Eines der letzten großen Abenteuer für den toxischen Mann, der schon jeden Kilimandscharo ohne Fallschirm und Federboa erklommen und jedes nordkoreanische Höhlenlabyrinth auf einem Grizzly durchritten hat, besteht darin, ab und zu mal ein richtig rechtes Buch zu lesen. Seinen Nachlass zu ordnen, der Welt der komfortablen Gewohnheitsgedanken Adieu zu sagen, sich darauf gefasst zu machen, als anderer Mensch – wenn überhaupt als Mensch – zurückzukehren von der Expedition auf die braune Seite des Mondes, umgedreht, infiziert und turboradikalisiert, auf ewig verdorben fürs gesellige Grasen auf der linksgrünen Lämmerweide.
Wer den ultimativen Kick sucht, der schlägt sein Lektüre-Basislager im Keller auf, direkt neben dem Revisionsschacht der Abwasserleitung, bei feucht-multrigen sechs Grad, steigt nächtens in seine eingemotteten Bundeswehr-Restbestände und hält sich mit klammen Fingern, im Flackerschein der stinkenden Stearinkerze ein Druckwerk aus Schnellroda vor die Gasmaske. Und dann liest er – halb ohnmächtig vor Schützengrabenromantik und innerer Filmmusik – die umstürzlerischsten, tarnfarbensten Radikalitäten, während droben in der Matrix das verweichlichte Schlummervolk satt und fett seine antiallergischen Kunstdaunenkissen besabbert.
Wer nicht ganz so Outdoor- bzw. Schimmelkeller-affin ist und seine BW-Klamotten ohnehin schon vor zwanzig Jahren zu Putzlappen zerschnitten hat, der kann es natürlich auch mir gleichtun und sich mit einem Tässchen Buchweizensuppe in den sonnenbeschienenen Karlanda-Sessel kuscheln, um dergestalt befestigt den überdurchschnittlich empfehlenswerten Sammelband „Michael Ley u. Martin Lichtmesz (Hrsg.): Nationalmasochismus, Verlag Antaios, 2018“ durchzuarbeiten und nebenbei über das eine oder andere diagnostische Detail nachzusinnen, hoffend, dass daraus ganz zwanglos ein ergötzlicher kleiner Collage-Essay entstehen möge. ABC-Schutzmaske und Opas WK1-Orden kann man sich natürlich trotzdem ans Moodboard hängen, so für die allgemeine Behaglichkeit.
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STRAFBEDÜRFNISSE – Das Phänomen „Nationalmasochismus“ ist oberflächlich relativ leicht zu erfassen, es ist ja allerorten und jederzeit zu besichtigen und jedem, der bereit ist, seinen Alltagstrott kurz zu unterbrechen, um sich über die Lage klarzuwerden, auch mehr oder weniger bewusst: Deutschland schafft sich ab – und fühlt sich gut dabei. Deutschland lässt sich ausbeuten – und genießt einen merkwürdigen moralischen Lustgewinn dabei. Deutschland bittet seine Schlächter und Verächter in Massen herein – und berauscht sich an seiner Selbstlosigkeit. Deutschland destabilisiert seine nationale Identität durch eine „multikulturalistische Fragmentierungs- und Aushöhlungspolitik“ (S.23) – begleitet von dem wohltuenden Gefühl, dass es ihm ganz recht so geschehe. Deutschland wählt sich Personen zu Führern und Repräsentanten, die seine Hoheitszeichen offen ablehnen (Merkel und die Nationalfahne), die seine Geschichte negieren (Baerbock und das Bismarckzimmer) und ungeniert zu Protokoll geben, dass sie mit ihrem Vaterland nichts anfangen können und es zum Kotzen finden (Habeck und der „linke Patriotismus“).
Das Phänomen ist nicht auf Deutschland beschränkt, wenngleich dem Selbsthass hierzulande weitaus gründlicher und greller gefrönt wird als anderswo. Aber die Verachtung für das eigene Volk, bei gleichzeitiger Idealisierung einer völkerlosen „Menschheit“ kennt man – mit Akzentverschiebungen hin zum Ethnomasochismus – in vielen Ländern des Westens, auch dort, wo man weder mit Judenmord noch mit Sklavenhaltung oder Kolonialismus irgendwas am Hut hatte.
Das Gefühl, dass die eigene Nation, die eigene Kultur, mittlerweile gar die eigene Rasse, etwas Minderwertiges und Verwerfliches sei, für das man sich ostentativ entschuldigen muss, für das man niederknien und Demut demonstrieren muss, durchseucht die Menschen des Westens, die Menschen der abendländisch-amerikanischen Spätzeit, wie eine thymopathische Epidemie.
Fragen stellen sich:
Die Menschen? Ist denn die ganze Nation betroffen? Oder handelt es sich eher um ein „Elitenphänomen“?
Nation? Welche Nationen sind betroffen? Wie lässt sich das Problem aus ihrer jeweiligen Geschichte und Mentalität erklären?
Ist es wirklich sinnvoll, das Phänomen „Masochismus“ zu nennen?
Man assoziiert mit dem Masochismus gemeinhin gewisse Praktiken aus dem sagenhaft weiträumigen Skurrilitätenkabinett menschlicher Erotik. Lack und Leder, Rohrstock und Knebel, Schmerzlust, Unterwerfung, Flagellantismus, Koprophagie, schrägste Devianzen und Unaussprechlichkeiten. Ist es empfehlenswert, in diesem Sinne nationalpsychologisch von „Masochismus“ zu sprechen? Ist die Metapher gut gewählt, bringt sie also den Wesenskern der Sache hinreichend präzise und anschaulich zum Ausdruck?
Wenn wir an Grünenpolitikerinnen denken, die sich darauf freuen, dass sich Deutschland durch den Zuzug von „Goldstücken“ drastisch „verändern“ wird, oder an gutmenschliche Bahnhofsklatscher, die jungmännliche Grenzüberschreiter mit Stofftierchen beglücken, dann findet man erstmal wenige Berührungspunkte mit den Usancen der SM-Szene oder jenen Fallbeispielen, die Krafft-Ebing in seiner noch immer nicht ohne inneres „Hui!“ und „Huch!“ zu lesenden Psychopathia Sexualis (1886) zum Besten gibt.[1]
Nein, wenn wir es hier mit etwas zu tun haben, das einer Vorliebe fürs Gequältwerden ähnelt, dann kommt schon eher das infrage, was Freud (1924) den „moralischen Masochismus“ nannte.[2] Im Gegensatz zur sexuellen Abirrung im engeren Sinne, dem „erogenen Masochismus“, handelt es sich bei dieser Spielart um eine „Norm des Lebensverhaltens“, hervorgegangen aus einem „Strafbedürfnis“, dessen Bezug zur Sphäre der Wollust gelockert, zuweilen kaum mehr erkennbar ist. Man könnte mutmaßen, dass „hier der Destruktionstrieb […] nach innen gewendet wurde und nun gegen das eigene Selbst wütet“. Das vorherrschende Symptom ist dabei aber nicht die Lust am Schmerz, sondern „ein Lebensarrangement, das dem Menschen ständig Leiden, Unglück und Schicksalsschläge ‚beschert‘“.[3] Diese Auslagerung des Gewissens in lebenslange Selbstbestrafungskonstellationen (z.B. bei Frauen, die beziehungsmäßig immer wieder an dieselben Schlägertypen „geraten“) ist ersichtlich etwas ganz anderes als das paraphile Spiel mit Handschellen, Reitpeitschen und Gießkannen.
Was zu der Vorstellung vom Nationalmasochismus bestens passt, ist das „unbewußte Schuldgefühl des moralischen Masochisten. […] Die Befriedigung dieses unbewußten Schuldgefühls ist der vielleicht mächtigste Posten des in der Regel zusammengesetzten Krankheitsgewinnes, der Kräftesumme, welche sich gegen die Genesung sträubt und das Kranksein nicht aufgeben will.“
Man könnte hier nun weiterfragen, nach dem Analogon zum sadistischen Über-Ich, „dem das Ich sich unterwirft“, zum masochistischen Ich, das „nach Strafe, sei es vom Über-Ich, sei es von den Elternmächten draußen, verlangt“, ob also etwa eine nationalsadistische Elite sich als parentale Gewissensmacht aufspielt und dem strafbedürftigen Volk nur gibt, was es in seiner weibischen Submissivität ohnehin verlangt, ob also die Nation als Kollektivpsyche einem moralisch-masochistischen Individuum entspricht, dessen Instanzen sich irgendwie in seinen Klassen- und Machtstrukturen abbilden, oder ob die Deutschen einfach ein Volk von 84 Millionen Einzelmasochisten sind, von denen jeder seine individuelle Perversion zu analysieren und zu bearbeiten hätte. Alles ziemlich uferlos und spekulativ. Vielleicht besser noch mal Professor Freud eine Zigarre rauchen lassen und an anderer Stelle ansetzen?
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SELBSTSCHÄDIGUNGEN – Anders als beim Masochismus steht bei der hier zu befundenden National-Perversion der selbstquälerische Aspekt im Vordergrund. Deutschland braucht offenbar keinen „Top“, kein Partner-Land, das die Rolle der sadistischen Domina übernähme.[4] Das, was es da mit sich selbst veranstaltet, ähnelt vielleicht eher den vielfältigen Praktiken, die man aus dem Formenkreis des autodestruktiven Verhaltens kennt. Deliberate Self-Harm Syndrom (DSHS), Indirekt Selbstschädigendes Verhalten, Chronic self-destructiveness, NSSV (Nichtsuizidales selbstverletzendes Verhalten). Dazu zählen etwa die rätselhaften Ritz-, Schnitt-, Schürf- oder Brandverletzungen, die sich Betroffene, meist Jugendliche, zufügen, um intensive negative Gefühle zu regulieren und psychophysiologische Erregungszustände zu reduzieren. Dazu zählen auch der Konsum langfristig zerstörerischer Rausch- und Genussmittel, die nichtstofflichen Abhängigkeiten (z.B. Glücksspielsucht, Internetsucht), sowie die Selbstsabotage mittels habitueller Vermeidungsstrategien wie etwa Prokrastination, die Sammel- und Anhäufungszwänge, und vor allem natürlich die diversen Essstörungen, Magersucht, Ess-Brech-Sucht, Fresssucht – alles „Methoden“, die letztlich der emotionalen, sozialen und kognitiven Regulation, der Kompensation affektiver Dysbalancen dienen.
Der Organismus strebt nach Homöostase. Leere, Druck, Langeweile, Erregung, einseitige Belastung, Entbehrung, Einsamkeit, Dauerstress sind Zustände, die nach Ausgleich verlangen. Es hängt von der Persönlichkeitsstruktur – gegebenenfalls von der Persönlichkeitsstörung – ab, wie das Individuum den Ausgleich zu bewerkstelligen sucht. Der gefestigte, reife, sozial gut eingebundene Mensch beruhigt sich vielleicht beim Sport, reagiert sich ab in non-destruktiven Verhaltensweisen, sucht Trost und Halt in der Natur, domestiziert seine Dämonen mit den Sublimaten der Kunst, er artikuliert seine Nöte und findet Gehör in Familie und Freundeskreis. Der stille, introvertierte Selbstzerstörer wird eher zu kindlich Bewährtem greifen, vorzugsweise zur oralen Ersatzbefriedigung, zur Schokolade, zum Bier, zur Frustfressattacke, zum Kettenrauchen; der impulsive, sprachlos-histrionische Typus wird eher zu expressiv-kryptokommunikativen Mitteln tendieren, um sich Erleichterung zu verschaffen oder das Lebensvakuum mit irgendetwas Echtem oder zumindest Gegenständlichem zu füllen, mit Blut, Schmerz, Kotze, Geschrei, entsetzten Gesichtern, weinenden Angehörigen, einer aufgebrachten Welt, die ihn wenigstens im Modus der Sorge und des Entsetzens spüren lässt, dass er noch da ist.
Die ultimative Selbstschädigung ist natürlich der Suizid, welcher auch des Öfteren als Metapher für den Verfall der abendländischen Kultur herhalten muss. „Der Selbstmord Europas“ lautet etwa ein bekannter Buchtitel. Gewiss verkaufsförderlich, aber nicht sonderlich erkenntnisdienlich. Denn ein Selbstmord, ein Kopfwegballern, Pulsadernöffnen oder Vordenzugwerfen ist unser schleichender Abstieg in die Nichtexistenz ja gerade nicht. Die Sensationalität eines Suizidversuchs würde wahrscheinlich auch stärkere Abwehrreaktionen hervorrufen, als die kleinen Widerstands- und Aufbäumreaktionen, die wir hier und da erleben.
Nein, Deutschland ist nicht der Typ, der sich die Handgelenke aufschneidet, wir haben es bei diesem Patienten weniger mit akut und blutig imponierenden Selbstverletzungen zu tun als vielmehr mit chronifizierten Formen der Selbstschädigung. Deutschland schafft sich langfristig ab, so wie sich ein bestimmter Typus von Alkoholikern abschafft. Deutschland ähnelt jenem Gewohnheitstrinker, der einigermaßen moderat, aber doch eben dauerhaft über der Risikoschwelle trinkt, gerade so, dass er selbst und sein Umfeld sich irgendwie noch einreden kann, er habe es halbwegs unter Kontrolle. Deutschland benimmt sich wie so ein Süchtiger und Lebensflüchtiger, der die Dosis über die Jahre unmerklich steigert, sich gelegentlich am Riemen reißt, sich aber anfallsweise auch immer mal wieder ordentlich abschädelt, sodass irgendwann doch alle, die es sonst nicht wahrhaben wollten, merken, dass irgendetwas mit ihm so ganz und gar nicht in Ordnung ist. Aber die Therapie eines Alkoholikers ist unglaublich anstrengend und frustrierend, und wenn der Betreffende gar nicht clean und gesund werden will, ist ohnehin alles Bemühen zum Scheitern verurteilt. Er verfällt zusehends, man sieht dem Elend resigniert, traurig und wütend zu, und irgendwann ist er halt tot. Ihm war einfach nicht zu helfen. Oder doch?
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SCHRÄGLAGEN – Die Geschichte der Zivilisation – und also die Geschichte der Zivilisations-Krankheiten, das heißt: der Denaturations-Krankheiten – ist eine Geschichte der gescheiterten Versuche, die verlorene Homöostase wiederherzustellen. Der Mensch hat sich von der neolithischen Revolution bis zur Etablierung der globalen digitalen Parallelwelt einen Lebensraum geschaffen, in dem homöostatische Ideale nahezu unerreichbar geworden sind. Ein Wellenmeer, auf dem der „weise“ Waldrandprimat mit seinem Behelfsbötchen ständig zu kentern droht.
Tiere, die in menschliche Zivilisationszusammenhänge geraten, entwickeln die gleichen pathogenen Strategien, um mit ihren leerlaufenden Trieben und Programmen umzugehen, um nicht durchzudrehen, um ihre Entfremdungen auszugleichen, um die Ziel- und Sinnlosigkeiten ihrer Existenz zu kompensieren. Wir sehen die gleichen hilflosen Bizarrerien wie bei Menschen, die in eine Welt geworfen sind, für die sie nicht gemacht sind. Die adipöse Diabeteskatze, der Fuchs, der sich im Käfig der Pelztierfarm die Pfote abnagt, der Komasäufer, der Borderliner, der sich die Fingernägel, bis zum Nagelbett herunterbeißt, herunterreißt – verzweifelte Regulationsversuche, verzweifelte Versuche, die Schräglage des Bootes auszugleichen, Versuche, die kurzfristige Erleichterung gewähren, aber auf die Dauer zu nichts führen. Weil es nun mal nicht das Boot ist, das schräg liegt, sondern das Meer.
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IDENTITÄTSSTÖRUNGEN – „Selbstzerstörerisches Verhalten“ ist ein rein deskriptiver Terminus, er umreißt die Außenseite eines Phänomens, das ja irgendwelche Gründe haben muss, Motive, Triebkräfte. Die Alkoholiker-Analogie führt wohl in die Irre, denn die Selbstzerstörung ist bei Süchten nur ein Nebeneffekt, ein in Kauf genommenes Risiko. Es lohnt sich also nicht, beim Patienten Deutschland etwa nach einer dem Alkohol vergleichbaren Suchtsubstanz zu suchen. Die Süchte sind in der Regel indirekte Formen der Autodestruktivität. Die direkten Formen, also etwa das Schneiden mit Messern, Scherben, Rasierklingen, das Zufügen von Wunden durch Kratzen und das wiederholte Aufkratzen alter Wunden, das Ausreißen der Haare, das Schlagen des Kopfes an Wände und Tische, das Schlucken von Chemikalien, das Abschnüren von Gliedmaßen, sind nicht selten Teile jenes Syndroms, welches in der Klinik den größeren Persönlichkeitszusammenhang bildet: die Borderline-Störung. Dabei handelt es sich um „Grenzfälle“, um zwischen Neurose und Psychose stehende Krankheitsbilder, Identitätsstörungen, die durch ein wiederkehrendes Muster von Instabilität in zwischenmenschlichen Beziehungen, im Selbstbild und in den Affekten sowie von deutlicher Impulsivität gekennzeichnet sind.
Ist Deutschland ein Borderliner? Dass Deutschland an einer Identitätsstörung leidet, bedarf keiner gesonderten Beweisführung. Dass Deutschland an mangelnder Impulskontrolle leidet, wurde im Atomausstiegsjahr 2011 und im Grenzabschaffungsjahr 2015 mehr als deutlich. Die Selbstverletzung durch importierte, ja beinahe schon „integrierte“ Messerkriminalität passt zudem relativ zwanglos ins Bild, wie auch die Neigung, „die alten Wunden offen zu halten“ – eine Formel, die geradezu leitmotivisch für den deutschen Nachkriegsstädtebau geworden ist, bis heute wird sie von Architekten bemüht, die ihren Bauten einen geschichtspädagogischen Mehrwert einschreiben wollen. Die traumatische Erfahrung körperlichen und seelischen Missbrauchs teilt Deutschland ebenfalls mit vielen Borderline-Patienten. Ist es des Metaphorisierens zu viel, wenn man sagt, dass unsere Nation in einer Art Kindheitsphase (einer Phase krassester Selbst-Infantilisierung) schwerst traumatisiert worden ist, dass sie heftigsten Misshandlungs- und Gewalterfahrungen ausgesetzt war von Seiten einer geliebten Bezugsperson, der sie völlig ausgeliefert war (nachdem sie sich ausgeliefert hat), so wie etwa 70 Prozent der Borderliner? Deutschland hätte nach dem Verlust seines geliebten, vergötterten Vergewaltigers sicher mehr gebraucht als eine Re-Education. Deutschland – wenn man es denn schon am Leben ließ und wieder hochzupäppeln unternahm – war kein Fall für den Erzieher, sondern für den Traumatherapeuten. Mittlerweile hat sich die Störung allerdings derart zum Charakter verfestigt, dass es mit der Therapie schwierig wird …
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SELBSTWERTPROBLEME – Der manifeste Selbsthass, der autoaggressive Selbstabschaffungswille, scheint heute vor allem eine Spezialität antifantischer Eliten zu sein, jener Erleuchteten und Fanatisierten in Medien, Politik und „Zivilgesellschaft“, die moralische Lust- und Distinktionsgewinne ziehen aus der Überwindung des Eigenen, der Transgression identitärer Grenzen und Bindungen. Diese Merkmale scheinen mir irgendwo in der Schnittmenge von Borderline-Persönlichkeitsstörung und religiösem Wahn – man denke an die Geißelungspraktiken der mittelalterlichen Flagellanten – zu liegen.
Die große Masse der Normaldeutschen dagegen hat vielleicht ganz einfach ein Selbstwertproblem, schätzungsweise ungefähr auf dem Niveau einer leichten bis mittlerer Neurose. Die normalen Deutschen hassen sich ja nicht, sie haben auch keine Lust an der Unterwerfung, sie empfinden kein Strafbedürfnis und werten es nicht als Gerechtigkeit der Geschichte, wenn ihre Töchter und Großmütter von „Schutzsuchenden“ vergewaltigt werden. Sie haben lediglich ein diffuses, mit der Muttermilch einverleibtes Minderwertigkeitsgefühl, das sich wohl am prägnantesten darin offenbart, dass sie im Ausland immer noch versuchen, nicht als Deutsche erkannt zu werden und stolz sind, wenn sie für Engländer oder Italiener gehalten werden. Werden sie doch enttarnt, so verhalten sie sich unangemessen freundlich und hypersympathisch, was bei den Einheimischen mit normalem Selbstbewusstsein, also fehlender Nationalneurose, als peinlich devot empfunden wird. Die Deutschen versuchen, noch dem arrogantesten Pariser Kellner als besonders liebenswürdige Gäste in Erinnerung zu bleiben. Spielt in Lissabon eine Straßencombo auf, sind sie die ersten, die ihre Ungezwungenheit demonstrieren, indem sie zu Tanzbewegungen ansetzen und mit Wooo- und Yeah-Rufen applaudieren.
Es sind magisch-kindische Versuche, die Welt, die Über-Ich-Welt der Moral- und Geschichtsbücher wissen zu lassen, dass man nichts zu tun hat mit den Großeltern, die die Gaskammern betrieben haben oder zugelassen haben, dass man selbst ganz bestimmt im Widerstand aktiv gewesen wäre, dass man nun mal leider nichts dafür kann, dass man als Deutscher geboren wurde. Hätte man sich das aussuchen können, wär man bestimmt lieber Däne oder Ire geworden.
Dieses Selbstwertproblem des deutschen Durchschnittsgestörten war so lange eine genierliche Harmlosigkeit, wie die echt ideologisch verbiesterten und charakterlich deformierten Deutschlandhasser noch nicht an der Macht waren. Mittlerweile aber sind sie überall an der Macht, setzen ihre perversen Autodestruktionsgelüste in Taten um, und die deutsch-devoten Neurotikermassen bleiben wie immer mitläuferhaft freundlich und grinsen dazu. Man findet’s nicht toll, dass die City aussieht wie Kandahar und die Werbung sich anfühlt wie Afrika, aber was will man machen? Man ist halt Deutscher und hat es wohl irgendwie nicht anders verdient.
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DER WAHN, GESEHEN ZU WERDEN – Nah an den Kern des Problems scheint mir der Hinweis auf den dem Nationalmasochismus artverwandten „Schuldstolz“ zu führen (S.19f.). Ein pervertierter, pharisäerhafter Stolz ist das, der die Selbsterniedrigung und Bußbereitschaft aufdringlich zur Schau stellt. Hier aber lautet die entscheidende Frage: Wem stellen sich die Deutschen da eigentlich zur Schau? Wer beobachtet uns, wer beäugt und beurteilt uns?
Die Deutschen leben in dem pathologischen Vollgefühl, gesehen zu werden, nicht erst seit der Flüchtlingskrise 2015, da man sich völlig ungehemmt dem Wahn hingab, die Welt blicke mit größter Bewunderung auf Deutschland. Weniger als die Welt kommt für den Deutschen übrigens generell nicht in Frage. Schon in Ernst Reuters theatralisch-gebrochenem Flehen „Völker der Welt! Schaut auf diese Stadt!“ – einem Premium-Mythologem, mittlerweile durch tausendfach wiederholte History-Schnipsel ins Nationalgemüt gebrannt – klingt dieser Mittelpunktswahn, dieser kindische Egozentrismus an, der ganz selbstverständlich davon ausgeht, dass noch der allerfernste Australier jeden Tag mit der Frage aufwacht, was wohl die Deutschen – allen voran die Deutschen aus der „Weltstadt Berlin“ – heute machen werden, ob sie sich als moralisch vorbildlich erweisen werden oder irgendeine menschheitsdienliche Erfindung tätigen werden oder einfach nur ein freundliches Gesicht zeigen und die Welt mit ihrer harmlosen Merkelhaftigkeit beruhigen werden.
Wer beobachtet uns? Welche Phantasiegestalt sitzt bei diesem deutschen Selfmonitoring im Kontrollraum an den Bildschirmen und führt moralische Strichlisten? „Amerika“, wäre natürlich die naheliegende Antwort. Die Siegermacht, der große transatlantische Erziehungsberechtigte, ist zweifellos der mächtigste Player im deutschen Über-Ich, die Instanz, deren Wohlwollen und Zuneigung, deren Segen und Lächeln über die psychische Stabilität des Landes entscheidet wie kaum etwas anderes. Die Auftritte amerikanischer Präsidenten in Berlin – allen voran Kennedy 1963 und Obama 2008 – gleichen Epiphanien. Zumindest im kollektiven Gedächtnis. Der deutsche Antiamerikanismus widerspricht dem übrigens keineswegs – der ist lediglich Politik und Ideologie, ist eine ausgedachte Feindschaft, ein willentliches Ressentiment, das gegen die Bestätigungssucht und den Liebeswunsch gegenüber den strahlenden, erfolgreichen, gewinnenden, wohlhabenden, traumschönen Stiefeltern aus der neuen Welt jenseits des großen Wassers so gut wie nichts vermag.
Ich will es nicht übertreiben mit den tiefenpsychologischen Hüftschüssen, aber die religiöse Dimension dieses Verhältnisses ist ja kaum zu übersehen: Amerika ist eine Art Stiefgottheit aus dem westlichen Jenseits. So schnell kriegt man bei aller religiösen Heruntergekommenheit den alten Kinderglauben schließlich doch nicht aus den Knochen. Was die Deutschen – immerhin doch die abendländischen Christenmenschen par excellence – tun, das tun sie noch immer in dem Halbbewusstsein, dass es von Gott gesehen wird. Da es den alten (echten) Gott nicht mehr gibt, und da die alten (falschen) Ersatzgötter blutig versagt haben, hat ein neues Numinosum die Leerstelle relativ leicht einnehmen können.
Erster völkerpädiatrischer Lehrsatz: Willst du die Kindereien einer Nation verstehen, sieh dir ihren Gott an. In diesem Fall: ihre Göttin.
Fortsetzung folgt …
[1] Richard von Krafft-Ebing: Psychopathia sexualis, Matthes und Seitz, München 1984
[2] Sigmund Freud: Das ökonomische Problem des Masochismus (1924). Studienausgabe Band III, Fischer, Frankfurt am Main 2000
[3] Hoffmann/Hochapfel: Neurosenlehre, psychotherapeutische und psychosomatische Medizin. Stuttgart, New York 1999, S. 147 ff.
[4] Top und Bottom, Dom und Sub bezeichnen den aktiven bzw. passiven Partner im BDSM-Rollenspiel.
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