100 Jahre „Nazis“

Eine klitzekleine Anregung    

Dass man die Nazis entgegen aller Logik nicht den Sozialisten und somit den Linken zuordnet, hat letztlich vor allem sprachgeschichtliche Gründe. Hätte man die National-Sozialisten nicht regulärerweise „Nasos“ nennen müssen? So wie die Jungsozialisten nach allen Regeln der Abkürzungskunst „Jusos“ heißen? Hätte man doch wohl. Man nannte sie aber Nazis, weil das Wort „Nazi“ nun mal schon da war, lange bevor es eine politische Kraft namens Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei gab. Ein Nazi war seit Ewigkeiten jeder, der im bairisch-österreichischen Sprachraum auf den Namen Ignaz hörte. „Nazi“ war die (leicht ins Depperte spielende) Koseform von Ignatius, so wie „Zenzi“ der Rufname der Creszentia war oder „Renzi“ die Kurzform von Emerentia und Laurentia.

Zudem war „Nazi“ schon lange als geringschätzige Bezeichnung für die Deutschösterreicher in Gebrauch. Der Nazi fungierte damit als sogenannter Ethnophaulismus, also so ähnlich wie der Fritz, der Iwan, der Tommy, Paddy, Piefke, Wenzel, etc. als ein (vermeintlich) charakteristischer Sammel- und Spottname für eine bestimmte Volksgruppe.

Tucholsky verwendete das Wort 1923 erstmals als Kurzform für die Anhänger des Hitlerschen Nationalsozialismus. Eine wahrlich fatale politpsychologische Weichenstellung. Die politischen Konstellationen und Kämpfe unserer Gegenwart sähen mutmaßlich völlig anders aus, wenn er und der Volksmund seinerzeit mehr Wert auf semantische Präzision statt auf Artikulationsökonomie und sprachpragmatische Anschlussfähigkeit gelegt hätten. Man stelle sich mittels einer kurzen historischen Phantasiereise einmal vor, in welcher Welt wir leben würden, wenn die Hitleristen seit ihrem ersten großen Auftritt heute vor hundert Jahren immerzu „Nasos“ genannt und damit als das charakterisiert worden wären, was sie nun mal dem Grundwort (und dem Selbstverständnis) nach tatsächlich waren: Sozialisten.

Dies nur als namenskundliche Interessantheit am Rande. Allen, die sich auf weitere desorientierende Gedanken zum Rechts-Links-Problem einlassen möchten, erlaube ich mir mein neues Buch ans Herz – und vor allem ans Hirn – zu legen:

Bin ich rechts? – Und wenn doch, geht das wieder weg?
ISBN 978-3-384-04679-6
336 Seiten, € 18,-

 

 

© Marcus J. Ludwig 2023
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