Oder: Begriffliche Beihilfe zu Fragen der Sinnstiftung und Mentalitätskonstruktion im Zeitalter der fiktionistischen Elitokratie
In der Sendung „Politicum“ sprach der vortreffliche, stets hörenswerte Rechtsgelehrte Ulrich Vosgerau kürzlich folgende Sätze über Postdemokratie und Elitenkonsens:
„Ich sage immer Postdemokratie, ich habe selber kein besseres Wort dafür … Postdemokratie ist nicht ganz so elegant, weil das ja nur eine Abgrenzung ist. Man sagt, irgendetwas ist keine Demokratie mehr – das glaube ich allerdings sagen zu können, das kann man ganz einfach begründen: Wenn man dasjenige System, das wir im Jahre 1985 in Westdeutschland gehabt haben, […] als eine freiheitliche Demokratie bezeichnet – und die Bezeichnung scheint mir adäquat zu sein – dann kann man das, was heute gespielt wird, nicht mit genau demselben Wort belegen, denn die Unterschiede sind zu groß.
Es ist natürlich auch keine Diktatur, […] es ist irgendetwas anderes, für das uns das Wort noch fehlt, deswegen sage ich gern Postdemokratie, […] die wird dadurch ausgemacht, dass im Elitenkonsens regiert wird.
In einer echten Demokratie, da hat man ein oppositionelles Lager, da hat man ein Regierungslager. Das Oppositionslager will in vielen Dingen das genaue Gegenteil von dem, was die Regierung will, und das Volk hat dann die Möglichkeit, die Opposition an die Macht zu wählen, und dann wird eine völlig andere Politik getrieben. Und wir sehen, das ist heute nicht mehr der Fall, da die Eliten in Politik und Medien … man könnte regelrecht von einem politisch-medialen Komplex sprechen, der inzwischen sogar droht, in einen politisch-medial-wissenschaftlichen Komplex überzugehen – denn die Wissenschaft wird ja mit einbezogen, und die Experten sollen dann immer die Rechtfertigung liefern –, […] der regiert eigentlich im Konsens, und es ist ganz schwer, hier einen Politikwandel herbeizuführen.“[1]
Dazu nun folgende kleine Anmerkungen:
In der Tat ist der Begriff Postdemokratie zu inhaltsleer, weil er eben nicht benennt, was denn post demos kommt, wer also nun herrscht, nachdem das Volk weitgehend abgesetzt worden ist. Diese Frage wäre aber doch relativ leicht zu beantworten (und Vosgerau beantwortet sie ja auch fast): Es herrscht die Elite. Wir leben in einer Elitokratie.
Was ist das für eine Elite? Es sind jedenfalls nicht die Besten, nicht die Reichsten, nicht die Kundigsten, nicht die Verständigsten. Wir leben also weder in einer Aristokratie noch in einer Plutokratie, auch nicht in einer Expertokratie oder einer Epistokratie.
Die herrschende Elite ist eine moralische Machtelite [2]. Sie herrscht nicht primär durch die Macht, Gesetze zu erlassen, den Bürgern die Polizei auf den Hals zu hetzen, ihr Eigentum zu entwerten oder oppositionelle Kräfte zu kriminalisieren. Physische Repression bleibt eher die Ausnahme. Ihre eigentliche Macht besteht im Regiment über die Ausgestaltung der strukturellen Gewalten in der Gesellschaft, im Errichten all der unsichtbaren Mauern, Leitplanken und Geländer, die den freien Menschen weit über die bestehenden Gesetze hinaus in seiner Privatautonomie einhegen und auf die Pfade der linksgrünwoken Tugend geleiten sollen, kurz: Sie besteht in der kulturellen Hegemonie, im Fokussieren des allgemeinen Problembewusstseins, im Gewichten der Relevanzen, im Abstecken des Gebotenen und Zulässigen, im Setzen des „guten“ Tons, im manipulativen Einstimmen der Öffentlichkeit, im Zugriff auf die subjuristisch-sozialpädagogischen Mittel der Inklusion und Exklusion.
Wer eliert diese Leute? Wer ermächtigt sie? Nun, die Machtelite macht sich quasi von selbst, sie formiert und konsolidiert sich in einem fortwährenden Prozess reziproker Selbstbestätigung, und ihre Macht besteht gerade darin, sich untereinander so lange öffentlich konsensuieren zu können, sich so lange miteinander vor Kameras und Mikros zu harmonisieren, sich abzustimmen und anzugleichen, den Abweichlern die Instrumente zu zeigen, den Irrläufern die Konsequenzen vor Augen zu führen, bis ein hinreichend stabiles Einvernehmen hergestellt ist. Ein Einvernehmen, das auf den naiven Medienkonsumenten wie Realität, wie Normalität, wie Alternativlosigkeit wirkt. Beglaubigt von Susanne Daubner bis Markus Feldenkirchen, von Claudia Kempfert bis Igor Levitt, abgesegnet von Joachim Gauck bis Hape Kerkeling, nicht mehr hinterfragbar von aufrechten Demokraten und anständigen Menschen.
Zur zeitgenössischen Elite zählen Menschen, die mitreden und mitbestimmen dürfen, nachdem sie sich in der einen oder andern Form zu den ethischen Fiktionen der Gegenwart bekannt haben: Hitler kann jederzeit wiederkommen. Es gibt kein Volk jenseits der Staatsbürgerschaft. Wer von ethnischen Deutschen phantasiert, ist gesichert rechtsextrem. Weiße sind geborene Rassisten. Der Islam ist eine Religion wie jede andere. Der Islam gehört zu Deutschland, die türkischen Gastarbeiter haben das Wirtschaftswunder erst möglich gemacht. Das Geschlecht ist frei wählbar. Wir mit unserer Geschichte sind verpflichtet, Migranten aus aller Welt in unbegrenzter Zahl aufzunehmen. Die Menschheit ist eine weltweite Rechtsgemeinschaft. Deutschland ist ein weltweit geachtetes Land. Deutschland ist ein reiches Land. Uns geht’s doch immer noch gut. Jeder kann problemlos alles sagen, und wer was anderes sagt, verbreitet Verschwörungsmythen. Maaßen ist ein Rechtsaußen, Höcke ist ein Faschist, Precht ist ein Antisemit, Böhmermann ist ein Satiriker, Baerbock macht nen guten Job. Adipositas ist okay. Behinderung ist Bereicherung. Das deutsche Sozialsystem ist kein Pullfaktor. Alle Kulturen sind gleichwertig. Die EU ist Europa. Der Verfassungsschutz ist eine neutrale Institution. Genderstudies sind Wissenschaft. Gendersprache ist natürlicher Sprachwandel. Grenzschutz, Abschiebung, Remigration sind nicht möglich. Die Tagesschau ist eine sachliche, unparteiische Nachrichtensendung. Frauenfußball ist echter Fußball. Männer können Kinder gebären. Die Erde kann locker zwölf Milliarden Menschen ernähren, wenn wir nur alle solidarisch sind. Afghanische und ghanaische Männer sind nicht gewalttätiger als deutsche Männer, und wenn doch, dann nur, weil wir sie ausgrenzen und sie nicht engagiert genug integrieren und uns nicht ausreichend bei ihnen entschuldigt haben für all unsere Sünden. – All das sind Bekenntnisse, die als Tugendnachweis anerkannt werden können. Wenn man als nachdenkliche Jungschauspielerin oder als meinungsstarker Fernsehkoch solche Sachen in einer Talkshow äußert, mit kritischer Miene und unzweideutigem Abscheu vor den erstarkenden Feinden der Demokratie, dann brandet zuverlässig Applaus auf, die Runde nickt beifällig, man gehört dazu. Nur hat nichts von all dem mit Wahrheit und Wirklichkeit zu tun. Es ist alles Confessio und mainstreamfromme Formelsammlung. Reinste Religion.
Die alten Eliten sind entmachtet, weder Leistungseliten noch Funktionseliten oder faktisch-demokratisch gewählte Eliten können als solche irgendetwas bestimmen, wenn sie sich weigern, zu den Fahnen des moralischen Fortschritts zu schwören. Die Abgeordneten der AfD zählen zwar formal zu einer der hochrangigsten Eliten überhaupt, zu den paar hundert Parlamentariern, sie repräsentieren viele Millionen Bürger dieses Landes, tatsächlich aber haben sie weniger zu sagen als irgendein Krimiautor oder Wetterfrosch, der regelmäßig in der NDR-Talkshow oder bei 3nach9 Platz nehmen darf, um ungestört seine unqualifizierte Meinung zur Meinungsfreiheit zu ventilieren.
In den letzten Jahren etablierte sich als Bezeichnung für diese informelle Staatsgewalt die Redewendung vom politisch-medialen Komplex. Ich würde diesen Begriff noch etwas weiter erweitern als Ulrich Vosgerau und das Ganze einen politisch-medial-akademisch-kulturellen Komplex nennen.
Diese wahnhafte Wertegemeinschaft ist die Produktionsstätte der elementaren sinnstiftenden Fiktionen im Deutschland der Gegenwart. Sie formuliert die verbindlichen Antworten auf die fünf großen Fragen, über welche die Mitglieder einer politischen Großgruppe (also beispielsweise einer Nation), die zu massenhaft und gleichzeitig zu atomisiert ist, um noch eine Gemeinschaft zu bilden, relative Einigkeit erzielen müssen, damit die bestandssichernde soziale Kohäsion aufrechterhalten werden kann:
1. Was ist? Was war? – Die Frage nach der Wirklichkeit in Gegenwart und Vergangenheit wird von Wissenschaftlern, Journalisten, Dokumentaristen, Ermittlern, Diagnostikern, Rechercheuren, Archivaren, Faktencheckern beantwortet.
2. Was gilt? – Die Frage nach ethischen, juristischen, ästhetischen, sittlichen Normen und Tabus wird von Richtern, Rechtswissenschaftlern, Leitartiklern, Klerikern, Ethikern, Moderatoren, Modeschöpfern, Werbefachleuten, Parlamentspräsidenten beantwortet.
3. Was wird sein? – Die Frage nach der wahrscheinlichen Wirklichkeit der Zukunft wird von Prognostikern, Mathematikern, Modelleuren, Journalisten, Philosophen, Trendforschern, Demoskopen beantwortet.
4. Was soll sein? – Die Frage nach Zielen, Wegen, Plänen, wird von Staatsmännern, Politikern, Philosophen, Journalisten, Aktivisten, philanthropischen Stiftungen, Think Tanks beantwortet.
5. Was könnte sein? – Die Frage nach Optionen, Idealen, Wunschträumen, nach dem Erstrebens- und Begehrenswerten wird von Künstlern, Visionären, Designern, Kommunikations- und PR-Strategen, vor allem aber von den Kreativen der Marketing- und Werbebranche beantwortet.
Das war – mutatis mutandis – zu allen Zeiten so oder ähnlich, könnte man wohl anmerken. Ja, das ist korrekt, ich behaupte auch weder, hier große Novitäten zu präsentieren, noch will ich etwa generell gegen die Notwendigkeit von Eliten argumentieren. Kennzeichen unserer megamedialisierten Zeit ist es aber, dass – erstens – die Antworten in einer solchen Lautstärke, in einer solchen Frequenz und Permanenz gegeben werden, dass die Fragen bei den Allerwenigsten überhaupt noch aufkommen. Und dass – zweitens – das System offenbar schon vor geraumer Zeit einen Kipppunkt überschritten hat, seit dem es in keiner Weise mehr drauf ankommt, ob irgendjemand auch nur zum Schein die nötigen Qualifikationen mitbringt, aus denen sich irgendwie ein Recht ableiten ließe, mehr sagen, mehr bestimmen zu dürfen als die Masse der Normalbürger. Die zeitgenössische Elite ist in weiten Teilen eine Negativauslese, nie gab es in der Bundesrepublik eine vergleichbare Nietendichte unter den oberen Zehntausend. Die dysfunktionalen Selbstrekrutierungsmechanismen spülen Existenzen nach oben, die wenig mehr auszeichnet als ihre Medientauglichkeit: zeitgemäße Rhetorik, Establishment-kompatibler Habitus und die üblichen Leistungsnachweise in praktischem Moralismus.
Ich persönlich halte übrigens den letzten Punkt der oben genannten Big Five für den bedeutsamsten: Wahre Macht hat, wer das Begehren der Menschen abzurichten in der Lage ist. Niemals wären die Massen derart formierungswillig, derart fügsam und lammfromm gegenüber den Zumutungen vonseiten des PMAK-Komplexes, wenn sie nicht derart abgelenkt und beschäftigt wären mit dem Pursuit of Happiness. Und was Happiness ist, was ein erfülltes, reichhaltiges Leben sein könnte, das zeigen ihnen die satanischen Zauberer der Unterhaltungs- und Konsumwelt ohne Unterlass. Die Herren über die Warenlager der Fantasie implantieren unwiderstehliche Bilder perfekter Lebenswelten in die leeren Seelen der Menschen, so massenhaft und milliardenfach, so lebenslang, so bunt und süß und einnehmend und schwindelerregend, bis dem gemeinen Glückssucher ein Leben ohne die restaurantküchengroße Grillstation im Garten, ohne Netflix und 23 weitere Streaming-Abos, ohne begehbaren Schuhschrank und ohne dekorative mixed-race Nachbarsfamilie völlig unvorstellbar erscheint.
Aus Erich Fromms Haben-Orientierung ist mittlerweile eine Must-Have-Abrichtung geworden, ein Anhäufungs- und Ausstattungsanankasmus, wie die Welt ihn noch nicht gesehen hat. Und es ist leicht einzusehen, dass ein Wesen, das derart aufs Haben fixiert ist, sich nicht noch groß mit den Strapazen des Seins (und also des Werdens) abplagen wird. Wozu auch? Es lebt ja in der Illusion, es sei. Es wird gar nicht verstehen, was es da zu bezweifeln geben könnte, lebt es etwa nicht den lebenswertesten Lifestyle aller Zeiten?
Wer bin ich, was bin ich? Wie werde ich, was ich bin? – Belanglose Fragen für den Gegenwartskonsumisten, dem der aktuelle Kaufland-Prospekt gerade den großen Genuss in Form einer Kiste Warsteiner für 9,99 und den Daseinssinn in Gestalt der Wohnlandschaft Cosini von Guido Maria Kretschmer Home&Living verheißt, womit das Leben fast so zelebritiös zu werden verspricht, wie das der Beckhams und der Williams und der Harry-and-Meghans, die regelmäßig in melodramatischen Dokuserien ihre Besitztümer und ihre aufgeblähten Schicksale zur Schau stellen: Überall heulende starke Frauen mit Plastikgesichtern, tätowierte Männer, die ihre Familien beschützen wollen, Multimillionäre, die barfuß in Zeitlupe mit ihren vier Kindern und zwei Hunden durch ihre Privatparks tänzeln und nach bewegten Leben voller Schlagzeilen, Steroide und verschossener Elfmeter das stille Glück in der Luxus-Genügsamkeit gefunden haben. Hochglanznihilismus, Kleinbürgerträume in XXXL, Lebenssimulanten, die alles haben und nichts sind. („Nichts“ ist jetzt vielleicht ein bisschen böse, aber es wäre schon interessant, mal zu sehen, was von diesen Existenzen substanziell übrigbliebe, wenn man ihnen ihr ganzes Zeug und Zubehör dauerhaft auf die Normalmaße der unteren Mittelschicht zusammenkürzen würde.)
Wie entmachtet man die Machtelite, wie zerreißt man ihr durch und durch verlogenes Sinngeflecht?
Zum Beispiel indem man wie zu Wolfgang Borcherts Zeiten NEIN sagt [3]:
Du. Medienkonsument. Wenn sie dir morgen ihre Fiktionen und Narrative andrehen wollen, dann gibt es nur eins:
Sag NEIN!
Wenn sie dir deine Zweifel und dein Andersdenken ausreden wollen, wenn sie dich mit billigem Konsumtand ablenken und betäuben wollen, wenn sie deine Versuche, in der Wahrheit zu leben, delegitimieren wollen, wenn sie dich in ihre Wahnwelt hineinziehen wollen, dann gibt es nur eins:
Sag NEIN!
Und zwar bei jeder Gelegenheit. Es hilft alles nichts – du als Einzelner bist gefordert. Du hoffst auf die nächsten Wahlen? Du hoffst auf die politische Wende? Du hoffst vergebens. Wahlen werden die wahren Mächte nicht beeindrucken. Alternative Regierungen werden die politisch-medial-akademisch-kulturellen Eliten nur noch fester zusammenschmieden in ihrem heiligen Kampf. Wahlen werden das Wahnsystem der Wohlgesinnten weder stürzen noch heilen. Wahlsiege welcher politischen Opposition auch immer werden den Fiktionismus erst recht auf ungeahnte Höhen treiben.
Du, du als freier, unverdrehter Einzelner musst jeden Tag – auf der Arbeit, in der Teamsitzung, in der Schule, im Verein, an der Uni, in der Kneipe, im Supermarkt, in der Stadtbücherei, in der Arztpraxis, in der Straßenbahn, in der Sonntagsmesse – Widerstand gegen die Fälschung der Welt leisten und NEIN sagen.
Und wenn du keine Lust hast, dein ganzes restliches Leben nur noch mit NEIN-Sagen zu verbringen, dann finde gute, starke, wahre Antworten auf die fünf großen Fragen. Bessere Antworten als die des PMAK-Komplexes. Antworten, zu denen echte Menschen bei klarem Verstand aus ganzem Herzen JA sagen können.
[1] Politicum – Verfassungsbruch als Staatsräson, https://www.youtube.com/watch?v=6mQ6UKYcdJo (2:36 bis 3:59)
[2] https://de.wikipedia.org/w/index.php?title=Machtelite&oldid=222132870
[3] Vgl. Wolfgang Borchert (1947): Dann gibt es nur eins! https://www.nationaltheater-weimar.de/dokumente/wolfgang_borchert_dann_gibt_es_nur_eins.pdf
© Marcus J. Ludwig 2024
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