Renaissance oder Ethnosynthese? (3)

Weitere Fortsetzung der Randbemerkungen zu Simon Kießlings Essay „Das neue Volk“


EISERNE PLAUSIBILITÄTEN – Ist das Schicksal des Abendlandes besiegelt? Vollzieht sich vor unsern Augen schlichtweg Unentrinnbares? Für Kießling kann daran kein Zweifel bestehen. Er beharrt auf den „unabänderlichen Notwendigkeiten des Schicksals“ (S. 71) wie auf einem Naturgesetz: „Wer angesichts dieser Gesetzmäßigkeiten der Geschichte meint, die schließliche Transformation der europäischen Völker in multiethnisch-multikulturelle Bevölkerungen aufhalten oder umkehren zu können, […] begibt sich in das Reich der geschichtlichen Irrealität.“ (S. 35 f.) Die ethnische Homogenität sei „unwiederbringlich verloren“ (S. 36) und gegen „den mit naturgeschichtlicher Notwendigkeit erfolgenden Rückbau und Verfall der autochthonen Völker existiert kein Mittel. Als Lebewesen (Organismen) können die hohen Kulturen nicht umhin, sämtliche Stufen ihres biologisch vorgezeichneten Lebensganges bis zum Ende zu durchschreiten. Einmal in das Verfallsstadium eingetreten, ist ihnen schicksalhaft vorgeschrieben, die abschüssige Bahn bis zur bitteren Neige zu durchlaufen.“ (S. 37)
Revitalisieren? Restaurieren? Revidieren? – Forget it.

Kießling imponiert als Spenglerianer höchsten Härtegrads. Die „eiserne, schicksalhafte Notwendigkeit“ (S. 36), die „eiserne Logik des historischen Entwicklungsgangs“ (S. 40) und weitere metallverarbeitende Metaphern zeugen vom strengen Glauben an den „eisernen Gelehrten“, wie Thomas Mann ihn seinerzeit nannte.
Aber kann man Spengler glauben?
Rolf Hochhuth sagte mal im Gespräch mit Alexander Kluge: „Ein Kulturkreis lebt ungefähr tausend Jahre, und der abendländisch-christliche ist kulturell ans Ende seiner Tage gekommen […], unsere europäisch-amerikanische Kultur übergeht in die Zivilisation, aber sie wird selbst im Künstlerisch-Geistig-Religiösen nicht mehr schöpferisch sein. Und ich muss sagen, ich kann gar nicht begreifen, wie man an der Plausibilität dieser Aussage noch zweifeln kann.“[9]

Ich hingegen muss sagen, dass man sehr wohl zweifeln kann, vielleicht nicht an der Plausibilität, aber an der Wahrheit dieser Aussage. Intellektuelle – vor allem solche, die ihren Intellekt nur nebenberuflich nutzen, also neben ihrer eigentlichen Profession, dem Dichten und Erzählen – geben sich oft genug mit Plausibilitäten zufrieden, der Wissenschaftler aber muss auf der Wahrheit bestehen.[10] Und als Historiker muss man Wissenschaftler sein. Kein Geschichtenerzähler.
Spenglers Geschichtsmorphologie ist keine wissenschaftliche Theorie, sondern eine Lehre. Sie verlangt Gläubige. Menschen, die mehr oder weniger plausible Axiome bejahen. Jünger, die in Jahrtausenden denken.
Metaphysik entzieht sich der Falsifikation. Kann man Spengler widerlegen? Was müsste passieren, welches Ereignis müsste in der abendländischen Geschichte sich ereignen, um seine Lehre als falsch zu erweisen? Welche Schöpfungshöhe etwa müssten Werke europäischer Architekten, Dichter, Komponisten, Maler erreichen, damit man feststellen könnte: „Ach, sieh an, das Abendland ist ja doch noch nicht am Untergehen, war wohl nur ein längerer Durchhänger, und Spenglers Spekulationen wären damit wohl widerlegt“?

Es geht mir ein wenig gegen die Natur so zu reden, denn ich bin ja selbst kein Wissenschaftler, sondern durchaus Spekulant, immer bereit, mich dem Faszinosum versuchsweise hinzugeben, aber ich weiß schon noch, dass persönliche Wertungen sauber operationalisierte Qualitätskriterien nicht ersetzen können. Meiner persönlichen Einschätzung nach etwa geht es mit dem Abendland keineswegs schon nach Goethe, Kant und Beethoven bergab. Ich finde Thomas Mann, Freud und Wagner „größer“, „bedeutender“, „genialer“ – aber was besagt das schon? Ich finde Menzel und Bouguereau besser als Rembrandt und Rubens, ich kann auch in den Werken von Klimt und Schiele, Franz Radziwill und Christian Schad noch keine Degeneration erkennen – ist aber reine Geschmackssache. Man hat so ein Gefühl dafür, welche Kulturphase qualitativ und quantitativ Höheres und Großartigeres hervorgebracht hat, aber wenn meine Gefühle und die anderer Kulturdiagnostiker um Jahrhunderte auseinanderliegen, dann mangelt es offenbar am basalsten Kriterium von Wissenschaftlichkeit, der beobachterunabhängigen Objektivität.


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„GIBT ES“ KULTUR? – Die Annahme, dass Kulturen Organismen seien, ist das Hauptaxiom der Spenglerschen Doktrin. Und? Stimmt es? Ist die Annahme irgendwie sinnvoll? Werden hier nicht unscharfe, suggestive Metaphern als Realitäten missverstanden? Ist es auch nur plausibel, eine Hochkultur als Organismus zu begreifen? Gibt es eine Kultur als biologisches Wesen, so wie es eine Eiche und einen Elefanten gibt?

Was genau an der Kultur „gibt es“? Es gibt ein Land, ein Territorium in einem bestimmten Klima, mit einer Geologie, einer Vegetation, einer Fauna. Es gibt die ablaufende Zeit, sagen wir 1000 Jahre. Während dieser Zeit gibt es Menschen, eine theoretisch präzise anzugebende Anzahl an Individuen, es gibt ihre Körper, ihre Gehirne, ihre – aber damit begeben wir uns schon auf das Gebiet der Fraglichkeiten – ihre Mentalität? Ihren Charakter? Ihren Geist? Auf jeden Fall gibt es all das, was diese Menschen hervorbringen: ihre Tat-Sachen. Ihre Facta und Artefakte, Dinge, die nicht da wären, wenn sie nicht von Organismen – vorsätzlich oder unbewusst – gemacht worden wären.

Aber Kultur ist nicht primär die Materie, in der sie sich manifestiert und ausdrückt. Kultur ist nicht die Gesamtheit aller Tempel, Theaterstücke, Symphonien und Deckenfresken, die die Kreativlinge eines Volkes in die Welt gesetzt haben. Schon eher das, was man so landläufig-unbestimmt Alltagskultur nennt, also Krüge, Kleidung, Fortbewegungsmittel, Behausungen, landwirtschaftliche Geräte, überhaupt der ganze Bereich der Erzeugung und Zubereitung von Lebensmitteln, sowie der zugehörigen Methoden, Traditionen, Rezepte, Darreichungsformen, Gewohnheiten, Sitten, Zeremonielle, Feste, symbolischen Aufladungen und Zuschreibungen, etc. Der Umgang mit Speisen und Getränken verrät wesentlich mehr über eine Kultur als jede Lyriksammlung.
Eine Kultur ist eine Seinsweise, ein modus vivendi. Kultur umfasst alles, was Menschen so oder auch anders machen könnten. Wenn ich durch den Wald laufe und einen Pilz erblicke, kann ich mich hinknien und den Pilz von der Stelle, wo er wächst, abbeißen. Das wäre in etwa Natur. Ich kann den Pilz auch abpflücken und mit der Hand zum Mund führen. Ich kann ihn ein paar Meter zum nächsten Bach tragen, dort waschen und dann verzehren. Ich kann ihn mit in meine Hütte nehmen und dort mit einem Messer zurechtschneiden und dann mit einer Gabel essen. Ich kann ihn in einer Pfanne braten und dann mit Stäbchen essen. Ich kann ihn einlegen, würzen, aromatisieren, ornamental zurechtschneiden, mit anderen Nahrungsmitteln kombinieren und dann in geselliger Runde oder als Teil irgendeines Rituals verzehren. Ich kann ihn auch vierzig Tage vor mir liegen lassen und gar nicht essen, weil ich mich aus irgendwelchen Gründen zum Fasten entschlossen habe. Also, kurz gesagt: Wie das Naturwesen Mensch die Naturgegebenheit Pilz als Lebensmittel verwendet, ist eine Frage der Kultur. Kultur ist eine Frage des Modus. Modus, also das „Sosein“, ist eine andere Kategorie als „Dasein“. Kultur kann kein Organismus „sein“. Kultur gedeiht als modales Epiphänomen auf der Basis mehrgenerationeller Lebenspraxen sozialer Organismen. Eigenart, Ausdrucksspiel und Gepflogenheit.[11] Wer anderes behauptet, begeht einen Kategorienfehler.

Nun liegt es in der Natur der Sache, es ist geradezu der semantische Kern der Kultur, dass die Frage nach dem Wie bzw. die Gewahrwerdung des So in einer Kultur verschwindet, die Art etwa, wie man einen Pilz ist, wird einfach zur Selbstverständlichkeit. Die Kultur erscheint dem in sie Hineingeborenen und nativ Akkulturierten geradezu wie die Natur schlechthin. Solange er nicht mit Kontrasten konfrontiert wird. Die Erkenntnis – vermittelt etwa durch historische Quellen oder Reiseberichte –, dass man einen Pilz anders essen kann, dass man das ganze Leben in all seinen Ausdrucksformen, Habitualitäten, Stilgewohnheiten, Symbolhandlungen, Verzierungen, Verhüllungen, Tabus, Erleichterungseinrichtungen, Sublimationen auch ganz anders leben kann, hat bis zu den Angleichungs- und Nivellierungsprozessen der globalistischen Moderne stets für erhebliche Irritationen gesorgt, man hielt andere kulturelle Modi wahlweise für lächerlich, rückständig, exotisch, unästhetisch, unmoralisch, primitiv, unmenschlich, faszinierend … jedenfalls für unnormal und unnatürlich.

Wir sind nicht frei darin, uns eine Kultur zu wählen oder gar zu geben. Wir wachsen ins Gegebene. Die meisten bleiben für immer im Gegebenen und kommen nie auf die Idee, dass Kultur auch ein Gemachtes ist, das dem in ihr Lebenden vielleicht nur wie ein Gegebenes erscheint. Der Künstler ist der Mensch, der sich fragt, ob nicht alles auch ganz anders sein könnte. Wenn man nur die nötige Kraft aufbrächte, wenn man die Frage in ein begeisterndes, vitalisierendes, befreiendes Werk verwandeln könnte, wenn man damit die Widerstände der Beharrenden bräche. Jede kulturelle Neuerung ist Emanzipation und Gewalt gegen das Überkommene, Ich-Ermächtigung gegen das große Es. Es braucht den freien Einzelnen, der die Massen in ein neues Es reißt, ein neues Unvorstellbares. Die Höhe einer Kultur bemisst sich unter anderem daran, wie viele solcher Neuerer sie hervorbringt. Und ob deren Neuerungen substanziell und nachhaltig sind oder sich lediglich auf bislang „unvorstellbare“ Fashiontrends beschränken.


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ONTOLOGISCHER EXKURS – Es gibt etwas. Das ist das Gegebene, lat. Datum. Wir machen etwas. Das ist das Gemachte, lat. Faktum. Diese Unterscheidung zwischen Datenwelt und Faktenwelt ist die wohl fundamentalste Unterscheidung in aller Realität.

Die Grenze zwischen Daten und Fakten verläuft exakt da, wo das Phänomen der Freiheit beginnt. Da, wo ein Lebewesen sich zu etwas entschließt, ist es nicht mehr bloße „Trägersubstanz“ eines biophysikalischen Geschehens, sondern Akteur. Akteure schaffen Fakten. Der Schimpanse, der einen Ast abreißt, gehört einem fundamental anderen Bereich der Realität an, als der Wind, der einen Ast „abreißt“. Man muss das Wort „abreißt“ in Anführungsstriche setzen, weil der Wind eben kein Akteur ist. Der Wind ist Teil des großen Es, welches einfach passiert. „Es passiert“ strikt nach den Gesetzmäßigkeiten der Naturkräfte, dass diese Luftbewegung diesen Ast vom Stamm abtrennt, und hätte man einen hinreichend leistungsstarken Computer sowie eine genaue Kenntnis der Ausgangsbedingungen zu einem bestimmen Zeitpunkt, so könnte man jeden Astbruch präzise vorausberechnen – jedenfalls sofern kein Akteur dazwischenfunkt, denn dessen Taten, dessen Fakten, lassen sich nicht berechnen, da sie mehr oder weniger frei erfolgen. Wie frei der Vogel ist, der in einem Baum sein Nest baut, und wie frei die Hummel ist in der Wahl der Reihenfolge und Besuchsdauer der angeflogenen Blüten, das mögen schwer zu beantwortende Forschungsfragen sein, aber die prinzipielle Einsicht, dass ein Nestbau etwas kategorial Anderes ist als ein Vulkanausbruch, dürfte nachvollziehbar sein. Das Nest „passiert“ nicht, es passiert so wenig wie ein Rilke-Gedicht oder eine Schiele-Zeichnung passiert. Es handelt sich um Arte-Fakte, die gemacht werden. Menschen und Tiere, die über Bewusstsein und also über Freiheit verfügen – Gorillas: ganz sicher; Austern: ziemlich sicher nicht; alles dazwischen: mehr oder weniger –, leben in beiden Welten. Sie sind Jemande, die machen, und sie sind Etwasse, die passieren. Ich und Es. Geist und Organismus. Cortex und Colon. Vorsatz und Stoffwechsel. Entschluss und Reflex. Handlung und Vorgang.

Der Mensch, der niest, gehört der Welt der Vulkane und der Venusfliegenfallen an. Er ist ein Es, das passiert. Der Mensch, der das Niesen spielt, der also vorsätzlich so tut, als ob er niest, befindet sich auf einer ganz anderen Ebene von Realität. Einem Reich der Freiheit, das nur sehr wenigen Tieren und diesen auch nur sehr teilweise zugänglich ist, und auch keineswegs allen Menschen offensteht. Kinder wachsen langsam in diese Welt hinein, alte Menschen dämmern langsam wieder heraus, manche gelangen aufgrund kognitiver Einschränkungen nie hinein, manche haben das Glück, aufgrund angeborener Bestausstattung und günstiger Lebensumstände ein dauerndes Leben in freiem Spiel und geistigem Höhenflug durch weitgespannte Räume zu führen und sich von der Gebundenheit an die Gesetzeswelt der Plattentektonik und der Knorpelzellen, der Viren und Photonen, der Gravitation und der Knallgasreaktion so weit zu emanzipieren, dass es lange so scheinen mag, als hätten sie das Es-hafte des biologischen Lebens überwunden und seien ganz Ich geworden. So lange, bis auch sie einsehen müssen, dass sie „am Ende des Tages“ eine Gegebenheit in einer Welt der Gegebenheiten sind.

„Wo Es war, soll Ich werden.“ Wo man auch hinsieht und hindenkt: Freuds emanzipatorischer Imperativ bleibt die wichtigste Formel der Menschheitsgeschichte. Und ein Ideal, an dem diese Menschheit immer scheitern wird. Und trotzdem: Wenn ich Kaiser oder Kulturminister eines neuen Abendlands wäre, stünde der Satz in Travertin gemeißelt über jedem Schul- und Unieingang, als Wandmosaik in jedem Parlament, als Leuchtschrift auf jedem Medienhaus und als Tätowierung auf jeder Journalistenstirn. Und von den Türmen der Gotteshäuser riefen ihn die Küster, die Gabbaim und die Muezzine dreistimmig, Arm in Arm, zu jeder vollen Stunde.


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3000 JAHRE – Es gab eine Zeit, da menschliche Organismen durchschnittlich nicht älter als 30 Jahre alt wurden. Heute werden sie fast dreimal so alt. Wer sagt uns, dass die 1000 Jahre, die Spengler als Lebensalter der Hochkulturen ansetzt, für alle Zeit das Maximum sind? Wieso sollte die abendländische Kultur nicht 3000 Jahre währen? Vielleicht ist das, was wir gerade durchmachen, noch nicht der Untergang, das Greisenalter, die Versteinerung etc., vielleicht ist es ein Zwischentief, eine Schwächephase, von der der (meinetwegen:) „Kulturorganismus“ sich erholen könnte? Die Lebenserwartung der Menschen, über Jahrhunderttausende auf einen Bruchteil des Möglichen begrenzt, konnte durch Hygiene und Medizin, Ernährung, Technik, Wissenschaft, kulturelle und zivilisatorische Innovationen ins Ungeahnte gehoben werden. Warum sollten wir – analog zu dieser Entwicklung – nicht auch unsere Kultur ins bislang Ungeahnte verlängern können, durch Psychohygiene, Medientechniken, geistige Ernährungslehren, intelligentere, vernünftigere Nutzung der Lebensgrundlagen? Klar, das wäre irgendwie schon wieder Zivilisation … aber vielleicht gibt es nicht nur den Gegensatz und das zeitliche Nacheinander von Kultur und Zivilisation, sondern noch etwas Anderes, etwas Neues, von dem Spengler und seine Zeitgenossen sich noch nichts träumen lassen konnten: eine von der Zivilisation schützend überwölbte Kultur, ein Treibhaus, das – wenn man es gärtnerisch geschickt anstellt – möglicherweise schönere, schmackhaftere, gehaltvollere Früchte hervorbringt als das „natürliche“ Kulturland, das draußen den Jahreszeiten, den Schädlingsplagen, den Unwettern und Abgasen, den Krähen und Wildschweinen und sonstigen Kulturfolgern, den Neophyten und Parasiten und den Zertrampelungen transitierender Heere ausgesetzt ist … vielleicht, möglicherweise.
In meiner Geschichtslogik wäre jedenfalls Platz für derartige Möglichkeiten. Ich bin halt nicht so der eiserne, eher der quecksilbrige Typ. Ich wüsste nicht, warum eine neue Renaissance prinzipiell unmöglich sein sollte.


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DAS GEHEIME ABENDLAND – David Engels bemerkte jüngst, „wenn es auch tatsächlich zu spät sein sollte […], die demographischen und ideologischen Tendenzen der Gegenwart noch umzukehren, so ist es doch bei weitem noch nicht zu spät, zumindest unser Erbe zu retten und künftigen Generationen anzuvertrauen. Freilich darf man sich hier nicht die falsche Hoffnung machen, daß es dank einer solchen Anstrengung in absehbarer Zeit zu einer neuen ‚Renaissance‘ kommen wird: Tote Zivilisationen erleben keine Wiedergeburt mehr.“[12]
Zwei Einwände:

Erstens ist das Abendland noch nicht ganz tot, es ist zweifellos ziemlich verkümmert und verschrumpft, aber es gibt doch noch echte Abendländer, es ist durchaus noch Leben im Ur- und Untergrund, im Innengrund der letzten Seelen. Engels selbst ist doch der beste Beweis – die Tatsache, dass es ihn gibt, zeugt davon, dass irgendeine Kulturkraft noch produktiv ist in Einzelnen, die gegen alle Wahrscheinlichkeit eine Sehnsucht nach Hesperien, nach dem besseren und schöneren Europa in sich tragen. Man könnte sogar eine aufstrebende Lebenslinie darin erblicken, dass das geheime Deutschland von einst sich mittlerweile zum geheimen Abendland erweitert hat. Der Hesperialismus hat Zukunft. Die vereinzelten Geheimbündler, diese versprengte „Gesellschaft der Hoffenden“ und die wachsende Masse der Erwachenden müsste nur irgendwann einmal auch real und physisch zusammenfinden und in Aktion treten, statt nur per Videochat geistreiche Nettigkeiten auszutauschen. Es fehlt offenbar an Netzwerkern und Tatmenschen.

Und zweitens gälte es die Frage zu beantworten, was unter einer „absehbaren Zeit“ zu verstehen wäre. Ich würde sagen: Die Renaissance kann in fünfzig Jahren beginnen. So lange braucht etwa der Marsch durch die Institutionen. Wer das alte Abendland revitalisieren, wer das neue Europa schaffen will, der braucht einen langen Atem, einen Atem länger als die eigene Lebensfrist. Die Linken haben fünfzig, sechzig Jahre benötigt, um die gesellschaftlichen Multiplikationssysteme des Landes – Kindergärten, Schulen, Unis, Verwaltungen, Kirchen, Werbung, Medien – zu übernehmen und die Mentalität in ihrem Sinne zuzurichten. Sie haben das mit großer Ausdauer und Konsequenz hinbekommen, und zwar gegen die Natur, gegen die Wirklichkeit, gegen alle Instinkte und Offensichtlichkeiten. Es dürfte also andersherum ein wenig schneller gehen, die Köpfe und Herzen der Menschen von den spukhaften Trugbildern und Verstandesverdrehungen wieder zu befreien.

Das Problem ist nicht die Heilung und Revitalisierung und Wiederaufrichtung der Menschen. Das Problem ist: Wie kommen die „Heiler“, die Kulturärzte und Gesellschaftstherapeuten, in die dafür notwendigen Positionen? Wie wird David Engels Rektor der Uni Münster, wie wird Peter Hahne Intendant des ZDF, wie wird Hans-Georg Maaßen Kanzlerkandidat der CDU, wie wird Sahra Wagenknecht Vorsitzende der Linkspartei, wie wird Ulrich Vosgerau Präsident des Bundesverfassungsgerichts, wie wird Klonovsky Feuilletonchef von FAZ/Zeit/Spiegel, Burkhard Müller-Ullrich Chef des Deutschlandfunks, Michael Meyen Medienminister und Susanne Dagen Leiterin der Frankfurter Buchmesse? Nun, höchstwahrscheinlich gar nicht. Diese Generation wird das geheilte Land, die wiederbelebte Kultur wohl kaum mehr erleben. Ihre Aufgabe ist es, Kinder und Enkel zu erziehen, zu schulen, vorzubereiten auf ihre geschichtliche Aufgabe. Auf ein Leben im Dienste der kurativen Unterwanderung.

Das Netzwerk der „Neuen Rechten“, von dem immer in irgendwelchen Antifamagazinen, Monitor und so, geraunt und gedräut wird, so mit übernächtigten Reportern, die Kaffee nippend und messerscharf kombinierend wie Akte-X-Ermittler vor wandformatigen Strukturdiagrammen stehen, wo rote Fäden vom IfS zu Cato und Tumult führen, von der Achse des Guten zur JF und zur AfD, von Geldkoffern im Kyffhäuser zu Uwe Tellkamp und von da zu Chatprotokollen aus dem Umkleideraum der GSG9, von Servus TV (aus Salzburg, ganz in der Nähe des Obersalzbergs!) zur Weltwoche und zum Netzwerk Wissenschaftsfreiheit … dieses kreuz und quer über Deutschland gesponnene Umstürzler-Network – gibt’s das eigentlich in echt? Hm, glaub ich, ehrlich gesagt, eher nicht. Zumindest sehe ich nichts davon. Ich sehe ein paar Leute, die nachdenken, Texte schreiben und Vorträge halten, und weitgehend ihre eigenen Süppchen kochen. Kann natürlich sein, dass die sich jedes Wochenende im alten Regierungsbunker im Ahrtal oder in der Horrorklinik Aprath treffen, die nächsten Moves aushecken und in neurechten Rollenspielen die Zukunft modellieren. Scheint mir aber eher semiwahrscheinlich.
Ich tät es jedoch durchaus sehr begrüßen, wenn sich die seriösen Köpfe und Kräfte des „regenerativen Lagers“ mal wirklich zu einem Netzwerk zusammenschlössen, einem Netzwerk der neuen Realisten, der neuen Europäer. Wie wär’s denn, wenn die, die immerfort irgendwelcher Verschwörungstheorien bezichtigt werden, langsam mal wirklich zur wirksamen „Verschwörungspraxis“ übergingen?


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VERANTWORTUNGSVERSCHWÖRUNG DER REALISTEN – Die Linken werden nicht so dämlich sein, wie die Rechten es waren, als sie sich im Lauf der Jahrzehnte aus den Festungen der Kulturhegemonie verdrängen ließen. In ihrer naiven Liberalität ließen sie immer mehr Linke aufkommen, fanden sich dabei irgendwie interessant, gerecht, fortschrittlich und konnten sich offenbar nicht vorstellen, zu welchen Exzessen der Selbstzerstörung das frivole Spiel einmal führen würde.
Die Linken aber – einmal an der Macht – sind rigide, vorsichtig, ideologisch eisern und unnachgiebig. Es sind religiöse Fanatiker, die niemals einen, der sich als konservativ, freiheitlich, rechts, AfD-nah, Werteunion-affin oder was auch immer zu erkennen geben sollte, zulassen werden in ihrer mittlerweile vollständig grünrot durchgefärbten Führungsschicht. Und mit „Führungsschicht“ meine ich jetzt nicht nur Parteivorsitzende und Intendanten, sondern jede Funktionseinheit des Systems, in der die derzeitige Welt als Faktum und Fiktion narrativ reproduziert wird, jede Lokalzeitung, jedes Grundschulkollegium, jede Kreisverwaltung, die die Macht hat, Menschen in die herrschende Mentalität einzupassen. Gibt es in Deutschland ein einziges Gymnasium, eine Lokalredaktion, ein Bürgerbüro, ein Krankenhaus, ein Kaufhaus, wo geoutete AfD-Sympathisanten oder gar -Mitglieder arbeiten? Und falls es sie vereinzelt geben sollte, werden sie dort wie Menschen behandelt oder wie Ungeziefer?

Der linke Marsch durch die Mentalität ist abgeschlossen. Die neue Epochennormalität, jene Matrix des Unbewussten, in der der Gedanke, dass unser Leben sich auch ganz anders anfühlen könnte, nur noch gegen größte innere Widerstände aufrufbar ist, hat sich fest etabliert. Mentalität ist wie Sprache – sie wird erworben, nicht gelernt. Das, was man spricht, wenn man mit zehn Jahren Englisch oder Spanisch gelernt hat, ist und bleibt eine Fremdsprache. Ebenso kann man den Fünfundzwanzigjährigen von heute nicht mehr mit Worten vermitteln, warum am Deutschsein, Freisein, Selbstsein, Skeptischsein, Konsequentsein, warum am Formbewusstsein, an der Selbstdisziplin, der Strebsamkeit, der Genügsamkeit, der Widerständigkeit irgendetwas gut und erstrebenswert sein könnte. Sie haben ein anderes Sein geatmet, während sie aufwuchsen, ein anderes Sollen, sie haben ein anderes Sinngeflecht adaptiert: Konsumismus, Konformismus, Globalismus, Hedonismus, Informalismus, Moralismus.

Dieses linksgrün-zivilreligiöse Sinngeflecht muss nun mit größter Ausdauer, Uneigennützigkeit, Zielstrebigkeit, Verschwiegenheit, ja Konspirativität nach und nach von innen umgestrickt werden. Es führt kein Weg an den Institutionen vorbei. Nur wird man heute besser nicht marschieren, sondern schleichen und sneaken, behutsam auf Zehenspitzen gehen und strategisch durchchoreografierte Schrittfolgen ausführen. Und zwar über Jahre und Jahrzehnte.
Michael Meyen spricht mit Blick auf die heutigen Medien kritisch von einer „Verantwortungsverschwörung“. Genau so etwas aber bräuchte es heute aus der entgegengesetzten Richtung: eine Verantwortungsverschwörung der Realisten und Hesperialisten.
Die schnellere Alternative dazu wäre zweifellos ein gewaltsamer Umsturz. Dafür gibt es aber keine Legitimation. Und wohl auch kein Personal. Und eine Renaissance per Kaiserschnitt, eine neue Kultur, die aus Blutschwall und Schmerzgeschrei zutage gezerrt wird, wäre ganz sicher nicht meine Idee von einer abendländischen Zukunft.


Fortsetzung folgt …

 

[9] Hochhut im Gespräch mit Alexander Kluge, 1998:

https://www.youtube.com/watch?v=kAmI26H–24

(ab ca 1:44)

[10] Wenn der amerikanische Philosoph Harry Frankfurt meint, der Hauptfeind der Wahrheit sei nicht die Lüge, sondern der Bullshit, so ist anzumerken, dass die Plausibilität dieser Aussage zwar zum zustimmenden Kopfnicken verleitet, dass aber generell die Plausibilität möglicherweise ein noch fieserer Feind der Wahrheit ist, da sie sich unglaublich gut als Wahrheit zu kostümieren versteht.

[11] Vielleicht ist der Gedanke verständlicher, wenn man sich neben dem Umgang mit Naturgegebenheiten auch den mit Kulturgegebenheiten vergegenwärtigt. Wenn man etwa den Pilz durch das Bier ersetzt. Das Bier als Materie ist eine technische Errungenschaft, aber das Wie des Bieres, das kulturelle Drumherum, die ästhetische Prägekraft, die soziale, ja kultische Energetik, das Bier als intersubjektiv-homöostatisches Regulativ, das Bier als Sonnenersatz, Schaumkrone der Trostbedürftigen und billig-güldene Lebensbereicherung. Die Materie Bier ist ein Lebensmittel. Das Bier als Kultur ist ein Lebensmodus, eine – hier passt das entwerte Wort wieder – Lebens-Einstellung. Man denke sich die Deutschen ohne Bier und Brot, die Italiener ohne Wein und Olivenöl, die Franzosen ohne Käse und Umlaute. Oder man denke sich solche Charakteristika transplantiert in eine ferne überseeische Gesellschaft, in der sie nicht seit alters her kultiviert und mit dem Seelenleben der Menschen verwachsen sind. Dann ist all das plötzlich nur noch Verkleidung, Anmaßung, Las Vegas und Themenpark. Imitation of Life.

[12] David Engels, „Wir Abendländer, die letzten Heiden“

www.dersandwirt.de/abendlaender-letzte-heiden

 
 

 

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