer, denen Veränderung, Fortschritt und Innovation ihren Lebensabend unbehaglich zu machen drohen. Diesmal aber ist es wohl wirklich soweit. Eine Welt geht unter, und man darf das vielleicht beklagen, ohne sich als klotzköpfigen, anpassungsunfähigen Erzreaktionär erachten zu müssen.

Das Internet entwöhnt die Menschen von der wirklichen Welt, von jener Kohlenstoff-Welt also, in der man als personale psychophysische Entität handeln, sich bewegen, sich entwickeln, sich bewähren, sich verantworten muss. Das Netz ist die schiefe Bahn, besser gesagt: ein Geflecht von schiefen Bahnen in einen Abgrund von Indolenz und Wehrlosigkeit. Es ist das Medium mit der stärksten je dagewesenen Ablenkungskraft – falls es überhaupt angebracht ist, das Internet als Medium zu begreifen. Jedenfalls bietet diese Parallelwelt und Menschheitsspielhölle mit ihrer Vom-Hölzken-aufs-Stöcksken-Logik die ideale Balance von Interaktivität und -passivität, ideal für die westlichen und verwestlichten Menschen des 21. Jahrhunderts, die keine Mühe und erst recht keine Muße mehr ertragen, keine Langeweile, keine Körpergerüche, kein Wetter, keine Pollen, keinen Hausstaub, keine laute Musik, keine dicken Bücher, keine komplexen Gedanken oder gar Schachtelsätze.

Die Erschaffung des Internets ist überhaupt nicht vergleichbar mit der Erfindung des Buchdrucks oder des Fernsehens. Das Buch hat seinerzeit die Sonderexistenzform des Bücherwurms hervorgebracht, das Fernsehen hat eine schon weit größere Gruppe von Menschen in Couchpotatoes verwandelt, beides unappetitliche, madig-bleiche, bewegungsunfähige Erscheinungen, die für einen ersprießlichen Fortbestand der Spezies schon weitgehend unbrauchbar waren. Das Leitfossil unserer Epoche aber ist der surfende Zombie. Willenlos gleitend, selbst- und weltvergessen glotzend, treibend, touchend und wischend. Hingegeben einer perfekten Illusion von Interessiert- und Informiertheit, von Wirksamkeit, Mobilität und Verbundenheit. Nie wird man das freiwillig wieder aufgeben.
Sollte man es denn aufgeben wollen? Eine perfekte Illusion ist doch mindestens genauso gut, wie eine perfekte Realität. Zudem auch noch wesentlich kostengünstiger und weniger aufwendig.
Es geht hier wohl um die alte Frage, ob man eine Welt voller glücklicher Idioten wirklich haben will. Ich für meinen Teil will sie nicht. Glückliche Idioten mögen erträglicher sein als unglückliche Idioten, aber wenn das „Glück“ so hässlich und monströs daherkommt, wie es heute der Fall ist, dann bekomme ich Angst und Ausschlag.

Das Netz ist für das Gemüt und den Intellekt das, was industrielle Lebensmittel für den Körper sind. Es bietet den kraftlosen, trägen Geistern, die in den von leeren Kohlehydraten und Frittierfett aufgeschwabbelten Leibern wohnen, genau die mentalen Nährmittel, die sie einzig noch verarbeiten können. Das Ergebnis ist die gleichermaßen somatische wie seelische Adipositas, der wir heute allenthalben begegnen.
Künstlich, süß, überwürzt, fettig, infantil, von allem zu viel, und zwar rund um die Uhr – diese Charakteristika der gegenwärtigen psychophysischen Überfütterung müssen zwangsläufig nicht nur zu monströser Verfettung, sondern auch zur Abstumpfung und Verkümmerung des Geschmacks führen.

Das Internet verändert nicht bloß unseren Mediengebrauch, es ändert den gesamten Daseinsmodus. Die letzte derart einschneidende Änderung war die neolithische Revolution. Mit ihr kam das Brot in die Welt und – darf man Josef Reichholf glauben – vor allem das Bier. Mit der Net- oder Web-Revolution – die Äquivalenz der beiden Begriffe ist bedenkenswert – kommt ein Wesen in die Welt, das seine Existenz in einem psychotechnisch produzierten Schlaraffenland fristet, in dem Brot und Bier in unbegrenzten Mengen und in milliarden-, in fantastilliardenfachen Darreichungsformen zur Verfügung stehen. Mit fingerdick Margarine drauf, und Nutella und Fleischsalat und Bauchspeck und Schokostreuseln. Fingerdick? Kilometerdick! Mit Camembert überbacken und mit Sprühsahne getoppt. Und zwar für lau.

Ist das Internet überhaupt ein Netz? Es war vielleicht einmal ein Netz, in seinen Anfangstagen, als es schwerpunktmäßig noch darum ging, einzelne Rechner miteinander zu verbinden. Hierbei handelte es sich um eine Verdrahtung im ganz realen elektrotechnischen Sinne. Wenn wir heute vom Netz sprechen, meinen wir aber gar nicht mehr, dass unser Computer über irgendwelche Glasfaserleitungen oder WLAN oder sonstige Funkeinrichtungen mit anderen Computern verbunden ist. Das Internet – auch wenn es natürlich nicht ohne sein materielles Substrat existieren würde – ist im Bewusstsein der Anwender primär keine Veranstaltung von Kabeln, Steckern und Funkwellen, sondern die Organisation von digitalen grafischen, textlichen und akustischen Inhalten in einer virtuellen Welt. Diese Welt ist im Wesentlichen der realen Welt parallel nachgebaut und ersetzt ehemals analoge Dinge durch benutzerfreundlichere digitale Dinge: Lexikon, Versandhauskatalog, Videothek, Zeitung, Briefträger, Dolmetscher, Taschenrechner, Stammtisch, Peepshow, Pranger. Von vielen Dingen, Geschäften etwa, gibt es eine analoge und eine digitale Version, sodass ich mir aussuchen kann, ob ich physisch mich dorthin bewege und ein Gebäude betrete, um die angebotenen Waren anzufassen und zu prüfen, oder ob ich vom Sofa aus im Webshop bestelle. Diese beiden Repräsentationen eines Unternehmens stehen mittlerweile oft gleichberechtigt nebeneinander, sodass es immer öfter schon unsinnig wird, die eine Repräsentation für die eigentliche und echte zu halten und die andere für die digital nachgebaute, die Ersatzversion sozusagen für jene Kunden, die zu faul für die echte Welt sind.

Das Internet wird allmählich eine mindestens gleichrangig reale Parallelwelt, und als solche hat sie mit einem Netz nicht viel zu tun. Das Netz ist nur ein Teil jener Welt, es ist strukturell etwa das, was das Straßen- und Wegenetz auf dem Erdboden ist.
Dieses Verkehrswegenetz ist zurzeit nahezu identisch mit Google. Google baut Straßen dorthin, wo sich Trampelpfade abzeichnen. Es versieht diese Straßen mit Wegweisern, säumt sie mit Werbeschildern und geleitet uns mit finanzieller Unterstützung interessierter Ansässiger zu deren „Websites“.
Gemeint sind damit eigentlich Orte. Site heißt nicht Seite. Das weiß eigentlich jeder, aber jeder scheint es auch zu ignorieren. Die Website ist keine Seite im Netz, sondern ein Platz im Netz. Dieser Irrtum kann sich logischerweise nur im deutschen Sprachgebiet eingebürgert haben. Umso erstaunlicher, dass es auch den englischen Begriff Webpage gibt, der also wirklich Webseite bedeutet. In den meisten Fällen ist es ziemlich unsinnig, von diesen Orten so zu reden, als ob sie Dokumente wären. Es gibt zwar Websites, die den Charakter von Webseiten haben, also weitestgehend dokumentförmig sind, aber es wäre anschauungslogisch sauberer, sich Websites immer als Orte vorzustellen, als Grundstücke, die von ihren Besitzern ganz verschieden genutzt werden können. Von einigen werden sie genutzt, um dort ein Dokument auszustellen, zum Beispiel einen Informations-Prospekt über ein Unternehmen. Andere nutzen ihr Grundstück, um dort ein Geschäft, eine Zeitschrift, ein Lexikon hinzustellen. Einige legen nur ihre Visitenkarte dort ab, andere errichten dort riesige Archive oder Markthallen oder die ganze Erdoberfläche in kartografierter und fotografierter Form.

Frage: Ist das dann eine Struktur, die zum „Surfen“ einlädt? Nein, ist sie nicht. War sie auch nie. Die Rede vom Surfen war schon immer komplett sinnfrei. Ich vermute, dass sich in den Anfangstagen des Internets, durch Vernuscheln und Verhören und die übliche Faulheit der Menschen bezüglich der Pflege ihres Vokabulars, über die Assonanz zum Server irgendwie der Surfer in den Sprachgebrauch eingeschlichen hat. Merkwürdig, denn es ist ja ein völlig schiefes und sinnloses Bild: in einem Netz zu surfen. Auch wessen Sprachgefühl nicht gerade auf der Höhe eines Hölderlin angesiedelt ist, würde doch beim ersten Kontakt mit dieser Wortkombination eigentlich denken: „Im Netz surfen? Hä? Wassn das für n Schwachsinn?“

Egal. Die vorherrschende Bewegungsform ist jedenfalls nicht das Surfen, sondern eine Art Bummeln, ein Flanieren, Umherstreifen. Ein Verweilen, ein Reinschnuppern, ein Irgendwohängenbleiben, ein Sichverlockenlassen, ein Zeittotschlagen, ein Finden ohne Suchen. Ein Schlendern, ein Rumlatschen und Lustwandeln, bis einem die Füße wehtun, beziehungsweise die Maushand und der zugehörige Schulter-Nacken-Bereich.

Es liegt dem zu Grunde das gleiche Bedürfnis, das die Menschen massenhaft in Einkaufszentren treibt, in Zoos, Erlebnisparks, auf Jahrmärkte, vor allem aber in Innenstädte, touristisch interessante Cities, die ein hohes Maß an Abwechslung bieten, Geschäfte, Malls, Galerien und Passagen, Cafés, Leute, Autos, Museen, Gebäude, Kirchen, Sehenswürdigkeiten aller Art.
Es ist dies vor allem das Bedürfnis nach Unterhaltung, der Wunsch, dieses langweilig-anstrengende Leben irgendwie halbwegs interessant und schmerzfrei hinter sich zu bringen und die Leere mit irgendetwas anderem zu füllen als mit trüben Gedanken über sich selbst. Dem steht jedoch in gewisser Weise der Anspruch entgegen, die Lebenszeit nicht völlig sinnlos zu vergeuden. Andauernde Unterhaltung mit „Irgendetwas“ ist schlecht fürs Selbstwertgefühl und dem Ich schwer zu vermitteln – jedenfalls solchen Ichs, die moralisch noch nicht völlig heruntergekommen sind.
Der Mensch ist seinem Wesen nach ein informationssuchendes biologisches System. Echter Informationsgewinn wird mit dem guten Gefühl von Lebensrichtigkeit belohnt. In seinen hellen Momenten weiß jeder Mensch, dass er sein Leben im Einklang mit der Wirklichkeit führen sollte. Realismus fühlt sich richtig an, auch wenn die Realität problematisch ist. Lügen und Leugnen ist keine Lösung.
Alles Leben ist Problemlösen (Popper). Alles Leben ist auf der Suche nach einer besseren Welt (Popper). Langeweile zum Beispiel ist ein Problem. Einsamkeit ist ein Problem. Konfrontation mit sich selbst ist ein Problem. Konfrontation mit dem unausweichlichen Tod ist ein Problem. Ein Leben ohne Konfrontation mit sich selbst ist für ein Wesen, das niemals genug „Information“ gewinnen wird, um seine konstitutionelle Lebensangst zu beruhigen, ein besseres Leben. Oder wäre es. Denn es gibt für „das weltoffene Tier“ eigentlich keine bessere Welt.
Dass das Internet diesen kontradiktorischen Tendenzen wie nichts zuvor in der Geschichte vermittelnd entgegenkommt, macht seinen Erfolg aus. Es ist für den Menschen auf seiner momentanen Entwicklungsstufe scheinbar die bessere Welt. Bis auf die erwähnten Hand- und Augenermüdungen ist es vollkommen anstrengungslos. Sein Effizienzgrad ist – wollte man das Verhältnis von Aufwand zu Unterhaltungs-, Ablenkungs- und Informationsgewinn zahlenmäßig erfassen – unvergleichlich hoch.

Bleibt die Frage: Wenn das, was wir tun, sobald wir den Rechner anschalten, also ein Bummeln durch eine digitale Parallelwelt ist, warum sagen wir dann nicht so was wie „ich bummel in der DPW herum“? Warum sagen wir, dass wir „im Netz surfen“?
Warum auch immer – es wird sich gewiss nicht mehr ändern lassen.

 

Nachbemerkung, Mai 2024:
Es hat sich mittlerweile doch irgendwie geändert. Es redet zwar niemand außer mir von einer „DPW“, aber „im Netz surfen“ sagt – soweit ich das mitbekomme – auch kaum noch wer. „Durchs Internet surfen“ klingt schon fast wie „flippige Hits hören“ und dazu „ne prickelnde Brause schlürfen“, also ungefähr nach 1993 oder 1973. Ich weiß gar nicht genau, wie man heute sagt … „sich im Netz bewegen“, oder so? Es bedarf offenbar gar keiner spezifischen Metapher mehr, weil der Aufenthalt in der DPW für den Wirklichkeitskonsumenten Dauerzustand und alltäglich Lebenspraxis geworden ist. Man schaltet nicht erst eine elektronische Rechenmaschine ein und setzt sich an einen Internetarbeitsplatz, um sich in eine andere Welt zu begeben, man trägt die Welt mit sich herum und unterscheidet nicht mehr zwischen hier und dort. Subjektiv ist sich der User der herkömmlich-materiellen und der neomentalen Welt gar keiner Trennung mehr bewusst, er ist mit demselben Bewusstsein im Diesseits wie im Medium. Dass es sich objektiv um ein prothetisches Paralleluniversum handelt, und dass die Verschmelzung beider Sphären und die widerstandslose Akzeptanz des illusionären Artefakts einer Geisteskrankheit nahekommt, wird offenbar, wenn die homöostatische Pumpe stehenbleibt und das psychosoziale Flick- und Pfuschwerk in sich zusammensackt. Menschen, die noch ohne Internet, oder sogar ohne Computer aufgewachsen sind, werden das meistenteils kompensieren können, und sich nach Entzug und Reeducation wieder in der Realität zurechtfinden. Für die U30-Generation aber sollte man als weitsichtiger Gesundheitsminister ruhig schon mal ein paar tausend Instant-Krankenhäuser beim Chinesen bestellen.

 

 

* Wie ich nachträglich feststellte, bin ich nicht der Erste, der den „acht Todsünden der zivilisierten Menschheit“ eine neunte hinzudiagnostiziert. Die exzessive Toleranz, mit der ein gewisser Herr Kubitschek die Reihe bereits 2009 verlängerte, würde ich jedoch eher als Folge der Indoktrinierbarkeit (Kap. VIII) und wohl auch der Verweichlichung (Kap. V) ansehen, und weniger als eigenständiges Degenerationsphänomen, also als pathologische Entgleisung eines evolutionär sinnvollen Arterhaltungsmechanismus, einstufen.

Dagegen bin ich einigermaßen sicher, wenn Konrad Lorenz noch unter uns weilte, würde er im Internet mit seinen Verlockungen zur autogenen Desinformation und Derealisierung eine destruktiv-distraktorische, um nicht zu sagen: diabolische (Diábolos ist der „Durcheinanderwerfer“) Droge erkennen, die die Menschheit ernstlich in ihrer Menschlichkeit bedroht, die den Abbau des Menschlichen nochmals erheblich beschleunigt und somit eine erweiterte Neuauflage seines Buches rechtfertigen würde. Sein Kapitel über die Indoktrinierbarkeit enthält zwar schon vieles, was auch und erst recht für das Internet gilt, aber diese neue Parallelstruktur, die das Geistige in wahrhaft evolutionären Ausmaßen zu transformieren oder eben zu deformieren geeignet ist, ist einfach von ganz anderer Qualität als alle herkömmlichen Abrichtungs- und Verblödungsmaschinen. Es geht ja nicht mehr nur um Inhalte, um Doktrinen, Ideologien und belief systems, sondern um die Strukturen des Denkens, die Zugänge zur Realität und vor allem die Dynamiken des Unbewussten. – Wie auch immer, das Buch ist auch so weiterhin unbedingt lesenswert: Konrad Lorenz: Die acht Todsünden der zivilisierten Menschheit. Piper, München 1973

** Man befrage sich ruhig ab und zu: Willst du das alles „eigentlich“ wirklich, was du tust und was um dich herum geschieht? – Und du tust es trotzdem oder lässt es geschehen, und merkst kaum noch, dass du etwas ganz anderes wollen würdest, wenn du noch in dir selbst dein „Eigentliches“ suchen könntest, statt „im Netz“ automatisierte Wahrheiten, offizielle Antworten und bequem konfirmatorische Weltauffassungen zu finden. Bist du noch frei genug, dir vorzustellen, dass das nicht so sein müsste? Bist du noch Idiot oder schon Zombie?

 

 

 

© Marcus J. Ludwig 2024
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