Annäherungen an das politische Böse der Gegenwart
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Was ist das, was wir gerade erleben? Wir, jene oppositionellen Realisten, die zur Flucht aus der Zeit irgendwie doch immer noch zu fasziniert von ihr sind, die zum billigen Ablenkungskonsum zu asketisch und zu anspruchsvoll, zum trostreichen Drogen-Eskapismus nicht rücksichtslos oder nicht reich genug sind, wir, die zum verlogenen Übersehen des Faktischen oder des immerhin Fragwürdigen um irgendeines lieben Friedens willen einfach zu tatsachensüchtig sind – wir merken, wie die Geschichte auf Abwege gerät, wir spüren – gelegentlichen Machtwechseln und Umbesetzungen innerhalb der politischen Klasse zum Trotz – die zunehmende Schräglage der Welt. Die Welt, mindestens die westliche Welt und in ihr besonders die deutsche Welt, ist offenkundig in eine Phase eingetreten, die die Historiker irgendwann einmal werden benennen müssen, als das Zeitalter des XY oder die XY-Jahre.
Was aber ist dieses XY, was prägt die politische Physiognomie der Epoche? Welche Fratze lächelt uns da kalt und falsch entgegen, wenn wir im Dunkeln zur Decke starren und uns fragen, ob wir je wieder unsern Frieden machen können mit der Zeit, wie sie nun mal geworden und womöglich nicht mehr zu ändern ist.
Die zackig geflügelten Worte, die hier und da durch die alternative Öffentlichkeit schwirren, sie wollen uns aufschrecken aus der Erschöpfung, uns empören gegen das fatale Hinüberschlafen in eine neue Normalität, gewiss zu Recht, aber … treffen sie die Sache? Corona-Faschismus, Klima-Diktatur, Totalitarismus, Orwell, Unrechtsregime, Impf-Apartheid, Autoritarismus, Despotie, Tyrannei, vor allem aber, und immer wieder: Faschismus. Man operiert mit Termini, die einem aus den geschichtlich bekannten Entartungen des Politischen geläufig sind. Aber, im Ernst: Wir haben uns unter Faschismus immer etwas sehr anderes vorgestellt als das, was momentan stattfindet, oder? Was die Geschichtsbücher und die History-Dokus unter dieser Rubrik präsentieren, sind Führerstaaten, verzückte Massen, uniformierte Männerbünde, Squadre d’azione, Parteiarmeen, kultisch durchdesignte Versammlungs- und Aufmarschstätten, Ordnungs- und Reinigungsphantasmagorien, Auslöschungsprojekte. Wir mögen geistige Anklänge finden, die uns alarmieren müssen, die uns im Heutigen sorgenvoll erinnern müssen an die kollektiven Delirien aus schwarz-weißen Zeiten, aber es scheint mir wenig nutzbringend, wenig erkenntnisförderlich, unserer Gegenwart einen hundert Jahre alten Gift-Stempel aufzudrücken, ein Reizwort, das uns verleitet, heutige Machthaber und Diskursherrscher als theatralisch herumgeifernde Schwarz- und Braunhemden zu imaginieren. Nein, wir brauchen andere Worte für das Andere, das Neue, das gerade geschieht.
Ich selber habe diverse Vokabeln verwendet, die mir im Rückblick mal mehr, mal weniger durchdacht und treffend erscheinen. Ich bin Musiker, ich bin leicht verführbar durch den Klang, den Rhythmus und die Assoziationspracht eines Wortes. Coronismus, Hygienediktatur, Sanitätsstaat, Schwarmdebilität, RKIsmus, Szientokratie – ich weiß gar nicht mehr, welche dieser Worte ich mir selbst ausgedacht habe. Sie passen irgendwie in ihrem jeweiligen Kontext, aber wenn es darum geht, einmal ganz unmusikalisch und nüchtern an die Sache heranzutreten, dann muss die Vorgabe sein, den maximal präzisen Terminus zu finden, der so unpoetisch und so assoziationsarm wie nur möglich ist. Es scheint mir nicht nur eine Frage des semantischen Ehrgeizes, vielmehr ein zeitdiagnostisches Desiderat ersten Ranges zu sein, die Gegenwart irgendwie auf den Begriff zu bringen. Das Übel muss exakt benannt und erkannt sein, damit die oppositionellen Kräfte sich fokussiert dagegen formieren können.
„Faschismus“ ist ein schmissiges Schimpfwort, es macht richtig Laune, es dem Gegner mit Beckengeschmetter auf der zweiten Silbe entgegenzuschleudern [1], aber wenig ist gewonnen, wenn man den Begriff ernsthaft auf alles ausdehnt, was irgendwie totalitär, übergriffig, autoritär, freiheitsfeindlich, menschenverachtend anmutet. Willkürherrschaft, Einschüchterung und Ausgrenzung von Andersdenkenden, Gleichschaltungsprozesse, Gruppenmoralismus etc. sind keine exklusiv faschistischen Erscheinungsformen politischer Karzinose.
Faschismus ist schon für das, was uns beim Blick in die historische Epoche entgegenflackert, ein eher unbefriedigendes Label. Bisher hat kaum jemand recht vermocht, dieses männerbündisch-technoide, massen- und herren-hysterische, schmierenmythologisch-futuristische Phänomen in den Grenzen von drei, vier Determinanten dingfest zu machen, meist laufen solche Versuche auf lange Listen von Attributen hinaus, die im Kopf kein klareres Bild erzeugen, als es das Schlagwort „Faschismus“ für sich vermöchte.
Mir scheint, wer heute „Faschismus“ diagnostiziert, redet in Regel nicht von geschichtlichen oder politischen Dingen, sondern bewegt sich eher im Bereich des Okkultismus. Wer Faschisten bekämpft, kämpft nicht gegen Politiker, sondern gegen Dämonen.
Was mir in den gängigen Einkreisungen der Historiker meist zu kurz kommt, ist die ästhetische Dimension der Sache.[2] Meines Erachtens ist die Faschismusfrage in erster Linie eine Frage von Form und Habitus. Vor aller Ideologie ist Faschismus eine psychopolitische Herrschaftsmanier, in deren Zentrum die Ästhetik des Kampfes steht. Faschismus, das ist Herrschaft als Kampf. Der Faschist begreift sich durch tausend Negationen, durch all die Antis, die ihm die Schlagrichtung weisen: gegen die Liberalen, gegen die Kommunisten, gegen die Intellektuellen, gegen die Juden, gegen die Katholiken, gegen die alten Eliten, vor allem gegen den freien Menschen, gegen den widerständigen Einzelnen, gegen das Individuum. Ein faschistisches Regime braucht den Gegner, es braucht den Antipoden, und manchmal hat man das Gefühl, es braucht ihn nur als Anlass zum Abenteuer, zum Abreagieren und Austoben, zum waffengewaltigen, blutig lärmenden Ausdruckstanz.
Ein Stil ist immer Ausdruck seiner Zeit, er kann hundert Jahre später vielleicht zitiert, aber nicht noch mal glaubwürdig reaktiviert werden. Unsere heutigen Psychen sind völlig anders strukturiert als die unserer Groß- und Urgroßeltern. Die naiv-antifaschistische Vorstellung, Faschismus sei eine untergründig in der Gesellschaft schlummernde Disposition zur politischen Monstrosität, und das Monster könne jederzeit von geschickten Volksverführern geweckt werden, ist einigermaßen abwegig.
Das politische Böse [3] kommt in jeder Epoche in einem anderen Outfit um die Ecke, und die Kostümgeschichte der destruktiven Ismen ist nicht nur eine metaphorische, sondern auch eine der wirklichen Gewandungen. Ein Faschist sieht eben aus wie ein Faschist, man erkennt ihn sofort. Wer aber heute nach Gebaren und Verkleidung aussieht wie ein Faschist, kann nur ein Satiriker oder ein Entlaufener sein. Man kennt diese Videos von amerikanischen Neonazis, die mit Uniform, Reitpeitsche und Quadratbärtchen ihre Reden schwingen und den Fööhrer geben, und dabei unfreiwillig mehr an Chaplin als an Hitler erinnern.
Man muss solche Figuren zwar leider ernstnehmen – als Verbrecher und Vollpfosten, die regelmäßig irgendwelchen hirnwütig-sadistischen Klamauk veranstalten und Menschen töten –, aber nicht als politische Kraft. Sie haben mit dem, was heute die Massen bewegt, nichts zu tun.
Es gibt heute keinen Faschismus mehr. Heute gibt es etwas Anderes, und dieses Andere braucht einen anderen Namen. Ein Problem ist, dass es sich selbst bislang keinen Namen gibt. Klar, es nennt sich „Demokratie“ oder „Rechtsstaat“ oder „offene Gesellschaft“ oder „Solidaritätsgemeinschaft“ oder „pluralistische Öffentlichkeit“, aber das sind Marketingfloskeln und Nullaussagen, die das Entscheidende, die Epochenmentalität, bewusst oder unbewusst außer Acht lassen.
Was kennzeichnet den psychopolitischen Stil der Gegenwart? Was charakterisiert unsere Zeit in dem Maße, wie der Faschismus die Zeit zwischen 1919 und 1945 gekennzeichnet hat?
Das Medium
Corona – keine neue Erkenntnis – ist nur ein Symptom einer umfassenderen psychohistorischen Störung. Die Sozialpathologie, die sich rund um die Viruserkrankung ausgebreitet hat, gedeiht auf einer schon wesentlich länger bestehenden Grunderkrankung, einer Mentalitäts- und Charakterdeformation, die auch den Nährboden für die Klima-Religiosität, den Diversity-Kult, den Gender-Irrsinn, den Multikulti-Wahn, die Nazi-Paranoia, die Experten- und Faktenchecker-Frömmigkeit, die Rassismus-Hyperästhesie und all diese modischen Moralismen bildet.
Das hauptsächlich erkrankte „Organ“ unseres Gesellschaftscharakters ist das Medium. Das Medium ist der Sitz aller Vermittlungsfunktionen, die der Einzelne zum Aufbau eines realistischen Verhältnisses zu seiner zeitgenössischen Welt braucht. Ich sage „das Medium“, weil „die Medien“ zu sehr nach einzelnen Zeitungen und Fernsehsendern klingt, und weil dieser Plural nicht die Gesamtheit abbildet, zu der eben neben den klassischen Presseinstanzen seit etwa anderthalb Jahrzehnten auch die sozialen Medien gehören, die zum Krankheitsgeschehen mindestens so viel beitragen wie die profi-journalistischen Formate.
Das Medium hat sich als neue Instanz etabliert zwischen Ich und Über-Ich. Es ist zu einer ins Riesenhafte hypertrophierten seelischen Zwischenstruktur geworden, die den Wirklichkeitsabgleich, dessen das Individuum und die Gesamtgesellschaft kontinuierlich bedarf, dermaßen ins Überkomplexe getrieben hat, dass die Menschheit mittlerweile an immer mehr Stellen der Realität zu scheitern droht. Die Menschen verstehen die Welt nicht mehr. Das bedeutet nicht, dass ihnen irgendein Wissen fehlt, sondern dass die unentwirrbare, nur noch durch trotzige Glaubensentschlüsse in den geistigen Griff zu bekommende digitale Parawirklichkeit sie immer weiter entfremdet von der realen Welt.
Die reale Welt ist da, jeden Tag, vor ihren Augen. Aber sie können ihr nicht mehr vertrauen, weil um jedes Ding und jede Person, um jeden Wert und jede Bedeutung herum ein Vorbehalt flimmert, ein schlimmer Schein und Verdacht. Das dunkle Parallelempfinden der Uneigentlichkeit, das argwöhnische Aber hat sich in der Weltwahrnehmung des medialisierten Menschen eingenistet. Er steht vor der Realität mit dem Gefühl, dass vielleicht alles ganz anders ist, und dass er in diesem rauschenden Gewirr der Widersprüchlichkeiten eigentlich nur noch alles falsch sehen kann.
Würde man diesen Befund verfilmen, würde man den Figuren wohl eine Art auratischer Datenwolke aus Zahlenkolonnen und Indices um den Leib zaubern, und ihre Interaktionen mit einem Gewirr enigmatischer Codes und instabil leuchtender Querverbindungen illuminieren, und wenn ein Mitmensch, ein Nebenmensch was sagt, laufen unter seiner vom „Eigentlichkeitsdetektor“ analysierten Tonspur hundert bruchstückhaft dechiffrierte Subtexte entlang, die mit so und so großer Wahrscheinlichkeit zu dem aktuell gültigen Weltbild passen, das den dystopischen Massen über omnipräsente Bildschirme nahegelegt, eingeworben, aufgeprägt wird.
Aber abgesehen von dieser etwas B-Movie-mäßigen Visualisierung ist das ja bereits unsere Gegenwart. Das ist der heutige Mensch in seiner existenziellen Entstelltheit. So sieht es aus, wenn man die Welt nicht mehr erlebt, sondern sie nur noch bewertet. Wenn man die Welt nicht mehr wahrnimmt, sondern nur noch ablichtet; wenn man sie nicht mehr durchdenkt, sondern nur noch googelt. Wenn man vom Naheliegenden absieht und nur noch auf den Bildschirm guckt. Wenn man sich, statt das Unmittelbare begreifen zu wollen, nur noch am Endgerät festhält. Wenn man zwischen sich und den Baum, zwischen sich und das Meer, zwischen sich und den Nächsten eine Maschine hält. Und wenn man zwischen sich und die Moral ein Medium hält. Wenn das Leben ein Nachstellen von industriell vorgefertigten Bildern und ein Erfüllen von millionenfach herbeigezwitscherten Erwartungsschemata geworden ist.
So sieht man aus als ein von Medienmaschinen formatierter Massenmensch. Und die Masse mag offenbar, wie sie aussieht.
Diese Menschenprägung, diese Massenformung ist vielleicht gar nichts grundsätzlich anderes als das, was Edward Bernays vor knapp hundert Jahren unter „Propaganda“ verstand [4], aber die heutige mediale Macht zum Tiefendesign, die Totalität des Zugriffs und die Eingriffspermanenz sind überhaupt nicht mehr vergleichbar mit irgendwelchen Kampagnen und Marketingevents in der guten alten Moderne der neunzehnhundertzwanziger Jahre.
Bernays, Neffe Sigmund Freuds und Vater der Public Relations, verstand Propaganda als elegantes und effizientes Instrument zur Ordnung des gesellschaftlichen Chaos. Das war vor hundert Jahren gewiss ein zeitgemäßer Ansatz, wenngleich auch damals natürlich schon die entscheidende Frage war, wer denn dieses Instrument in Händen halten und bedienen soll. Die Frage also, woher geeignete Eliten kommen, und wer sie zu ihrem elitären Schalten und Walten legitimieren soll.
Diese Frage ist schon diffizil genug, aber seit dem Internet ist auch das Chaos nicht mehr nur das gute alte Chaos, das hastende, plappernde und zeitungslesende Menschengewirr auf den Straßen amerikanischer Städte. Seit dem Internet hat sich das Chaos vertausendfacht. Und die politmedialen Eliten versuchen immer noch, es zu ordnen, durch … durch Propaganda?
Ich würde sagen – um den Akzent auf den Einfluss des Unbewussten zu legen: durch Sinnstiftungsgeschichten, strukturbildende Rahmenerzählungen, harmonisierende Interpretationsschemata. Durch Narrative. Narrative, die angesichts völliger Überforderung durch eine mittlerweile unmenschliche Komplexität immer reduktionistischer, immer gezwungener, immer unrealistischer, immer traumlogischer, immer fiktiver anmuten.
Gewiss, wir brauchen Narrative. Ohne die Deutungserzählungen des Daseins wäre Homo Sapiens, dieser zur Selbsterkenntnis verdammte Menschenaffe, längst von der Evolution aussortiert worden. Seit tausenden von Jahren wird der Mensch notwendig in ein dicht gesponnenes „Sinngeflecht“ (Y. N. Harari [5]) hineingeboren, eine intersubjektive Mentalitätstextur aus Traditionen, Glaubensvorstellungen, Heilserwartungen, Sehgewohnheiten, natürlich und kultürlich vorgeformten Haltungen zum Leben und zur Welt. Und darin nun sich selbst zu erkennen, darin – und gleichzeitig ganz unabhängig von diesem Gewebe – sich zu individualisieren, sich auch nur vorzustellen, wie man wäre, wie man sein könnte, wenn man wirklich frei wäre von allen Voraussetzungen und nur dem verpflichtet, was man selbst erkannt hat und für sich als bedeutend und erstrebenswert erachtet – das war schon unter vormodernen Bedingungen schwierig genug. Es ist seit Ewigkeiten das Kernbestreben aller psychologisch orientierten Philosophie, und die wenigen, die hier über die Jahrhunderte zu präsentablen Ergebnissen gelangt sind, erscheinen uns zu Recht als Weise und Meisterdenker.
Unser Problem ist aber nun, dass der Gesellschaftsgeist heute von ganz anderen Webern und auf ganz anderen Webstühlen gewoben wird als zu Zeiten Epikurs, Meister Eckharts oder Nietzsches.
Unser Bewusstsein davon, worum es im Leben eigentlich geht, wird nicht mehr von den Erzählungen der Stammes- oder der Dorfgemeinschaft bestimmt, vom Vortrag des Schulmeisters, von der Predigt des Pfarrers, vom Gerede auf der Gasse und einigen wenigen Büchern, die man zufällig in die Hände bekam. Es wird seit mindestens hundert Jahren von Profis für Propaganda und Public Relations formatiert, manipuliert, dirigiert. Und seit etwa zwanzig Jahren wird es zusätzlich noch mit unmenschlichen Massen von medialem Müll, von dauerkommunikativem Schund und Schrott bombardiert. Der Gedanke, man könne all das, was täglich auf die Psyche einstürmt, einfach übersehen, man könne ganz bei sich bleiben und all die Jahre des Bullshit-Bombardements in sich ungeschehen machen, scheint reichlich vermessen. Er wäre deutlich weniger abwegig, wenn es mehr Journalisten gäbe, die ihren Job ordentlich machten. Die die Welt möglichst objektiv zu vermitteln suchten, statt sie „besser“ machen oder gleich neu erschaffen zu wollen. Doch die meisten machen leider genau das, was Marketingprofis, Politiker, Prominente, Talkshowmoderatoren, Werber, Pressesprecher, Lobbyisten, Aktivisten, Influencer, Priester und Propagandisten machen: Geschichten erzählen. Am liebsten Geschichten vom neuen Menschen und von den feindlichen Kräften, die ihn bedrohen.
Die guten Gründe
Die Machtfrage, die Herrschaftsfrage wird zunehmend von der Öffentlichkeitsfrage überformt. Die traditionelle Herrschaftsfrage lautet ungefähr: Wer kann wen mit welchen Mitteln dazu bringen, sein Leben so oder so zu gestalten? Oder: Wer bekommt auf welche Weise die Macht verliehen, andere zwingen zu dürfen, Dinge zu tun, die sie eigentlich von sich aus nicht tun würden?
Heute allerdings geht es nicht mehr allein um Zwang und Macht und deren Legitimation, sondern um Techniken, vor allem um Psycho- und Kommunikationstechniken, die den spürbaren Zwang nahezu überflüssig machen. Es geht nicht mehr vorrangig um Schlägertrupps und Geheimpolizeien, die den Beherrschten Gehorsam einprügeln. Es geht um den leisen Wind, der die Flugrichtung des Zeitgeistes bestimmt. Es geht um die Stimmung, die Befindlichkeit, die Innerlichkeit der Öffentlichkeit.
Die entsprechende Frage lautet: Wer hat welche Möglichkeiten, seine Version von Wirklichkeit in welcher Lautstärke, Frequenz und Reichweite zu Gehör zu bringen? Welche Selektionsprozesse sorgen dafür, dass bestimmte Interpretationen einer Faktenlage Relevanz gewinnen, dass bestimmte Stimmen, bestimmte Meinungen miteinander ins Gespräch kommen und qua akkumulierter Geisteskraft (oder auch nur per Schalldruck) den Raum des allgemein Vorstellbaren aufspannen?
Wenn die naheliegende Antwort lautet: „die Medien“, dann würde es vielleicht ebenso naheliegen, unsere Gegenwart als Zeitalter des Medialismus zu bezeichnen.
Medialismus würde dann etwa heißen:
Menschen, die über Texte und Bilder, über Sender und Plattformen, über Lautstärken und Frequenzen gebieten, bringen die Massen dazu, Zumutungen zu akzeptieren, die sie eigentlich zurückweisen würden, wenn sie sich auf das verlassen würden, was sie aus eigener Anschauung für glaubhaft und geboten halten.
Menschen, die über Nachrichtenwert und -unwert entscheiden, bringen die Massen dazu, Zustände für real und Themen für relevant zu halten, die sie ohne den Konsum der Medien eigentlich für wahnhaft gehalten hätten, für abwegig oder einfach für unwichtig.
Menschen, die über Sagbarkeitsstandards und „smarte“ Sanktionsmechanismen walten, bringen die Massen dazu, einem Sinngeflecht innerlich bereitwillig zuzustimmen, demgegenüber sie mit Blick auf geschichtliche, als unsinnig erkannte Sinngeflechte mindestens skeptisch sein müssten.
Menschen, die über Popularisierungskompetenzen und Idolisierungspotenziale verfügen, bringen die Massen dazu, Strukturen des Begehrens in sich zuzulassen, von denen sie, die Begehrenden, mindestens ahnen, durch ein paar Minuten des Nachdenkens aber eigentlich auch wissen könnten, dass es Implantate sind, dass sie also Wünsche und Sehnsüchte in sich tragen, Motivationen verspüren, Ziele verfolgen, die eigentlich nicht aus ihnen selbst kommen, sondern von externen Instanzen in ihnen erzeugt wurden.
Menschen, die über die medialen Produktionsmittel und Distributionskanäle verfügen, über die „Webstühle“ des intersubjektiven Sinngeflechts, bringen die Massen dazu, die Muster dieses Geflechts schön zu finden, attraktiv und zeitgemäß, obwohl sie eigentlich gar nicht auf diese Art von Muster stehen. Sie finden plötzlich kleines Karo und strenge Längslinien schön, obwohl sie bisher eigentlich immer Querstreifen und natürliche Wellenmuster mochten.
Das etwa würde „Medialismus“ bedeuten. Medialismus wäre, kurz gesagt, die Herrschaft derer, die die Mittel haben, die Eigentlichkeit außer Kraft zu setzen.
Die Medien entscheiden über die Zusammensetzung, die Rezeptur, das Mischungsverhältnis der öffentlichen Meinung, sie bestimmen unter dem wissenschaftlichen Deckmantel der Nachrichtenwerttheorie [6] über Prioritäten und Hierarchien der Relevanz, sie gewichten und färben, sie geben den Tatsachen den erwünschten moralischen Beigeschmack.
Man muss sich immer wieder, jeden Tag aufs Neue, klarmachen: Die Tagesschau (das Landesmagazin, die Lokalzeit) könnte immer auch komplett anders aussehen, man könnte – ganz ohne zu lügen – jeden Tag hundert alternative Tagesschauen zusammenstellen, je nachdem, welche Themen man für die wichtigsten hält. Welche Nachricht bedeutsam ist, welches Thema von „allgemeinem Interesse“ ist, welche Bilder ein Geschehen treffend illustrieren, all das korreliert nur ganz vage mit „der Realität“. Es gäbe tausend gute Gründe statt zwei Minuten über eine Bundestagsdebatte zwei Minuten über einen Schlachthof zu berichten, statt zwei Minuten Fußball-Bundesliga zwei Minuten Literaturarchiv Marbach zu zeigen. Statt der Buchmesse Frankfurt den Weimarer Zwiebelmarkt, statt der Börsenkurse ein paar Messerattacken, statt Intensivstationen marode Schultoiletten zur Nachricht zu machen.[7]
Die Frage ist halt nur, wer über die „guten Gründe“ gebietet.[8]
Das Rauschen der Weltseele
Mit dem Label „Medialismus“ benennen wir aber nur die Außenseite der Macht. Die treibenden Kräfte liegen im Innern der Akteure, wir haben es mit einzelnen Menschen und ihren Motiven zu tun, mit ihren Leidenschaften, Impulsen, Automatismen, ihren vom individuellen Charakter und vom Gesellschaftscharakter strukturierten Lebensbewältigungs- und Problemlösungsgewohnheiten. Und der Tiefenpsychologe muss fragen: Was wollen all diese Menschen wirklich? Was wirkt da unter den sozialkonstruktivistischen, hypermoralistischen, weltverbesserischen Oberflächen, was wollen jene, die uns der Eigentlichkeit berauben wollen, die uns mental ent-eignen wollen, die uns ihre Version vom Sein und vom Sollen aufzwingen wollen – was bewegt diese Leute im tiefsten Innern?
Es ist das alte Problem der Freiheit. Die Zumutung der Freiheit und die Angst vor einer Freiheit, die längst in Haltlosigkeit umgeschlagen ist. Die Bewegung ist das zittrige Balancieren, das ausgleichende Taumeln auf einem dünnen, löchrigen Netz über der Tiefe. Hinter der medialen Aggression des Zeitalters steht eine große existenzielle Verunsicherung, das Empfinden einer generellen Destabilisierung aller mentalen Lebensgrundlagen: die Panik im Angesicht des sich immer weiter auflösenden alten Sinngeflechts. Und überall, wo das Gewebe fadenscheinig wird, sich aufribbelt, überall, wo das Sicherungsnetz unter dem Dasein zu reißen droht, überall dort muss nun mit neuen Fiktionen ausgebessert werden.
Die alte Zeit, in der „das Wünschen noch geholfen hat“, ist vorbei. Dieses märchenhafte Zeitalter vor dem Internet, in dem kleine Eliten, ein paar wenige öffentlichkeitsbeherrschende Geschichtenerzähler, die Wirklichkeit unter sich aushandeln konnten, und die Massen mit dieser Wirklichkeit zufrieden waren, ist hinter uns versunken. Die traditionellen Fiktionen, die man mit einem gewissen Gewohnheitsrecht für sinnreiche Realitäten halten konnte, lösen sich täglich weiter auf.
„Die Nation ist der angestammte Lebensraum unseres psychopolitischen Selbst.“
„Der Staat als Rechtsgemeinschaft ordnet das Zusammenleben seiner Bürger, er hat ein vitales Interesse an der Selbsterhaltung und verteidigt seine Grenzen.“
„Die Medien stellen eine Öffentlichkeit her, in der alles zur Sprache kommen kann, alles verhandelt werden kann, was nicht gegen Gesetze verstößt.“
„Die Kultur hilft uns, emotionale Ersatzheimaten zu finden in der Natur- und Instinktferne, in die wir uns als Menschheit hinausentwickelt haben. Das Eigene, Tradierte, organisch Ausdifferenzierte bedarf so wenig einer Rechtfertigung wie unsere Augenfarbe, unser Körperbau, unsere Verwandtschaftsverhältnisse, unsere Verwachsungen und Behinderungen.“
„Die Wissenschaft erweitert unser Bewusstsein von der Realität, die uns umgibt, sie ist idealerweise von der reinen Rationalität geleitet und im besten Sinne frei von allen Interessen und Leidenschaften, die nichts mit Erkenntnis zu tun haben.“
„Das Recht ist stark genug, um sich auch gegen schwache Richter Geltung zu verschaffen.“
„Die Geschichte bewegt sich unter Anwendung immer breiter ausgebildeter sozialer und kognitiver Kompetenzen, immer höherer Standards an Rationalität, Sensibilität, Humanität und Moralität, immer wirksamerer Kontrollmechanismen in Politik und Wissenschaft, immer funktionalerer Verfahren der Gesellschaftskonstruktion, hin zu immer mehr Freiheit, Friedfertigkeit, Aufgeklärtheit, Wohlstand, Kooperation, Gerechtigkeit, wertebasierter Weltgemeinschaftlichkeit.“
„Die Menschheit nimmt Vernunft an. Langsam, aber sicher wird alles besser.“
Nichts davon stimmt mehr. Nichts davon trägt mehr. Nichts davon passt – paradoxerweise – mehr in eine Welt, in ein Weltbewusstsein, das durch das Internet so groß, so global geworden ist, dass kein noch so wundersam evolvierter Menschenaffe, kein noch so über sich hinausgewachsenes Hordentier, kein Homo Sapiens mit seiner – eigentlich und immer noch – auf Horizonte und Lebensmaße der Savanne berechneten psychischen Ausstattung je damit zurechtkommen könnte.
Bewusstheit mag im Allgemeinen ein erstrebenswerter Zustand sein. Bewusstheit ohne Sinn aber ist die Hölle.
Die Raumfahrt hat uns vor einem halben Jahrhundert den Blick von außen, von oben hinab auf unsern Planeten aufgenötigt. Aber das war ein Bild ohne Menschen, wir sahen kein Leben, wir sahen nur ein blaues Wunder, einen großen Bluescreen, auf den wir unser Staunen und unsere Sinnfragen projizieren konnten. Keine einzige Illusion wurde durch die astronautische Perspektive zerstört. Man konnte weiter an alles Mögliche glauben, man konnte in seiner eigenen Welt leben, auch wenn die Umwelt ins Unendliche gewachsen war. Man lebte als modern hochgezüchteter Waldrand-Primat auf einer leuchtend blauen Kugel, die hilflos in einem weitgehend leeren schwarzen All herumhing. Aber irgendwo in der Schwärze konnte immer noch Gott sein, oder sonst ein Sinn.
Die NASA beantwortete keine einzige unserer ersten und letzten Fragen. Das Internet aber beantwortet beinahe alle Fragen, es enttäuscht all unsere Illusionen über die Möglichkeiten des Menschen: Wir sehen die Menschen, alle Menschen, wir erleben zum ersten Mal wirklich „Menschheit“, wir sehen in alle Seelen hinein, wir hören das lärmende Rauschen der Weltseele, wir finden alle verfügbaren Informationen, wir finden alle denkbaren Gedanken, alles, was das Großhirn hergibt – und wir finden keine Spur von Sinn. Nur die erschreckende Sicherheit, dass wir nie wieder einen Sinn finden werden.
Fiktivismus
Wenn wir nach dem wirklichen Wollen der Medienmenschen fragen, dann – das sollte klar sein – geht es nicht um ein bewusstes Wollen. Denn im Grunde haben wir hier ein psychoanalytisches Problem par excellence vorliegen. Es geht um Fragen des Unbewussten und um all die Abwehrprozesse, welche Bewusstmachung, Einsicht und Verhaltensänderungen erschweren oder gänzlich verhindern. Und wir stellen wieder mal erstaunt fest, wie wenig die Allgemeinheit doch immer noch von den Spielregeln und Dynamiken des Unbewussten weiß.
Die Leute, die sich heute kritisch – oder sagen wir: argwöhnisch – mit der Politik beschäftigen, indem sie immer „Cui bono?“ fragen oder „Folge dem Geld!“ sagen, sind selten gewillt, sich das Böse, das Falsche, das Ungerechte, das Verlogene anders als bewusst geplant und absichtsvoll gesteuert vorzustellen. Sie lesen ein geleaktes Strategiepapier zur Pandemie und sehen all ihre Vermutungen bestätigt. „Da steht es, die wollen uns vorsätzlich in Angst und Schrecken versetzen, so sieht es also wirklich aus, im Geheimen planen die dies und das, etc.“
Solche Enttarnungen, solche „Jetzt-hab-ich-dich!“-Analysen sind das, was man so landläufig Küchenpsychologie nennt. Der verdammte Politiker, der korrupte Journalist, der durchtriebene Regierungssprecher sagt zwar dies, aber in Wahrheit will er das, und wir kriegen raus, was er wirklich will. Und wenn er sich nicht mit Worten verplappert, dann erkennen wir an der Körpersprache, was er im Schilde führt, denn die offenbart immer die Wahrheit, die kann man nicht kontrollieren.
Diese etwas naive Grundhaltung: der Mensch wisse genau, was er wolle, aber er halte es geheim und gaukle etwas Unwahres vor, ist weit verbreitet, und sie wird in gewisser Weise von Büchern wie Bernays‘ „Propaganda“ befördert, wo mal ganz offen dargelegt wird, wie verborgene Strippenzieher die Gesellschaft steuern, wie eine Aristokratie von PR-Managern die Menschen nicht nur in Sachen Mode und Konsum, sondern auch politisch auf Linie bringt, auf jenen Grundkonsens, ohne den keine moderne Massengesellschaft mehr funktioniert.
Sagte ich „naiv“? Natürlich gibt es so etwas wie eine absichtsvoll betrügerische Propaganda, besonders in der Konsumgüterwerbung. Ich habe in meinem früheren Leben an genügend Marketing-Meetings teilgenommen, deren unausgesprochener, manchmal aber auch zynisch offengelegter Subtext immer ungefähr lautete: „Wir haben hier einen Haufen Müll, den kein Mensch braucht, aber wir werden das den Leuten schon schmackhaft machen, indem wir ihnen über alle Kanäle und um drei Ecken herum eintrichtern, warum sie das Zeug unbedingt haben wollen, um sich damit besser, schöner, sicherer, glücklicher, lebendiger zu fühlen.“ Und dann machte man den Leuten das Zeug schmackhaft und freute sich über die erfolgreiche und gewinnträchtige Verarschung.
Ich will sagen: Natürlich sind wir auf Schritt und Tritt mit gesellschaftlichen Akteuren konfrontiert, die genau wissen, dass sie lügen und betrügen. Aber ich bin überzeugt, dass in der Politik und noch mehr in den Medien andere Gesetze gelten, nämlich die Gesetze des Unbewussten, des Halb- und Vorbewussten, jene Gesetze, die auch das Geschehen in jeder Therapiesitzung bestimmen: die Gesetze der Psychopathologie, des Wahns, der Autosuggestion, der Selbststabilisierung, der Fixierung, der Realitätsverleugnung, der Verdrängung, der Verneinung, der Externalisierung, der Projektion. Der Mensch muss irgendwie vor sich selbst bestehen können. Er destabilisiert sich nur ungern. Wer es unternimmt, sich schonungslos selbst zu verstehen, begibt sich in Lebensgefahr.
Die Medien wissen nicht, was sie tun. Sie ahnen es vielleicht augenblicksweise, aber man kann sie rütteln und schütteln und ohrfeigen, sie bleiben bei ihren Narrativen, sie glauben das, was sie sagen. Niemand in irgendeiner Redaktion in Deutschland denkt: „Ich weiß natürlich, dass dieses Corona-Dings ungefähr so bedrohlich ist wie eine Grippe, aber ich erzähl den Leuten mal lieber, dass es die Pest ist, hehe, das verschafft mir nämlich dieses herrliche Machtgefühl, und es steigert die Auflage, die Einschaltquote, die Clickrate, und das ist gut für meine Karriere. Ich könnte dem Publikum die Wahrheit sagen, oder mich einfach neutral verhalten, aber ich tu es nicht, denn das wäre ja ungünstig für mein Bankkonto oder für die Regierung oder den Great Reset.“
Nein, niemand denkt so. Mainstream-Journalisten, -Publizisten, -Propagandisten glauben jedes Corona-Wort, das sie von sich geben, jedes Klima-Wort, jedes Anti-Rechts-Wort, jedes Gender-Wort, jedes Migrations-Wort, jedes EU-Wort, jedes Rassismus-Wort und jedes Windrad-Wort, das sie schreiben und senden. Und vor allem glauben sie, dass sie die Ungläubigen da draußen überzeugen müssen mit ihrem Worten. Sie fühlen sich zuständig für die Richtigstellung der Realität, und was richtig ist, wird ja wohl das sein, was hundert Prozent jener Menschen, mit denen sie tagtäglich zu tun haben, auch sagen, denken, fühlen und für wahr halten. Der Medienbetrieb ist – wie jede Religionsgemeinschaft – ein hermetisches Wahnsystem.
Die Stabilität dieses Systems wird nicht zuletzt durch die raffinierte Autosuggestion gewährleistet, man diskutiere doch unter sich durchaus heftig und kontrovers, ja, man empöre sich doch sogar öffentlich sichtbar gegen dies und das, was andersdenkende Kollegen so äußern. Die „Andersdenkenden“ sind aber in der Regel „Nahezu-Gleichdenkende“, die Abweichung vom allgemeinverbindlichen Grundkonsens ist minimal, und die „Streitereien“ in Talkrunden drehen sich nur um Details und graduelle Fragen, etwa ob man die Menschen zum Impfen zwingen darf oder nur druckvoll „motivieren“ soll, während die Sinnhaftigkeit einer Impfung von niemandem infrage gestellt wird. Man diskutiert vielleicht, ob man 200.000 oder nur 150.000 illegale Migranten pro Jahr ins Land lässt, aber bestimmt nicht darüber, wie man 200.000 illegale Migranten pro Jahr wieder aus dem Land herausbekommt. Man streitet vielleicht darüber, wie viele Windräder für die Energiewende gebraucht werden, wie groß die sein dürfen und wie nah an Wohnhäusern sie stehen dürfen, aber niemand, der seinen Platz am Tisch der Mainstreammedien behalten will, würde die Meinung vertreten, man solle alle Windräder schleunigst abbauen und sämtliche Bemühungen und Finanzmittel lieber in moderne Kernkraftwerke, Geothermie, Wasserstoffautos und die schnellstmögliche Reduktion der Weltbevölkerung investieren.
Der Realitätsausschnitt, der im Mediensystem als diskutabel gilt, misst, gemessen an einer Bandbreite von 180 Grad, vielleicht 20 Grad. Was außerhalb dieses Zulässigkeits-Segments liegt, sind Außenseiterpositionen und Extremmeinungen. Und alle sind sich einig: So was brauchen wir nun wirklich nicht ernsthaft zu diskutieren.
Früher nannte man so eine Geisteshaltung einfach engstirnig, borniert, philiströs. Leute mit solch reduziertem Horizont, Leute, die nicht mal versuchsweise das Gewohnte infrage stellen konnten, sondern das Gegebene für das ewig Gültige und Unbezweifelbare hielten, das waren schlichtweg Spießer.
Wir beobachten eine extreme Verspießerung der Eliten. Es sitzen Menschen in den entscheidenden Positionen der Öffentlichkeitsindustrie, die nicht den geistigen Horizont, die analytische Distanz, die professionelle Impulskontrolle und schon gar nicht die charakterliche Qualität haben, um in Übergangszeiten mit komplexen, offenen, anhaltenden Schwebezuständen umzugehen. Sie fallen zurück in Bewältigungsmodi, die wir aus Religionspsychologie, Mythologie, Märchenforschung, also aus kindhaft-vormodernen Geisteszuständen kennen. Und das Dumme ist: Man kommt diesen Leuten nicht bei. Es scheint bis auf Weiteres unmöglich, die Medienmenschen aus ihrem Wahn zu befreien.
Wenn neunundneunzig Mitglieder einer Gruppe sich in allen wesentlichen Fragen weitgehend einig sind, und dann kommt einer von außen und sagt ihnen, dass es für ihn so aussehe, dass sie sich alle zusammen etwas vormachen, dass sie sich durch gegenseitiges Geschichtenerzählen in einen Wahn hineingeredet, hineingelebt haben, dann wird die Reaktion nicht Dankbarkeit für die heilsame Anregung sein und das Gelöbnis sofortiger kritischer Selbsterforschung, sondern Gelächter.
Es bewahrheitet sich die alte Einsicht, dass Krankheit etwas reichlich Relatives ist. Wenn sich 99 Prozent der Gesellschaft mit ihrer Version von Wirklichkeit gut fühlen und keinerlei Leidensdruck empfinden, dann wird man nicht sie als gestört bezeichnen können – selbst wenn sie an Osterhasen, Dämonen, Lauterbachs, Faktenchecker und Verfassungsschützer glauben –, sondern das eine Prozent, das solche Merkwürdigkeiten problematisch findet und sichtbar darunter leidet.
Wenn die Fiktion zu überwältigend einvernehmlicher Zufriedenheit führt und von der Realität nicht brutal widerlegt wird, dann kann kein kritischer Therapeut die Fiktion durch unangenehme Evidenzen, durch sokratische Gesprächstechniken oder Appelle an die Rationalität ins Wanken bringen. Eine Fiktion, die funktioniert, ist unwiderlegbar. Sie muss an der Realität scheitern. Und die Geschichte zeigt, dass die Realität die Fiktionen in aller Regel ganz langsam und unmerklich aufribbelt, aber kaum je mit einem scharfen Schnitt beendet.
Der Faschismus wurde durch einen scharfen, langen und schmerzhaften Schnitt beendet. Der Faschismus scheiterte, weil er nicht Maß zu halten wusste, weil er es übertrieb. Hitler ohne Expansionsgelüste und ohne Holocaust hätte sehr lange an der Macht bleiben können. Niemals hätten die Alliierten nur wegen „ein paar“ Arbeitslagern und „ein paar“ politischen Morden, nur wegen dieser unappetitlichen Diktatur mit diesem Schreihals an der Spitze, einen verlustreichen Erlösungs-Krieg geführt gegen Nazi-Deutschland. Hitler wusste nicht, wo er aufhören musste.[9]
Werden die Medien „maßhalten“? Werden sie wissen, wie weit sie gehen können? Man muss beinahe hoffen, dass sie ihre Geschichten, ihre fiktiven Sinnstiftungen, ihre Wunsch- und Wahn-Narrative so weit treiben werden, dass entschlossene Alliierte dem Spuk irgendwie ein Ende machen müssen. Aber das kann dauern, das kann sehr lange dauern, und bis es so weit ist, bis sich alternative Eliten alliieren und zum vereinten Handeln entschließen, zur Aktivierung der Realität gegen den Wahn – so lange regiert der Fiktivismus.
[1] Dass eine unbedarfte Floristin zum Volkstrauertag 2019 auf einen SPD-Kranz für die Opfer von Krieg und Faschismus aus Versehen – besser gesagt: aus Verhören – Verschissmus drucken ließ, entbehrt nicht einer gewissen psycholinguistischen Logik. Angesichts der landläufigen Sprachpraxis muss man Faschismus tatsächlich eher zum Vokabular der Fäkalsprache rechnen als zum historisch-politischen Wortschatz.
[2] Eine reizvolle Ausnahme bildet Armin Mohlers Essay „Der faschistische Stil“ (orig. 1973, neu hrsg. bei Antaios, Schnellroda 2020), in dem mir der Faschismus aber irgendwie doch zu gut wegkommt, irgendwie zu ritterlich, zu sportlich, zu cool. Man bekommt beinahe Lust, Faschist zu werden. Ich kann die Faszination für gewisse Formen und Posen schon nachvollziehen, für das Harte, Heldische und Unbedingte. Ich verstehe Benn und Jünger. Aber es bleibt ja nicht bei der Pose, soll es ja auch nicht, es soll gefochten und gefightet werden, und letztlich ist es dann nicht das Wort und das Gedicht, sondern der schnelle, glatte Stahl, der röchelndes Fleisch durchdringt, Maschinentechnik, die Körper und Seelen verstümmelt, zermatscht, in den Dreck und ins Feuer pflügt.
Ich bin kein Pazifist. Der Mensch soll kämpfen um das Überleben des Eigenen, aber er soll sich nicht einreden, irgendetwas daran sei schön, spannend, lebenssteigernd. Ich kann ein faschistoides Kunstwerk wie den Film „300“ ohne Gewissensbisse genießen, aber Kunst ist Kunst. Und echte Gewalt, echtes Blutvergießen, echtes Töten ist keine Kunst, kein Heldensport, sondern Frevel gegen die Leidensgemeinschaft derer, die zu ihrem einen einzigen, winzigen Dasein in diesem Universum geboren und verdammt sind. Der Faschist ist der größte denkbare Gegensatz zu Albert Schweitzer, er hat keinerlei Ehrfurcht vor dem Leben. Er steht im Ledermantel auf nächtlichem Altan und genießt die Schlacht. Menschen, Sternschnuppenschwärme, feurig verblutende Kinder des Kosmos, Leben unter Leben, das sterben soll, qualvoll und sinnlos. Schmerzen, schöne Höllenfunken. Der Fascho lächelt über seinem Burgunderglas.
[3] Warum ist der Begriff des Bösen hier angemessen? Das Böse ist im christlichen Denken die Macht, die den Menschen zur Sünde verführt. Der sündige Mensch ist in Drewermann‘scher Terminologie der mit sich zerfallene Mensch, der identitär verzweifelte (das heißt: entzweite), der gespaltene, von sich selbst entfremdete Mensch. Der Mensch im Medialismus ist so gesehen der sich permanent gegen sich selbst versündigende Mensch.
Ich bin nicht religiös, aber es fühlt sich richtig an, von diesen Dingen in dieser Sprache zu sprechen. Der politische Medialismus, insbesondere in seiner moralistischen Spielart, ist ein Übel, eine Menschheitsverirrung, die sich mit alttestamentarischen Kategorien vielleicht besser erfassen lässt als mit der theoretischen Coolness von Sozialpsychologie und Medienwissenschaft.
[4] Edward Bernays: Propaganda – Die Kunst der Public Relations. Orange Press, Berlin 2020.
[5] Der aufschlussreichste Text zur Pandemie wurde bereits 2015 publiziert. Es handelt sich um ein Kapitel aus Yuval Noah Hararis Buch Homo Deus mit der Überschrift Das Sinngeflecht. Es geht darin um die entscheidende Bedeutung intersubjektiver Phänomene. Es geht um die Fiktionen, von denen Gesellschaften bestimmt werden:
„Sinn entsteht, wenn viele Menschen zusammen an einem gemeinsamen Geflecht von Geschichten weben. […] Die Menschen bestärken in einer sich selbst erneuernden Schleife fortwährend die Überzeugungen des jeweils anderen. Jede Runde wechselseitiger Bestätigung lässt das Sinngeflecht noch engmaschiger werden, bis man kaum mehr eine andere Wahl hat, als das zu glauben, was jeder glaubt. […] Sich mit Geschichte zu befassen heißt, bei der Entstehung und Auflösung dieser Geflechte zuzusehen und zu erkennen, dass das, was den Menschen in der eigenen Epoche als das Wichtigste im Leben erscheint, für ihre Nachfahren völlig bedeutungslos wird.“ (S. 230 f.)
„Das ist der Gang der Geschichte. Menschen weben am Geflecht des Sinns, sie glauben mit ganzem Herzen daran, doch früher oder später löst sich dieses Geflecht auf, und wenn wir zurückblicken, können wir nicht begreifen, wie irgendjemand es jemals ernst nehmen konnte.“ (S. 236)
Ob das – bezogen auf Corona – ein Grund zum Optimismus ist, hängt wohl davon ab, wann genau „früher oder später“ sein wird.
Was Harari von mittelalterlichen Kreuzzugsfantasien erzählt, lässt sich eins zu eins auf heutige Moralkriege übertragen:
„Auf diese Weise, Fädchen für Fädchen, spann die mittelalterliche Zivilisation an ihrem Sinngeflecht, in dem sich John und seine Zeitgenossen wie Fliegen verfingen. Für John war es unvorstellbar, dass all diese Geschichten nur Ausfluss der Fantasie waren. Vielleicht hatten seine Eltern und Onkel unrecht. Aber auch die Sänger und all seine Freunde, die Mädchen im Dorf, der gelehrte Priester, der Baron auf der anderen Seite des Flusses, der Papst in Rom, die Ritter aus der Provence und aus Sizilien und sogar all die Muslime – war es möglich, dass sie alle unter Wahnvorstellungen litten?“ (S. 234)
Yuval Noah Harari: Homo Deus. Eine Geschichte von Morgen. 14. Auflage, C.H.Beck, München 2021. S. 226 ff. (Originalausgabe: Homo Deus. A Brief History of Tomorrow, 2015)
[6] Michaela Maier et. al.: Nachrichtenwerttheorie. Nomos, Baden-Baden 2010
[7] Von den politischen Agenturmeldungen (AP, dpa, AFP, Reuters) eines Tages schafft es etwa ein Prozent, zur Nachricht in der Tagesschau oder der Heute-Sendung zu werden. Allein an dieser Schwelle zur Öffentlichkeit werden also 99% Fakten, Geschehnisse, Wirklichkeitsbausteine aussortiert, die die Realität dieses Tages in einem ganz anderen Lichte erscheinen lassen könnten. Wenn man all die ebenfalls unerwähnten, weil von einigen wenigen Gatekeepern in den Redaktionen als irrelevant eingestuften Ereignisse aus Kultur, Wirtschaft, Wissenschaft etc. in Betracht zieht, und dann alles, was stattdessen durch Eigenproduktion, durch selbst recherchierte Geschichten, durch Pressemitteilungen tausender „zivilgesellschaftlicher“ und lobbyistischer Themenlieferanten, durch Übernahme all der Infos und Stories „gleichgesinnter“ Medien den Weg ins öffentliche Bewusstsein schafft, dagegen hält, bekommt man eine Vorstellung davon, wie sehr unser Bild von der Welt ein fabriziertes, ein selektiertes, ein interessengeleitet und willkürlich herbeikonstruiertes Erzeugnis ist. Und wir reden hier nur von der Auswahl von Themen und Informationen. Wir reden noch gar nicht über die Art und Weise der Präsentation, über Framing, Färbung, Bebilderung, Dekontextualisierung, „Einordnung“ durch „Experten“, Betroffenenkommentare, Fußgängerzonen-O-Töne, über Tonfall, Stimmlage, Mienenspiel, Gestik der Nachrichtensprecher, über all die Modi medialer „Sinngeflechts“-Verfertigung, die ausschließlich abhängen von dem, was einige wenige einzelne Menschen im Mediensystem wollen. Dass ihr Wollen ein größtenteils unbewusstes ist, macht den Missstand nicht besser.
Übrigens gehöre ich trotz alledem nicht zu denen, die den Öffentlich-Rechtlichen Rundfunk abschaffen oder minimieren wollen. Im Gegenteil, ich würde ihn ausbauen, seine Mittel verdoppeln. Ich würde ihn zu einer Festung des Rationalismus ausbauen, zu einem Bollwerk gegen Lügen-, Lücken- und Lumpenpresse, gegen Verblödungs- und Verpöbelungsjournalismus. Ich würde ihn zu einem Instrument echter Vielfalt, echten Pluralismus machen, und zu einem Forum echten europäischen Geistes.
Die Frage stellt sich natürlich, woher das Personal für solch ein Idealmedium zu rekrutieren wäre. Und ob man nicht – wie in der Psychoanalytiker-Ausbildung – eine Art Lehranalyse einführen müsste. Fragen, die ich ein andermal diskutieren werde …
[8] Eine Umfrage unter ARD-Volontären im Mai 2020 ergab 57 Prozent Parteipräferenz für die Grünen, weitere 23,4 Prozent würden für die Linke stimmen, 11,7 Prozent bevorzugen die SPD. Macht also gut 92 Prozent für (explizit) linke Parteien. Und so sieht dann halt auch das Programm aus.
https://de.statista.com/statistik/daten/studie/1184876/umfrage/sonntagsfrage-ard-volontaere/
[9] Ob Hitler ein Faschist war, lässt sich wohl mit diskutablen Gründen bezweifeln. Es gibt Stimmen (Janine Chasseguet-Smirgel etwa), die es für eine Verharmlosung halten, den Nationalsozialismus mit dem Mussolini-Regime auf eine Ebene zu stellen. Ich würde es vielleicht eher so sehen: Hitler war unter anderem auch Faschist. Er war aber darüberhinaus, weit darüberhinaus, noch etwas anderes, und dieses andere ist das Entscheidende: Er war ein psychopathischer Künstler. Und so einer ist, sobald er zur Macht gelangt, viel gefährlicher als ein bloßer Faschist. Dazu demnächst mehr an anderer Stelle …
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© Marcus J. Ludwig 2021.
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