Renaissance oder Ethnosynthese? (2)

Fortsetzung der Randbemerkungen zu Simon Kießlings Essay „Das neue Volk“   

  

DAS RICHTIGE TUN – Besteht überhaupt irgendeine reelle Chance, die Prozesse der Ethnolyse und der Zerfremdung aufzuhalten, gar umzukehren und auf eine Art von abendländischer Renaissance hinzuarbeiten? Kießling mahnt zur „Entschlossenheit, sich von Illusionen oder falschen Erwartungen zu lösen, sich auf den harten Boden der geschichtlichen Wirklichkeit zu stellen […] Es gilt, dem Umstand ins Auge zu sehen, daß eine Logik der Geschichte existiert und daß derjenige verurteilt ist, fortgesetzt Niederlagen zu erleiden, der glaubt, dieser Logik kraft bloßer Aufbietung des Willens (aktivistischer Anstrengung) zuwiderhandeln zu können […]“. (S 14 f.)

Einerseits: weitgehende Zustimmung. Der gemeine Rechte steht in der Frage Wille versus Wirklichkeit ja zumeist ganz im Einklang mit dem Leitcredo der zeitgenössischen Nichtskönnergesellschaft: „Du musst nur wollen, dann kannst du alles schaffen, dann ist alles möglich!“ Der Glaube, dass es irgendwo da draußen im Universum eine Instanz gibt, die die Mühen des Willigen belohnen wird, ist im Laufe der letzten Jahrzehnte von Castingshows, Sportindustrie, Erfolgscoaches, Motivationsratgebern flächendeckend in die Köpfe der lern- und denkunwilligen Massen gepresst worden, und er hält sich dort gegen alle Evidenz. Jeder kann sehen, dass der Wille weder im Leben des Einzelnen noch in der politischen Strategie die kalte Analyse, die mühsam geschulte Urteilskraft und die schonungslose Selbstkritik ersetzen kann. Aber Sehen ist noch nicht Verstehen, denn vor das Verstehen haben die Götter das Interesse gesetzt. Und die Leidensfähigkeit.

Den Gerechtigkeitsprimitivismus einer magischen Tugendethik gilt es zu überwinden, hin zu einer logischen Ethik. Niemanden interessiert es, ob du dich bemühst, du musst schlichtweg das Richtige tun. Du hast dich doch so sehr angestrengt? Du hast doch alles versucht? Das muss doch auch zählen? Nein, es zählt nicht. Kinder denken so. Erwachsenwerden heißt vor allem: Realist werden. Die Wirklichkeit erkennen. Das Gefüge der Wirkmächte und Wirkmöglichkeiten durchschauen. Welche Wirkung wird mein Handeln unter Berücksichtigung dieser und jener Gesetze und Logiken auf die Lage der Dinge haben. Erkennen, rechnen, modellieren, beurteilen, und dann das Richtige tun. Ob es dich Mühe und Zeit und Überwindung gekostet hat, wird niemanden interessieren. „Der gute Wille zählt“ ist gewiss einer der destruktivsten Sätze, die man zu einem Kind sagen kann.
Jedenfalls: „Das Richtige tun“ würde dann in Fragen der politischen Langfrist-Strategie bedeuten: im Einklang mit den Gesetzen der Geschichte handeln. Es gibt – so Kießling im Anschluss an Jünger – eine geschichtliche Tiefenströmung, die Geschichte strömt seit 1789 nach links, und dagegen kommt man mit gutem Willen, mit schönen Texten, zornigen Reden, plausiblen Argumenten nicht an.[5]

Andererseits: Wenn man den Strom der Geschichte auch nicht willentlich anhalten oder gar „zurückpumpen“ kann – wieso sollte man ihn nicht wenigstens umleiten können? Es stellt sich die Frage nach den Freiheiten innerhalb der Gesetzmäßigkeit, nach den Gestaltungsspielräumen innerhalb des vorgegebenen Rahmens. Ich halte sie für wesentlich größer als Kießling das offenbar tut.


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GESCHICHTSGESETZE – Was Kießling unter Anwendung der „Geschichtslogiken“ Ernst von Lasaulxs und Oswald Spenglers gegen Markus Kralls Vorstellungen von einer „bürgerlichen Revolution“ geltend macht (S. 23–32), ist alles höchst bedenkenswert, die Lagebeschreibung – Zeitalter der Massen, Vorherrschaft des hedonistisch-permissiven Typus, soziokulturelle Hegemonie einer postmaterialistischen Schicht, die an den Staat appelliert, „den sozialen Prozess zu regulieren und die allseits angemeldeten Versorgungs-, Emanzipations- und Verbrauchsansprüche zu erfüllen“, Gehorsam gegen die „Vorgaben eines offiziell bewilligten Denk- und Handlungsrahmens“ usw. – vollständig korrekt. 

Aber: Ich lese letztlich nichts, was mich von meiner Überzeugung abzubringen vermöchte: dass es der Mainstream der Medien ist, der den Lauf der Dinge bestimmt. Erst recht heute, im Zeitalter der Massenmedien. Und dieses Zeitalter ist noch gar nicht so lange in Gang, obwohl man schon ewig von ihm redet. Zu Lasaulxs und Spenglers Zeiten gab es keine Massenmedien in unserem heutigen Sinne. Die Geschichtsgesetze, die sie ersannen, rechneten nicht mit diesen Mächten, mit diesen mentalen Gravitationskräften, denen die Gehirne der Massen und der politischen Entscheider mittlerweile dauerhaft ausgesetzt sind. Der Geschichtsstrom wird mehr denn je von einem Medienstream beeinflusst. Die Welt – mindestens die deutsche Welt – sähe in kürzester Zeit anders aus, wenn man im öffentlich-rechtlichen Rundfunk hundert Köpfe austauschen könnte. Vielleicht würden schon zehn reichen.

Ich weiß nicht, ob es Geschichtsgesetze gibt. Aber ich weiß, dass es Gesetzmäßigkeiten der Psyche gibt. Und letztlich ist Geschichte das Resultat der Relationen und Interaktionen von Psychen. Millionen und Milliarden von Psychen: Denkapparaten, Persönlichkeitsstrukturen, Gefühls- und Willensgewohnheiten, Temperamenten, Charakteren.
Nach welchem Geschichtsgesetz musste es einen Jesus Christus geben, der eine 2000-jährige Kulturentwicklung auslöste? Nach welchem Geschichtsgesetz muss das Abendland nach links abdriften? Die Entwicklung des Überhandnehmens linker Ideen seit 1789 kann morgen enden, wenn irgendetwas „Gesetzwidriges“ geschieht. Irgendeine Kreuzigung irgendeines Gottessohns, irgendein leeres Grab, irgendein unerklärliches Licht gen Himmel.

Es mag kein Zurück zur Bürgerlichkeit der Buddenbrooks geben, aber es kann ein Vorwärts zu einer neuen Bürgerlichkeit geben. Die Coronazeit hatte in dieser Hinsicht viel Lehrreiches. Sie hat so deutlich wie nie zuvor demonstriert, wie man den Lauf der Dinge lenken kann, wenn man die Medien beherrscht.[6] Die Menschen leben nicht primär in einem Geschichtsstrom, sondern in einer Medienmatrix, in einer gemachten Mentalität, einer artifiziellen, bewusstseinsindustriellen, psychopolitisch gestalteten Metaphysik.
Natürlich leben sie auch in der physikalischen Welt. Der Vulkanausbruch, der Regenschauer, die Katze auf dem Schoß, der Strom aus der Steckdose, all das „gibt es“. Es gibt auch die Bank, also das Gebäude, in dem Banker ihr Bankbusiness machen, wo Münzzählmaschinen rattern und Geldbündel in Tresoren liegen. Es gibt auch das Parlament, wo Parlamentarier parlieren und Gesetze machen. Aber das Eigentliche dieser Dinge: den Wert des Geldes, die Geltung des Gesetzes, das gibt es nicht, das ist reinste Metaphysik. Es gibt auch keinen Staat, und wenn er noch so viele Fahnen wehen lässt, Gebäude errichtet, Personal beschäftigt und Verfassungen ersinnt. Sobald das Metaphysische schwindet, der Glaube, der Wert, die Geltung, ist er weg. Es gibt auch keine Literatur. Nur ein metaphysisches Lebewesen kann mit einem Buch, einer Ansammlung von Zeichenmaterial, etwas anfangen. Eine Geschichte, ein Textsinn kommt nicht durch das Wirken von Materie und Energie zustande. Das Druckwerk als physikalisches Ding, das Buch als Arrangement von Atomen, ist unzweideutig da, aber das, was aus ihm aufscheint als Information und Bedeutung, ist nicht das Ergebnis von Elementarteilchen, die in dieser oder jener Weise gemäß den Naturgesetzen angeordnet wären. Die Bedeutung des Textes gibt es schlichtweg nicht, sie ist Metaphysik. Deshalb ist es ja auch so schwierig, sich über die Bedeutung eines Textes, ja schon eines Satzes oder eines Wortes zu einigen. Wir können sie prinzipiell niemals „dingfest“ machen, weil es sie nicht gibt.

Es gibt den ontologischen Unterschied zwischen dem Gegebenen („Datum“) und dem Gemachten („Faktum“). Der Text ist da als Faktum, als Tat-Sache, als ein gemachtes Ding. Aber seine Bedeutung, seine Aussage, sein Gehalt ist nicht da, er wird mit jedem Lesen neu gemacht.
Es gibt diese merkwürdigen Gedankenspiele, etwa ob ein im Wald umfallender Baum ein Geräusch macht, wenn niemand da ist, das zu hören. Das halte ich für philosophische Kinderei. Natürlich macht der Baum ein Geräusch, das heißt, er produziert Schallwellen, ein objektives, prinzipiell messbares, reales Geschehen in der physikalischen Welt.
Anders als ein Buch, welches in der Welt herumliegt, nachdem die Menschheit sich selbst ausgerottet hat. Dieses Buch macht zwar ein Geräusch, wenn der Wind durch seine Seiten streicht, aber es macht keine Geschichte, wenn es nicht gelesen wird. Das, was da drinsteht, „gibt es“ tatsächlich nicht mehr. Es existiert in der Welt kein Sinn, keine Bedeutung ohne Wesen, die oberhalb der Physik existieren.

Wer den Menschen als metaphysisches Wesen ernstnimmt, wird mehr Skepsis hinsichtlich seiner Determiniertheit durch Naturgesetze und Geschichtslogiken an den Tag legen müssen. Menschen werden zu den allerrealsten Handlungen, zu den physischsten Handgreiflichkeiten motiviert durch Dinge, die es nicht gibt.
Die entarteten Ideen von 1789 können gesunden, die Tyrannei der Werte kann enden, die unheiligen Ersatzreligionen der Gegenwart können implodieren – wenn der Glaube schwindet, wenn die Fiktion, die Suggestion, die „Propaganda Fide“ endet. Kein Geschichtsgesetz zwingt die Menschen zum Schwachsinn. Menschen zwingen sie dazu, Menschen, die die Macht haben, zu bestimmen, was gilt.
Was aber lediglich gilt, kann seine Geltung verlieren. Das weiß jeder, der schon einmal einen Hundertbillionenmarkschein von 1924 gesehen hat. Oder im Jahr 2023 einen Blick in sein Portemonnaie geworfen hat …


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CHARAKTER UND GESCHICHTE – Der Geschichtsstrom wälzt sich durch ein großes gewundenes Flussbett. Sein Lauf und seine Fließgeschwindigkeit werden – bildlich gesprochen – bestimmt durch die Gegebenheiten, das „Terrain“, die „Bodenbeschaffenheit“, das „Gefälle“, die natürlichen, also „kultürlichen“ „Zuflüsse“, vor allem aber auch durch all die vorsätzlichen „Be-einflussungen“, die Einleitungen, Kanalisierungen, Einbauten, Stauwerke. Die großen Ideen – etwa die der französischen Revolution – und die geistigen Impulse, die von begeisternden Lehren – wie etwa der des Mannes aus Nazareth – ausgehen, können den Charakter des Flusslaufs offenkundig völlig verändern.

Wie kommen die Ideen, die Lehren, die Impulse in die Köpfe der Menschen, der Massen, in die Psychen all der Akteure, die Geschichte machen? Durch Medien. Wie konnten die sonderbaren Ideen eines galiläischen Tischlers 2000 Jahre Menschheitsgeschichte bestimmen? Indem sie medial verbreitet wurden und eine mentale Matrix schufen, in die jeder europäische Mensch hineingeboren wurde und sich dann überhaupt kein anderes Denken und Fühlen und Glauben mehr vorstellen konnte als das christliche.
Jesu Lehre wurde erzählt von Mensch zu Mensch, wurde in Episteln und Predigten vermittelt, sie wurde in Schriftrollen und Codices physisch fixiert, mit Staatswesen amalgamiert, in Gotteshäusern zelebriert, in Kirchen, die ausgemalt waren mit Bildern, mit Heiligenlegenden und Bibelszenen, damit auch die Illiteraten medial erreicht und orientiert werden konnten, integriert werden konnten in den christlichen Weltkonsens, in das große Glaubwürdige, das unhinterfragbare Weltgefühl.
So entsteht die innere Welt des sozialmedialen Tiers, die mittelbare Realität, das Leben im Metaphysischen, die Normalität, das Unbewusste. Eine Welt, die gilt, obwohl es sie nicht gibt. Eine Welt, die nicht mehr bezweifelt, die höchstens noch geleugnet werden kann.

Ohne die christliche Medienmatrix hätte es zwar auch eine Geschichte gegeben, ein strömendes Vorwärts in der Zeit, aber ein ganz anderes. Die Ideen des Galiläers wären in seinen Gehirnwindungen geblieben – und in denen seiner Jünger –, und mit seinem Kreuzestod wäre die Sache erledigt gewesen. Dass es anders kam, dass es kam, wie es kam, war nicht irgendeiner Geschichtslogik geschuldet, sondern der Macht einer ausreichenden Anzahl von Menschen, die die medialen Möglichkeiten hatten, eine Mentalität zu formen, die die Massen begeisterte, die ihren Bedürfnissen entgegenkam, die mit den Grundgesetzen und der Logik der Tiefenpsychologie in Einklang stand.

Die Menschen wollten die Geschichte, die sie bekamen. Sie wollten sie unbewusst und unfreiwillig, gewiss, aber jene 2000 Jahre, die hinter uns liegen, haben sich nicht so ereignet, weil all die Herrscher sie gegen den Menschheitswillen durchgesetzt hätten. Herrscher, Könige, Cäsaren, Staatsmachten exekutierten immer mehr oder weniger präzise den Willen der Massen, oder besser: die Mentalität des Zeitalters. (Mentalität ist wie Klima ein Langzeitphänomen, das nicht mit flüchtigen „demoskopischen Wetterlagen“ verwechselt werden darf.)

Es gilt für die Weltgeschichte, was für das Leben des Einzelnen gilt: Charakter ist Schicksal. Jedenfalls sofern man Heraklit und Erich Fromm glauben will. Ich glaube mit einer Felsenfestigkeit, die an Fanatismus grenzt: Die Persönlichkeitsstruktur stellt dem Fatum die Weichen. Nicht vollständig, aber weitgehend. Gewiss: Du kannst eingreifen in dein Schicksal, durch Willensanstrengungen und Kraftakte den Lauf der Dinge abändern. Wenn du aber die Dinge laufen lässt, wenn du dich laufen lässt, wirst du mit achtzig die gleichen Fehler machen, die du mit zehn gemacht hast. Und sie vielleicht nicht einmal als Fehler empfinden, weil sie eben deinem Charakter entsprechen, deiner „Natur“. Natur in Anführungszeichen, weil es sich eben nur um einen Naturersatz handelt. Der Charakter ist die seelische Struktur, das psychische Gerüst einer denaturierten Lebensform, die nicht mehr auf Instinkte vertrauen kann.

Der Charakter bestimmt des Menschen Schicksal.
Und der Gesellschaftscharakter bestimmt der Kulturen Schicksal, das heißt: die Geschichte.[7]


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ELITENKAMPF – Aber empfinden wir hier nicht ein Unbehagen? Ist es nicht irgendwie unbefriedigend, dieses Überspielen des Henne-Ei-Problems mit kernigen Sentenzen? Woher kommt denn der Sozialcharakter, der Wille der Massen, die Mentalität des Zeitalters … eine Kultur wächst ja nicht einfach aus einem Stück Land hervor. Ein Land wird nicht zum Abendland dadurch, dass Abermillionen von Bauern, Köttern, Handwerkern, Händlern, Tagelöhnern, Söldnern auf europäischen Territorien ihr Leben fristen über Jahrhunderte. Die abendländische Kultur ist vor allem das Werk von Eliten, von ein paar tausend Einzelnen, die Einfluss hatten. Natürlich spielen die Ausgangsbedingungen eine Rolle: die Landschaft, das Klima, die gegebene geographische Konstellation, sie präformieren eine Kultur, so wie der Körper eines Menschen seine Lebensgestaltungsmöglichkeiten vorgibt. Eine Frau, die einen Meter fünfzig misst und vierzig Kilo wiegt, geht mit anderen Voraussetzungen ins Leben als ein Mann von zwei Metern zwanzig Länge und hundertsechzig Kilo Gewicht. Eine Kultur, die aus wasserreichen Mittelgebirgen und grünen Tiefebenen erwächst, wird sich in anderen Stileigentümlichkeiten und Ausdrucksformen realisieren als eine Kultur, die aus karger Wüstenlandschaft emergiert.
Und trotzdem hätten die europäischen Scharen- und Schollenmenschen statt Christen wohl auch Mohammedaner oder Hindus oder sonstwas sein können – wenn die „geistige Führung“ die entsprechende Lehre hierzulande angebaut, eingepflanzt, kultiviert hätte. Die „geistige Führung“ – Priesterschaft, Gelehrte, Auctores, Philosophen, Ministerialen, weltliche Herrscher, kurz: der politmediale Komplex – macht die Kultur.
So könnte man es jedenfalls auch sehen.

Das hieße dann aber auch: Wenn die Bevölkerung heute menschheitlich-universalistisch denkt[8], dann könnte sie doch vielleicht auch anders denken. Denkt sie nicht einfach so, wie es ihr vorgedacht und medial eingetrichtert wird? Die Mehrheit der Bevölkerung denkt ja nur ausnahmsweise selbst. Nicht, weil sie es nicht könnte (oder immerhin lernen könnte), sondern weil sie in der Regel keine Zeit dazu hat, keine Muße, kein Interesse, keine Lust, keine geistigen Grundlagen, keine mentale Disziplin. Wer, aus welchen Gründen auch immer, nicht zum Denken kommt, der begnügt sich mit dem, was so in der Luft liegt, was man so mitbekommt, was in der Tagesschau und in der Lokalzeitung verbreitet wird, was man halt so weiß und denkt und meint.

Dasselbe „Bevölkerungs-Mitglied“, das heute universalistisch „denkt“, derselbe Lehrer, Schreiner, Banker, Friseur, Grafiker, Bauer, der sich heute als „Mensch“ begreift, kann sich binnen eines Jahres als Deutscher, Europäer, Abendländer begreifen – wenn ihm diese Begriffe in Talkshows und Nachrichten, in Politmagazinen und History-Dokus, in Radio-Features und Tagesgesprächen, in Kochshows und vor allem in der Werbung in ansprechender Form als Lebensnormalität vorgedacht werden. Das ist zwar deprimierend, aber realistisch.

Die Richtung der Geschichte wird im Kampf um die kulturelle Hegemonie ausgefochten. Dieser Kampf ist ein reiner Elitenkampf und war es schon immer. Es sind immer die hochmotivierten missionarischen Kopfmenschen, die sich Gedanken ums große Ganze machen und versuchen, den Rest der Mitdenker und Mitläufer von ihren Funden und Ergebnissen zu überzeugen. Was die heutige Lage von früheren unterscheidet, ist die nie dagewesene mediale Macht zur Mentalitätsformung, die Tiefe und Frequenz, die Penetranz und Permanenz, die den gegenwärtigen Ideologen und Kulturhegemonen zu Gebote steht, um die Gehirne der Massen in ihrem Sinne zuzurichten.

Können wir die Frage entscheiden, den Widerspruch auflösen? Prägt die geistige Führung dem Massenmenschen seinen Charakter auf, oder sind die Eliten nur Blüte und Unkraut auf dem mentalen Mutterboden des Zeitalters, der kulturellen Matrix, die vom freien Willen des Einzelnen, seinen planvollen Interventionen, seiner vermeintlichen Geschichtskreativität letztlich eher unberührt bleibt? – Ich tendiere optimistischerweise zum Ersteren, kann das aber außer durch „Eindrücke“ und selektiv Angelesenes nicht empirisch untermauern und möchte die Frage daher in kompetentere Hände weitergeben. Wäre das nicht ein schönes Forschungsprojekt für das Spengler-deMause-Institut für empirische Kulturkomparatistik, Geschichtsmorphologie und Psychohistorie? – Wie? Das gibt es noch gar nicht? Könnte das dann bitte mal jemand gründen?


Fortsetzung folgt …

[5] Fragwürdig scheint mir indes die Diagnose, dass die Linie der Zivilisation unter der Hegemonie einer kulturfernen Linken ins „Reich der Instinkte, Triebe und Begierden“ zurückstrebe. Der linke Zugriff auf Geschlechtlichkeit und Ernährung ist ja gerade kein Indiz für Rebarbarisierung, sondern für eine Hyperzivilisierung. Die totale Gesellschaft, in der zwar nichts geordnet, aber alles nach den Vorgaben einer einheitswissenschaftlichen Zivilreligion geregelt wird, ist gewiss das Gegenteil von Kultur, aber sie ist nicht das Nichts, im Gegenteil: sie ist das lückenlos durchgestaltete Alles, die von Menschenhand engineerte Sozialmaschine.

[6] Ich rede hier nicht von irgendwelchen Milliardären oder parteinahen Intendanten, sondern von dem Geist, der die Medien beherrscht. Jenem Geist, der in jedem Systemjournalisten, vom Chefredakteur bis zum Lokalreporter, konformierend waltet, und der in aller Regel keiner Weisungen und Anordnungen von außen oder oben bedarf.

[7] Wenn nicht bestimmt, so doch mindestens bedingt der Charakter das Schicksal. Wobei zu bedenken ist, dass das Leben nicht nur aus Schicksal besteht. Wenn mich morgen ein LKW umnietet, ist das wahrscheinlich kein Schicksal, sondern Zufall. Es sei denn, eine unbändige Risikolust oder eine verkehrslärmsupprimierende Verträumtheit waren dominante Züge meiner Charakterstruktur.

[8] s. S. 70: „Aussichtslos, aber auch erniedrigend ist der Versuch, sich einer menschheitlich-universalistisch denkenden Bevölkerung, die explizit kein Volk mehr sein will, […] anzudienen; […] Ihr muß der Volksbegriff nicht nur als überholt und antiquiert, sondern als menschenfeindlich gelten […].“

 

 

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