Wer nimmt wem das Bett weg?

Eine Betrachtung zur Lage auf der moralpolitischen Intensivstation

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Okay.
Eines vorab: Ich werde nie wieder schreiben, dass irgendein Text mein letzter zu einem bestimmten Thema sei. Diese Strategie der Entwöhnung durch Verlautbarung guter Vorsätze funktioniert offenbar nicht bei mir. Ich dachte mir letzthin im September wohl, der Corona-Wahnsinn würde irgendwie auf dem gewohnten Niveau an Paranoia und Propaganda weitergehen, vielleicht etwas heruntergedimmt durch die Impfung – wie mäßig ihre Wirksamkeit auch sei –, ich dachte, der Winter würde trotz der zu erwartenden saisonalen Erkrankungswelle ein leichtes Abflauen des Irrsinns und eine Tendenz zur Beruhigung der hysterisierten Gemüter zeitigen und es gäbe für mich daher nichts großartig Neues und Anderes mehr zu der ganzen Schlamastik zu sagen. Falsch gedacht. Keine Tendenz zur Beruhigung in Sicht, der Trend geht rapide Richtung Tobsucht.

Dramen spielen sich ab auf der moralpolitischen Intensivstation: Der politmediale Patient hat offenbar die letzten Reste von Verstand und zivilisatorischer Affektkontrolle verloren. Er schlägt wild um sich, wirft mit Bullshit, Drohkulissen, Gewaltphantasien nach allem, was er als bösen Blutwurm [1] und Brunnenvergifter ausgemacht hat, und ist einer argumentativen Ansprache kaum mehr zugänglich.
Natürlich waren chronische Realitätsverweigerer wie Söder, Montgomery, Spahn et. al. ohnehin nie irgendwelchen rationalen Erwägungen zugänglich, aber die Hemmungslosigkeit, mit der sie sich nun aus dem Wörterbuch – und dem Werkzeugkasten – der Schwarzen Pädagogik bedienen, um ihr Wahngebilde gegen Gefährder aus der wirklichen Welt zu verteidigen, ist von neuer und – zugegebenermaßen – unerwarteter Qualität.

Jens Spahn will Impfunwillige zu Abschreckungszwecken auf Intensivstationen zerren. Söder fordert den Lockdown für Ungeimpfte. Minister Heil droht Impfunwilligen mit Streichung der Lohnfortzahlung und arbeitsrechtlichen Konsequenzen. Weltchefarzt Montgomery deliriert von einer „Tyrannei der Ungeimpften“. Dem feinsinnigen Radiologen reicht‘s: „Zuckerbrot haben wir probiert, jetzt ist Zeit für die Peitsche!“ Sogar höchste Zeit, zumal bereits eine Super-Variante des Coronavirus im Anflug scheint, „die so infektiös ist wie Delta und so gefährlich wie Ebola“. Senatorin Kalayci von der Berliner SPD empfiehlt: „Vermeiden Sie Kontakt mit Ungeimpften!“ Was ein Gelsenkirchener Geschäftsinhaber denn auch direkt umsetzt, indem er den geschichtsbuchtauglichen Spruch „Ungeimpfte unerwünscht“ in großen weißen Lettern auf sein Schaufenster pinselt. Und während ich diese kleine Giftblütensammlung zu Papier bringe, tagt das Bund-Länder-Krisenkränzchen, und aus Verwünschungen und Forderungen werden Beschlüsse.


Frustrierte und Sündenböcke

Wir haben hier einen geradezu klassischen Fall angewandter Sündenbock-Soziologie. Ich sag es nur ungern, aber prägnanter als Wikipedia [2] könnte ich den Sachverhalt auch nicht in Worte fassen:
„Die soziale Rolle des Sündenbocks lässt sich auch einer ganzen Gruppe von Menschen per Attribution zuweisen. Sind Menschen frustriert oder unglücklich, richten sie ihre Aggression oft auf Personen oder Gruppen, die unbeliebt, leicht identifizierbar und machtlos sind. Dies kann auch mittels einer durch Machteliten verbreiteten Ideologie geschehen, die ein Feindbild bewusst entwickelt mit dem Ziel, bestimmte soziale, ethnische oder politische Minderheiten zum Sündenbock für aktuelle Krisenerscheinungen zu machen oder von der eigenen mangelnden oder schwindenden Legitimation abzulenken […]. Eine solche Projektion auf einen Sündenbock kann für die Bevölkerungsmehrheit eine identitätsstiftende Funktion bekommen.“ (Hervorhebungen MJL)

Wenn die Frustrierten in Politik, Medien und Mehrheitsbevölkerung sich mal gegenseitig ein paar ordentliche Besinnungsohrfeigen verpassen würden, müssten sie eigentlich relativ mühelos erkennen: Wir haben keine Pandemie der ungeimpften „Todesengel“ [3], sondern vor allem eine Pandemie jener Geimpften, deren überschätzter Schutz viel schneller als gedacht nachgelassen hat; eine Pandemie derer, die nach ihrer Impfung im Frühjahr wieder ihr halbwegs normales Sozialleben aufgenommen haben in dem falschen Glauben, sie seien für lange Zeit optimal immunisiert.

Im Grunde aber – Impfstatus hin oder her – haben wir, was Intensivpatienten und Tote betrifft, noch immer ein Krankheitsgeschehen, dass vornehmlich Alte, Übergewichtige, Prekäre und „Menschen mit Kommunikationsbarriere“ betrifft. Statistisch gesehen. Man wird vielleicht auch eine nennenswerte Anzahl adipöser, armer, des Deutschen unkundiger Achtzigjähriger finden, die eine Coronainfektion gut überstanden haben. Aber wahrscheinlichkeitstechnisch gesehen haben die nun mal ein extrem hohes Risiko für einen schweren oder gar tödlichen Verlauf.

In allererster Linie haben wir jedoch – man muss es immer wieder betonen – eine mentale Pandemie: eine Pandemie der Irrationalen, der Mitläufer, der Verängstigten, der selektiv Übersensibilisierten, der nekrophob Fixierten, der Corona-Paranoiker. Und es scheint nach wie vor ziemlich aussichtslos, diesen Menschen irgendwie helfen zu wollen.

Wie auch immer … ich will mich hier gar nicht weiter in die Sozialpathologie vertiefen, denn ich wollte ja eigentlich bei den Ethikern nach dem Rechten sehen, und das mache ich jetzt mal.
Wie sicher die derzeit zur Anwendung kommenden Impfstoffe sind, will ich im Folgenden weitgehend außer Acht lassen. Nehmen wir einfach zugunsten der Impf-Fans an, die „paar“ Herzstillstände, Schlaganfälle, Fehlgeburten, Gürtelrosen seien statistisch gesehen nicht häufiger als bei einer herkömmlichen Grippeimpfung, von der man je nach persönlicher Risikoeinschätzung Gebrauch machen konnte oder auch nicht, und nehmen wir ferner an, Langzeitfolgen wie Autoimmunerkrankungen und dergleichen seien ausgeschlossen.
Müsste ich mich – moralisch betrachtet – dann impfen lassen?


Anecken ausgeschlossen

Für die Ethikratsexperten der deutschsprachigen Länder ist der Fall klar, wie die Schweizer Medizinethikerin Tanja Krones, Mitglied der NEK, in der NZZ berichtet: „Die Ethikkommissionen der Schweiz, von Österreich und Deutschland haben sich vor kurzem getroffen: Alle waren sich einig, dass es eine moralische Pflicht zur Impfung gibt. […] Wir tragen nicht nur Verantwortung für uns selber, sondern ein Stück weit auch für andere. Zudem ist die Evidenz eindeutig: Die Impfung schützt vor einer schweren Covid-19-Erkrankung. Und sie hindert die Krankheit immerhin etwas an der Ausbreitung. Wären alle Menschen geimpft, hätte das ganz greifbare Auswirkungen.“ [4]

Hm, wo soll man da anfangen … also, erstens: Man müsste mal über die Zusammensetzung solcher Ethikkommissionen nachdenken. Eine Runde, in der sich alle einig sind über eine derart kontroverse Frage, ist für meinen Geschmack ein wenig zu rund. Wenn sechzig Leute zusammensitzen und diskutieren, und am Ende sind alle einer Meinung, dann sind entweder fragwürdige Substanzen im Spiel oder nigromantische Machenschaften, oder die Experten sind – wie in jeder Talkshow halt – so rund und glatt zurechtgecastet, dass jedes Anecken untereinander von vornherein ausgeschlossen ist. – Ich weiß es nicht. Vielleicht ein Fall für die Investigativ-Profis von Faktenficker.de, oder wie die heißen …

Zweitens, und jetzt mal etwas seriöser: Die „moralische Pflicht zur Impfung“ wird von Frau Krones a) mit dem Selbstschutz und b) mit dem Fremdschutz begründet.

Zu a) Nehmen wir an, die „Evidenz“ wäre wirklich so „eindeutig“, und ich hätte durch regelmäßige Impfung (etwa alle vier Monate) einen wirksamen Schutz gegen einen schweren Covid-Verlauf. Inwiefern würde sich aus diesem Faktum irgendein Sollen ableiten?
Bisher war es so, dass ich nach eigenem Ermessen vorsichtig oder leichtsinnig leben durfte. Ich durfte Raubbau an meinem Körper betreiben, den waghalsigsten Aktivitäten frönen und mich allen denkbaren Gefahren aussetzen, wenn ich der Typ dafür war. Es war meine Sache, wie schlecht, wie dumm, wie selbstzerstörerisch ich mich mir selbst gegenüber verhielt. Warum genau sollte es heute anders sein?
Mein Arzt kann mir den Rat geben: „Wenn Sie gesund bleiben wollen, sollten Sie sich besser impfen lassen.“ Wenn ich aber sage: „Ist mir egal, mir passiert schon nix“, oder „Ist mir egal, hab eh keine Lust mehr zu leben“, dann kann man das extrem dämlich und extrem bedauerlich finden, aber ich sehe nicht, mit welchem Argument man mich zur Selbstschonung und zur Lebensfreude verpflichten könnte.

An dieser Stelle kommt in der Regel die Frage der Sekundärfolgen ins Spiel. Wegen meiner Leichtsinnigkeit müssen andere leiden: Angehörige, die mein Elend miterleben müssen, das überarbeitete Krankenhauspersonal, die Solidargemeinschaft, die die Kosten für den Flug ins nächste freie Intensivbett und die wochenlange teure Behandlung bezahlen muss, und vor allem die anderen Kranken, die wegen meines Krankheitsfalls warten müssen. Diese Folgen wären vermeidbar, wenn ich doch nur diese läppische Maßnahme der Impfung in Kauf nehmen würde.


Moralische Kategorisierung von Kranken

Aber mal abgesehen von dem Faktum, dass auf deutschen ITS durchschnittlich weit unter 10 Prozent Covid-Fälle liegen, demnach also weit über 90 Prozent Patienten mit anderen Gesundheitsproblemen, und mal abgesehen davon, dass viele Covid-Patienten gar nicht auf die ITS gehören und schon gar nicht an ein Beatmungsgerät, dass sie vielmehr mit den Methoden des Moerser Modells wesentlich aussichtsreicher behandelt werden könnten, abgesehen also von diesen Realien und Empiremen, stellt sich die grundsätzliche ethische Frage, ob bestimmte Kranke durch ihr der Krankheit vorausgegangenes Verhalten berechtigteren Anspruch auf eine Behandlung erworben haben als andere.

Ist der eine schuldlos krank geworden, durch eine tragische Verkettung von Umständen, ist der andere sehenden Auges in die Gefahr hineingerannt? Ist der eine, obwohl er tugendhaft und vorsichtig und solidarisch gelebt hat, Opfer einer bösartigen Attacke oder einer Fahrlässigkeit seines Nächsten geworden, und ist der andere halt selbst schuld, wenn er so doof ist, dies und das zu tun, dies und das nicht zu unterlassen?

Das wird man gewiss so fragen können, man wird gewiss in jeder einzelnen Krankengeschichte, die nicht selten die ganze Lebensgeschichte umfasst – denn die meisten Krankheiten zum Tode sind nun mal lebensstilbedingte Krankheiten –, ethisch relevante Momente finden, Entscheidungen, die dazu geführt haben, dass dieser Mensch nun da liegt und intensiver medizinischer Maßnahmen bedarf.

Solche Lebensbilanzen oder Rekapitulationen von Kausalketten waren allerdings bisher nie das Kriterium dafür, den einen anders zu behandeln als den andern. War der ungeimpfte Influenza-Patient ein weniger behandlungswürdiger Patient als der unsportliche Vielfraß nach seiner Herz-OP? Ist der ungeimpfte Covid-Patient ein weniger behandlungswürdiger Patient als der Kettenraucher nach seiner Lungenkrebs-OP?
Der siebzigjährige Covid-Patient hätte sein ITS-Bett vielleicht nicht gebraucht, wenn er geimpft gewesen wäre.
Der siebzigjährige Lungenkrebs-Patient hätte sein ITS-Bett vielleicht nicht gebraucht, wenn er es die letzten 55 Jahre unterlassen hätte, zwei Schachteln pro Tag zu rauchen.
Ganz schlicht gefragt: Nimmt der Krebspatient nicht vielleicht eher dem Covid-Kranken „sein“ Bett weg? [5]

Man kann natürlich in der Ethik über alles nachdenken, auch über eine moralische Kategorisierung der Kranken nach Selbstverschuldungskriterien, man kann eine Selbstbeteiligung an den Kosten fürs „Kranksein aus Dämlichkeit“ diskutieren, vielleicht muss ich als Vollkorn-Veganer dann demnächst weniger KK-Beiträge zahlen als der fleischfressende Burger-Junkie. Kann man alles diskutieren. Nur man muss es auch wirklich diskutieren, und dann vielleicht darüber abstimmen lassen. Wollt ihr ein Gesundheitssystem, in dem ihr nach einem Moral-Score behandelt werdet, in dem die „Sündhaftigkeit“ und das Wohlverhalten eurer kompletten Biographie verrechnet werden?

Zu b) Wird durch die Impfung die Krankheit an der Ausbreitung gehindert, wie die Ethikkommissionen von Österreich, Schweiz und Deutschland meinen?
Irgendwie nicht so wirklich, denn die Impfung bewirkt keine sterile Immunität, und der Nutzen, dass die frisch Geimpften zumindest etwas weniger ansteckend sind, wird offenbar mehr als aufgewogen durch die Tatsache, dass sie sich wieder wesentlich freier und kontaktreicher durch den sozialen Raum bewegen, sie lassen sich weniger testen und sind daher momentan – im Jargon deutscher Corona-Hetzer gesprochen – die Treiber der Pandemie. Man müsste daher – käme man von dem tugendethischen Narrativ herunter, dass die Geimpften die Guten und Solidarischen sind, die das Richtige getan haben – auch die Geimpften schon kurze Zeit nach ihrer „Immunisierung“ täglich testen. Dann müsste man aber letztlich alle, Geimpfte und Ungeimpfte, täglich testen, also „1G“ einführen, und die Impfung wäre dann wieder nur eine freiwillige Maßnahme zum Selbstschutz für die, die das möchten.


Das Tragische unter Kontrolle bringen?

Die grundsätzliche Frage hinter all dem ist aber, ob und wie man die Krankheit überhaupt an der Ausbreitung hindern will. Dies ist die Hauptfrage schon seit Beginn der Pandemie, und sie ist immer noch nicht beantwortet, sie ist vielmehr ins Religiöse verschoben worden, ist den Wächtern über Tugend und Glauben zu gestrenger Moderation überantwortet worden.
Wer beim Nachdenken über diese Frage die Statistik ignoriert, wer die Zahlen zur Übersterblichkeit, zur Risikostratifizierung nach Altersklassen und zur Infection Fatality Rate ignoriert und stattdessen Einzelschicksale in die Waagschale wirft, der muss erklären, warum wir bis zum Jahr 2020 offenbar als moralische Monster leben konnten, indem wir in D, A und CH einfach so Jahr für Jahr über eine Million einzelne Menschen mit einzelnen Schicksalen an Todesursachen jedweder Art sterben lassen konnten.
Er oder sie müsste erklären, an welcher Ursache wir überhaupt noch Menschen sterben lassen können. Welche Krankheiten dürfen wir hinnehmen, ohne Lockdowns zu veranstalten und prophylaktische Therapien zur gesetzlichen Pflicht zu machen? Welche Art von Tod wäre ethisch unbedenklich?

Wir könnten wahrscheinlich sehr viel leichter diverse andere Todesursachen verhindern als ausgerechnet ein saisonales Atemwegsvirus. Wir könnten die allgemeine Gesundheit fördern, die Anfälligkeit für Tumor- und Herz-Kreislauf-Erkrankungen mindern, indem wir beispielsweise all die Fett-Zucker-Chemie-Schrott-Nahrungsmittel aus dem Verkehr ziehen und Kinder zu sportlichen Frischluftaktivitäten animieren, statt sie digital abzutöten. Menschen langfristig und dauerhaft aus ihren Entartungszusammenhängen befreien und zu artgerechter Lebensführung erziehen, das wäre ein Anfang.

Wir werden ein Coronavirus wie SARS-CoV-2 unter Einhaltung bewährter Rationalitäts-Standards nicht groß an der Ausbreitung hindern können. Der Vergleich der verschiedenen Länder mit ihren verschiedenen Strategien lässt keine klaren Kausalzusammenhänge zwischen staatlicher Intervention und Krankheitsgeschehen erkennen. Es werden dieses Jahr so wie im letzten Jahr und in jedem zukünftigen Jahr zehntausende Menschen an diesem Virus und an anderen respiratorischen Viren versterben [6], hier mehr, dort weniger. Menschen, deren Immunabwehr aufgrund ihres Alters oder infolge von Grunderkrankungen geschwächt ist, sterben an Lungenentzündungen durch saisonale Atemwegserkrankungen. So trivial und so traurig ist das nun mal. Diese Risikogruppen sollten bestmöglich geschützt werden, indem sie im Gespräch mit ihrem Arzt auf ihr Risiko aufmerksam gemacht werden und zum kompetenten Selbstschutz befähigt werden. Dann werden einige von ihnen vielleicht ein paar Jahre länger leben, indem sie die Gefahr einer Ansteckung einigermaßen effektiv vermeiden.

Menschen, die das nicht selber können, weil sie pflegebedürftig sind, müssen selbstverständlich geschützt werden, in Pflegeheimen müssen zweifellos besondere Hygienestandards gelten. Und wenn es die Bewohner trotzdem erwischt, dann müssen sie in Würde sterben dürfen, anstatt wochenlang eine nahezu aussichtslose Intensivbehandlung erdulden zu müssen.

Mit dem Geld, das die Corona-Politik verbrannt hat, hätte man Altenheime in goldene Paläste mit allermodernsten Palliativabteilungen und bestens bezahlten und motivierten Pflegekräften verwandeln können, in Orte, wo Zeit und Raum für echte Menschlichkeit wäre.

Das Traurige und das Tragische durch totalitäre Gesundheitspolitik unter Kontrolle bringen zu wollen, hat mit Menschlichkeit rein gar nichts zu tun. Die Vorstellung, man könnte die alljährlichen Todesfälle infolge finaler Atemwegsinfektionen mittels politischer Maßnahmen nennenswert reduzieren, ist schlichtweg wahnhaft.


Zwischen Corona und Ebolapocken

Die obigen Überlegungen standen unter der Prämisse, dass wir es in Sachen Impfung mit moralischen Menschen zu tun haben, mit gutartigen, nachdenklichen Bürgern, die nach Kräften das Richtige tun wollen.
Die Ethikelite und mit ihr die vereinigte Moraljournaille gehen aber davon aus, dass sie es mit amoralischen Menschen zu tun haben, mit unsolidarischen, asozialen Egoisten wie dem Schreiber dieser Zeilen, und dann stellt sich eben die Frage, ob es moralisch vertretbar ist, die Amoralischen per Gesetz zur Impfung zu verpflichten oder sogar zu zwingen.
Ist es?

Dass für Konsensmedien und politische Vulgärethiker der Fall klar ist, bedarf keiner weiteren Ausführung. Deren moralisches Problem liegt höchstens in den zu erwartenden gesellschaftlichen Spannungen und forcierten Spaltungstendenzen, nicht in der Angemessenheit unter Public-Health-versus-Freiheits-Gesichtspunkten. Es geht den Mehrheitsmoralisten nicht um den Schutz der Risikogruppen, sondern um die Erziehung der vermeintlich Unsolidarischen. Es geht nicht um ergebnisorientierten Utilitarismus, sondern um die Durchsetzung einer borniert-sentimentalen Tugendethik.
Die angebliche „breite Debatte, die jetzt geführt werden muss“, ist so gut wie entschieden. Die allgemeine Corona-Impfpflicht wird kommen. Alles andere würde mich ziemlich überraschen. [7]

Ich persönlich bin übrigens nicht generell gegen eine Impfpflicht, im Fall von Corona aber sehr wohl.
Wir haben hier eine Abwägungsfrage, die sich schlichtweg danach richten muss, mit welchem Ausmaß an Gefahr wir es real zu tun haben.

Es gibt unter Coronamaßnahmen-Kritikern einen Freiheitsabsolutismus, den ich nach wie vor nicht teilen kann. Ich zitiere beispielhaft Max Mannhart: „Die Entscheidung über die Impfpflicht ist die Entscheidung darüber, ob die Bürger dieses Landes im Allgemeinen das Recht haben, über ihren Körper und ihre Gesundheit die letztendliche Entscheidung zu treffen. Egal, wie wirksam die Impfung ist oder nicht, egal wie viele Nebenwirkungen sie hat oder nicht – es geht um nicht weniger als das. […] Und diese Entscheidung muss jeder Bürger dieses Staates in jedem Moment treffen dürfen. Die Freiheit gilt entweder für alle, immer, bis in den letzten Millimeter – oder für niemanden.“ [8]

Nein, die Freiheit gilt nicht „für alle, immer, bis in den letzten Millimeter“, sie kann selbstverständlich eingeschränkt werden. Und auch die Selbstbestimmung über den Körper muss eingeschränkt werden können: Wenn eine bestimmte Voraussetzung erfüllt ist, nämlich die, dass eine wirkliche epidemische Gefahrenlage besteht. Nicht irgendeine herbeigetestete Fantasylage, sondern eine objektiv feststellbare, den Kriterien evidenzbasierter Epidemiologie entsprechende Notlage.
Wenn die Ebolapocken [9] unterwegs wären, wäre ich wahrscheinlich sehr aufgeschlossen nicht nur für eine Impfpflicht, sondern auch für einen Impfzwang, vorausgesetzt, den Biontechs bliebe überhaupt genug Zeit, um ein Vakzin zu entwickeln.

Man kann darüber diskutieren, wo genau zwischen Corona und Ebolapocken die Schwelle liegen muss, an der der Staat, bzw. die exekutive Instanz, die über den Ernstfall entscheidet, sich über die Freiheitsrechte des Einzelnen hinwegsetzen darf. Aber dass es Szenarien gibt, bei denen der Bürger nicht mehr groß gefragt wird, wie er sein persönliches Risiko mit dem Risiko für die Allgemeinheit abwägen will, scheint mir recht plausibel.
Corona allerdings liegt nach allem, was wir wissen, deutlich unterhalb dieser staatsgewalttheoretischen Ernstfall-Schwelle.


Zwischen Prinzip und Praxis

Wie schwer es auch altbewährten Köpfen fällt, zwischen Prinzip und konkreter Praxis den realitätsadäquaten Standpunkt zu finden, zeigt sich beim „konservativen Vordenker“ Karlheinz Weißmann, der in einem vielkritisierten Beitrag pro Impfpflicht [10] zu bedenken gibt, dass „die Freiheit, die wir genießen, weder Himmelsgabe noch Selbstverständlichkeit ist. Sie beruht auf Bedingungen, vor allem dem Vorhandensein staatlicher Ordnung. Das Wesen solcher Ordnung ist, daß sie die Freiheit des Individuums reguliert und einschränkt. Auch wenn das unter normalen Umständen kaum spürbar ist, fügt sie den Menschen ein und zwingt ihn notfalls zum Fügen. Man mag die Regeln in Frage stellen und kann trefflich darüber streiten, wie das Einfügen konkret vonstatten zu gehen hat und darüber, ob ein Notfall besteht oder nicht. Aber an dem Zusammenhang selbst dürfte kein Zweifel bestehen.“
Darüber allerdings, „ob ein Notfall besteht oder nicht“, macht er sich keine weiteren Gedanken. Für ihn ist offenbar fraglos, dass die „Volksgesundheit“ ernstlich gefährdet ist. „Ist die Impfpflicht das Mittel der Wahl, um sie zu schützen, dann hat der Staat sie durchzusetzen und darf über die Vorbehalte, die Uneinsichtigkeit oder den Unwillen einzelner hinweggehen, um das Gemeinwohl zu schützen.“
Und Weißmann folgert mit erstaunlicher Arglosigkeit: „Also: Ärmel hoch!“

Ich erlaube mir dagegen vorzuschlagen: Kopf hoch! Großhirn einschalten und das Rechtsgutachten von Dietrich Murswiek im Auftrag der Initiative freie Impfentscheidung e.V. lesen! Da steht nämlich alles Wichtige und Abwägungsrelevante drin. [11]
Murswiek argumentiert in diesem Text von Anfang Oktober vornehmlich gegen den indirekten COVID-19-Impfzwang, und er argumentiert natürlich unter verfassungsrechtlichen Gesichtspunkten. Die Argumente lassen sich aber meines Erachtens auch komplett auf die direkte Impfpflicht anwenden, und die verfassungsmäßige Abwägung deckt sich hier weitgehend mit der ethischen Abwägung.

Es geht dem Staat offenbar „nicht um Gefahrenabwehr, sondern um Optimierung des Gesundheitsschutzes im Sinne einer Risikovorsorge unterhalb der Gefahrenschwelle. Um Risiken zu bekämpfen, die nicht ganz erheblich größer sind als die allgemeinen Lebensrisiken, die seit jeher akzeptiert sind und den Staat noch nie zu Interventionen durch Freiheitsbeschränkungen für die Allgemeinheit bewogen haben, darf nicht die Freiheit von Menschen eingeschränkt werden, die für diese Risiken nicht verantwortlich sind.“ (S. 107)
Es „lässt sich eine kategoriale Ungleichbehandlung von Geimpften und Ungeimpften bei Regeln über den Zugang zum öffentlichen Leben und auch bezüglich der Quarantänepflichten nicht mit Sachgesichtspunkten des Infektionsschutzes rechtfertigen.“ (S. 108)
Der „Impfdruck ist verfassungsrechtlich als Eingriff in das Selbstbestimmungsrecht über die körperliche Unversehrtheit […] sowie als Eingriff in das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit […] einzustufen. Dieser Eingriff wäre verfassungsmäßig, wenn er sich anhand eines verfassungsrechtlich legitimen Gemeinwohlziels rechtfertigen ließe. Dies ist aber nicht möglich. Als legitimes Gemeinwohlziel kommt es nicht in Betracht, die Ungeimpften, auf die man Druck ausübt, vor einer Infektion zu schützen. Sie können kraft ihres verfassungsrechtlich garantierten Selbstbestimmungsrechts autonom entscheiden, welchen Risiken für ihre Gesundheit und ihr Leben sie sich aussetzen und welche Risiken sie vermeiden wollen. […] Es ist eine Perversion des Rechtsstaatsprinzips, alle Ungeimpften als Gefährder anzusehen und in ihre körperliche Integrität einzudringen, um Zwecke der Allgemeinheit zu verfolgen.“ (S. 109f.)

Aber, ich stelle fest, wir bewegen uns wieder mal im Kreis, wir richten rationale Argumente und Rechtsstaatsprinzipien an eine neue Normalität, die für derlei kalte Vernünfteleien nicht mehr empfänglich ist. Das große – ich fürchte: unlösbare – Problem besteht weiter darin, dass alle für uns Corona-Impfpflicht-Gegner völlig schlüssigen Argumente niemanden überzeugen können, der in dem Wahn lebt, dieses Virus sei so gefährlich wie Ebola. Medien, Politiker, Ethiker, Verfassungsrichter und Montgomerys tun aber weiterhin ihr Bestes, um die Menschen in ihrem Wahn zu bestärken.

Die Impfpflicht wird kommen. Corona-Realisten werden sich langsam Gedanken machen müssen über Formen des wahnbrechenden Widerstands, die mehr Wirkung erzielen als gelehrte Gutachten, geistreiche Kommentare und Betrachtungen wie die, die hier mit pessimistischster Ratlosigkeit zu Ende geht.


 

[1] https://books.google.de/books?id=yj_MqF0cmeAC&pg=PA114&lpg=PA114&dq=Krankheitsd%C3%A4monen+blutwurm&source=bl&ots=AWradKiZP6&sig=ACfU3U0EtCM75gYVAAvc1LVC0jyxofU5lw&hl=de&sa=X&ved=2ahUKEwip9_uHssr0AhXRh_0HHTAiC6oQ6AF6BAgCEAM#v=onepage&q=Krankheitsd%C3%A4monen%20blutwurm&f=false

[2] https://de.wikipedia.org/wiki/S%C3%BCndenbock

[3] So die steirische Gesundheitslandesrätin Juliane Bogner-Strauß (ÖVP)

https://www.heute.at/s/oevp-politikerin-bezeichnet-ungeimpfte-als-todesengel-100173083

[4] Die Schweizer Medizinethikerin Tanja Krones, Mitglied der Nationalen Ethikkommission am 26.11.2021 in der NZZ

https://www.nzz.ch/wissenschaft/impfpflicht-moralisches-gebot-versus-ethische-abwaegungen-ld.1656871

[5] Oder nimmt nicht vielleicht eher eine desaströse Politik beiden das Bett weg?

[6] Korrekt ausgedrückt: Sie werden teilkausal daran versterben, vgl. https://marcus-jay-ludwig.de/zurueck-in-die-realitaet-2/

[7] https://www.tagesspiegel.de/politik/eindeutige-umfragen-anhaltende-debatten-kommt-die-impfpflicht-wer-dafuer-wer-dagegen-ist-und-warum/27856318.html

[8] Max Mannhart: Die allgemeine Impfpflicht stellt die Frage, ob wir noch Bürger sind.

www.tichyseinblick.de/meinungen/impfpflicht-buerger

[9] „Ebolapocken sind eine potenzielle hybride Form von Pocken, die durch das Einfügen von Ebolagenen in das Genom der Pocken entstanden sein soll, wodurch Eigenschaften des Ebolavirus mit denen des Pockenvirus kombiniert worden sein sollen.“

https://de.wikipedia.org/wiki/Ebolapocken

[10] https://jungefreiheit.de/debatte/kommentar/2021/fuer-impfpflicht/

[11] https://impfentscheidung.online/wp-content/uploads/2021/10/Gutachten-Die-Verfassungswidrigkeit-des-indirekten-Corona-Impfzwangs.pdf

 

 

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© Marcus J. Ludwig 2021.
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