Unbewusstes, Indiskutables

Drei Anmerkungen zum Stand der Gendersprachdebatte

Der MDR zeigte in der Diskussionsendung FAKT IST! aus Erfurt * vom 25.9.23 wieder einmal, wo die Schwächen, die blinden Flecken, die unbewussten Normalitätsvorstellungen und Unhinterfragbarkeiten der Gendersprachdebatte liegen. Das heißt, er zeigte all das eben nicht, aber er lieferte unfreiwillig idealtypisches Anschauungsmaterial, zu dem ich im Folgenden ein paar kurze Anmerkungen und Besinnungsangebote nachliefern will (ich fasse mich wirklich so kurz wie möglich, ausführliche Erörterungen zum Thema habe ich in meinem Buch Stolpersterne dargelegt):

 

1. Müssen wir wertschätzen?

Es wird offenbar von niemandem mehr groß infrage gestellt, dass wir in der Sprache „wertschätzend“ miteinander umgehen sollen.**
Diese Glitzerphrase aus der sozialpädagogischen Kitschkiste hat sich als Sittlichkeitsnorm ebenso etabliert wie die parallel-kehrseitige Untersagung von „Hass und Hetze“. Niemand fragt sich mehr: Warum noch gleich? War das schon immer die allseits akzeptierte Norm? Könnte es nicht auch ganz anders sein? 

Wertschätzung und Hass sind juristisch völlig belanglose Privatemotionen, sie werden gleichwohl im medialen Diskurs quasi zu Geboten bzw. Verboten empordekretiert, werden in präjuristischen Grauzonen als Qualitätskriterien für charakterliche Bonität etabliert.
Diesen frechen Anmaßungen, diesen zutiefst illiberalen moralischen Homogenitätsvorstellungen grün-pietistischen Biedersinns, ist entschieden entgegenzutreten.

Ich entscheide selbst, wen ich wertschätze und wen nicht. Es ist meine Sache, wen ich mit welcher Intensität hasse. Es ist meine Sache, wie unfreundlich ich jemandem entgegentrete, wie deutlich ich ihn meinen Ekel spüren lasse und wie unsympathisch ich dabei wirke. Solange ich nicht beleidige, übel nachrede, verunglimpfe, volksverhetze oder sonst irgendwelche Straftatbestände erfülle, geht das niemanden etwas an.

Die Talkshow, das Parlament, die Parteizentrale als moralische Anstalt? Kraft welcher Qualifikation dünken sich all diese drittklassigen Gestalten eigentlich berechtigt, sich in meinen Gefühlshaushalt und meine Umgangsformen einzumischen?

Ich persönlich hasse niemanden so richtig, aber ich verachte durchaus eine Menge Leute, die ich in der Öffentlichkeit zu sehen bekomme, und wirklich wertschätzungswürdig erscheint mir nur eine sehr kleine Minderheit meiner Mitmenschen. Aber ich würde die Mehrheit der von mir gering bis negativ Geschätzten trotzdem nicht körperlich attackieren oder einsperren oder irgendwie gewaltsam in ihrer freien Entfaltung behindern. Ich gestehe ihnen das Recht zu, ihren Mist von sich zu geben, und ich bekämpfe sie hin und wieder, wo es mir nötig erscheint, also da, wo sie mir dermaßen auf den Sack gehen, dass ich es nicht mehr ignorieren kann. 

Dieses Sozialverhalten nennen Menschen, die sich den Werten der Aufklärung verpflichtet fühlen: Toleranz. Aufklärungsextremisten kennen sogar die misanthropische Toleranz. Wer dagegen wahllose „Wertschätzung“ zur Bürgerpflicht erklärt, ist kein Aufklärer, sondern … ich weiß es nicht … irgendwas zwischen Taliban und Benimmmamsell.

(Ich wollte mich kurzfassen, deshalb jetzt wirklich so knapp wie möglich:)

 

2. Muss die Sprache „gerecht“ sein?

Es wird nicht mehr infrage gestellt, dass die Sprache die Realität vollständig abbilden müsse. Dieses Dogma des naiven Sprachidealismus zieht sich durch alle Forderungen nach Gerechtigkeit, Sichtbarmachung, Berücksichtigung, etc. Es bestätigt sich hier aufs Deutlichste die These, dass das fundamentale Unterscheidungskriterium zwischen links und rechts in der Dichotomie von Idealismus und Realismus liegt, in der Grundhaltung zu Konstruktivismus und Naturalismus, Wunsch und Wirklichkeit, Faktizität und Datizität. Die Welt machen oder die Welt als Gegebenheit hinnehmen? – das ist hier, wie überall in den Kulturkämpfen der Gegenwart, die Frage. 

Es scheint in den Köpfen idealistischer Sozialingenieure und Mentalitätsmacher nicht hinnehmbar zu sein, dass Wort und Ding, Symbol und Gegenstand, prinzipiell niemals ideal kongruent sein können. Selbst wenn man es schaffen würde, die Horrorwelt der Genderisten wunschgemäß zu realisieren – wären dann die Identitäten einzelner Menschen umfassend in einzelnen Wortgestalten abgebildet? Müsste die ideale Sprache nicht auch grammatische Ausdrucksformen für Haarfarben, Hautfarben, Altersklassen, Einkommensklassen, Intelligenzstufen bereitstellen? Für alles, worin Menschen sich unterscheiden, und was man also diskriminierend gegen sie verwenden könnte, indem man es herausstellt oder verschweigt? Ich bin Veganer, wieso bildet sich dieses Identitätsmerkmal, das mein Selbst und meine soziale Rolle mindestens so stark prägt wie mein Testosteronspiegel, nicht in der Sprache ab? 

Das Gefälle zwischen den Lebenschancen der männlichen, kleinwüchsigen, rothaarigen Alkoholikerkinder aus Gelsenkirchen gegenüber den wohlbehütet aufgewachsenen Starnberger Millionärssöhnen mit Modelmaßen ist mutmaßlich tausendmal größer als das zwischen Carolin Kebekus und ihrem Bruder. Die Gendergläubigen aber glauben, dass nichts am Menschsein so sehr zu Ungerechtigkeiten führt wie das Geschlecht. Sie glauben in letzter Konsequenz, dass Frau Kebekus von ihrem Bruder durch einen Abgrund an Andersartigkeit getrennt ist, und dass die Männer, egal ob arm oder reich, behindert oder gesund, grenzdebil oder hochbegabt, allesamt allein durch ihr Mannsein gleichermaßen privilegiert seien. Ich glaube, so etwas können nur Menschen glauben, die jenseits von verunglückten Komplimenten und lüsternen Blicken noch keine existenziellen Benachteiligungserfahrungen machen durften.

Im Ernst jetzt: Ob die Sprache als realitätsadäquat empfunden wird, hängt natürlich davon ab, welche Aspekte der Realität man für relevant hält. Und verschiedene Menschen mit verschiedenen Lebenserfahrungen, verschiedenen ideologischen Vorbelastungen, verschiedenen Erkenntnis- und Urteilskompetenzen, halten offenbar sehr verschiedene Aspekte für relevant. 

Das Geschlecht mag im Allgemeinen stärkere Auswirkungen auf den Lebensweg eines Menschen haben als seine Haarfarbe, aber dass es überhaupt zum Ausgangspunkt für Bestrebungen zum Umbau der natürlich gewachsenen Sprache werden konnte, liegt nicht in der Natur der Sache, sondern in der Scheinkongruenz von Genus und Sexus. Das grammatische Geschlecht hat nichts – ich korrigiere: wenig – mit den Keimdrüsen des Homo Sapiens zu tun. Nicht jedes sprachliche Maskulinum ist ein Mann. Vice versa. Wer Nominalklassen mit Hoseninhalten und Hormonspiegeln zur Deckung bringen will, offenbart eine bemerkenswerte linguistische Infantilität. 

Ich fürchte, das werden die Genderbefürworter nie verstehen. Aber sie haben es leider geschafft, die Resultate ihres Nichtverstehens zur Norm für die Masse der linguistischen Laien zu erheben. 

(Das war jetzt schon wieder viel länger als geplant … jetzt wird’s aber wirklich maximal kompakt:)

 

3. Muss dieses zwanghafte Doppelgeplappel wirklich sein?

Die sexbesessenen Sprachverunstalter haben bereits einen beachtlichen (und höchst bedauerlichen) Teilsieg errungen. Es wird im Allgemeinen nicht mehr wahrgenommen, dass das Formulieren mit Doppelform, Paarform, Beidnennung der Genera (korrekt heißt so was „Splitting“, zu deutsch „Aufspaltung“, und bezeichnet somit also das genaue Gegenteil eines „Paars“) bereits Gendersprache ist.  Das, was ehedem ein reiner Höflichkeitsvokativ war – „Meine Damen und Herren“, „Liebe Hörerinnen und Hörer“ – ist zum zwanghaften Bekenntnis entartet. Es muss nicht nur in der Anrede, sondern in jeder Sachaussage versichert werden, dass sich der Sprecher bewusst ist, dass es von jeder menschlichen Erscheinungsform männliche und weibliche Exemplare gibt. Das ist dann je nach Gegenstand entweder bloß nervig, meist ist es grotesk bis lächerlich, zuweilen aber auch skandalös geschmacklos, etwa wenn der gendersensible Historiker noch bis in die Gaskammern und die Öfen hinein unermüdlich von „Jüdinnen und Juden“ quasselt, damit selbst im Angesicht des Erstickungstods ja nicht vergessen wird, dass auch Menschen ohne Penis Anspruch auf eine gleichberechtigte Rolle in unseren Auschwitz-Albträumen haben.

Die Bürger wehren sich zuweilen noch gegen den missionarischen Gender-Schluckauf. Wenn der Deutschlandfunk sie mit Jüd*innen behelligt, schalten sie halt das Radio aus. Gegen das allgegenwärtige Splitting, die grammatische Dauersexualisierung der Welt, wehren sie sich hingegen längst nicht mehr. Sie wollen wertschätzen, sie wollen die Realität abbilden, sie wollen nicht den Fortschritt blockieren, sie wollen sich vor allem nicht auf anstrengende Diskussionen einlassen. Sie werden wie immer den Weg des geringsten Widerstands wählen.

 

* Im Namen der Gerechtigkeit – der Streit ums Gendern. 25.09.2023, Fakt ist!, MDR-Fernsehen

** s. z.B. ab 17m35s

 

Ihrer Wertschätzung für meine zwecklosen Widerstandstextchen können Sie hier monetären Ausdruck verleihen:

Marcus J. Ludwig

DE85 4305 0001 0144 0608 29

WELADEDBOC1

Verbindlichsten Dank!

 

© Marcus J. Ludwig 2023
Alle Rechte vorbehalten