-ende

Verstiegene Vorarbeiten zu einer Theorie des Partizipienmissbrauchs auf den Achtsamkeitsinseln  

  

Der hawaiianische Gelegenheitslinguist Jürgen von der Lippe zitierte jüngst den weimaranischen Gelegenheitsdichter Johann Wolfgang von Goethe mit dem dogmatischen Diktum, Hochschüler seien nur im Hörsaal Studierende, in der Kneipe seien sie Studenten. Ganz ähnlich verhält es sich dem stilsicheren Stimmungsmusikanten zufolge mit dem Bäcker, welcher allenfalls in der Backstube ein Backender sei. Gehe er aufs Klo, sei er nicht mehr Backender, sondern Bäcker, und zwar ein kackender.
Goethe und Lippe haben zweifelsohne recht, aber der Einzelfall macht noch keine Regel. Was ist mit dem Oberkommandierenden und dem Überlebenden? Die bleiben in der Kneipe wie auf dem Klo, was sie sind: Partizipien. Ganz ohne woken Gender-Firlefanz.


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„DUDEN – Das große Wörterbuch der deutschen Sprache, 4. Aufl. Mannheim 2012“ kennt 123 aus Partizip 1 konvertierte Substantive. Zieht man Komposita ab (es gibt beispielsweise 24 Komposita mit –vorsitzende und 21 mit –reisende) und zählt Minimalvarianten wie Werbetreibende/Werbungtreibende oder Stellensuchende/Stellungsuchende als einen Treffer, bleiben die folgenden 43 „etablierten“ Personenbezeichnungen:
Der/die
Abwesende
Alleinerziehende
Andersdenkende
Anwesende
Ausbildende
Auszubildende
Besserverdienende
Betreffende
-bietende (z.B. Meistbietende)
Demonstrierende
Dienstleistende
Diensttuende
Einsitzende
Ertrinkende
Fahrende
-führende (z.B. Aufsichtführende)
-gebärende (z.B. Spätgebärende)
Gebende
Genesende
-habende (z.B. Diensthabende)
-halbierende (z.B. Winkelhalbierende)
Heranwachsende
Hinkende
Lehrende
Lernende
Liebende
Mitwirkende
Notleidende
Oberkommandierende
Reisende
Resultierende
-schaffende (z.B. Filmschaffende)
-stehende (z.B. Alleinstehende)
Sterbende
Studierende
-suchende (z.B. Arbeitssuchende)
-tragende (z.B. Leidtragende)
-treibende (z.B. Gewerbetreibende)
Überlebende
Vertragschließende
Vorsitzende
Vortragende
Zuspätkommende

ForschendeDarstellendeMalendeMitarbeitende und all die andern per Verlaufsform Neutralisierten existierten in diesen toxischen, prä-woken Zeiten offenbar noch nicht.

Mangels neuerer per Endungssuche durchsuchbarer DUDEN-Ausgaben lässt sich leider nicht präzise angeben, wie viele Partizip-1-Substantive heute als gültig angesehen werden. Es müssten tausende sein [1], wenn das grammatische Prinzip gälte, dass alle deverbativen Nomina agentis statt per er/erin-Suffigierung auch durch Partizip-Konversion gebildet werden könnten.
Frage: Könnten sie? Warum nicht? Warum sollte man nicht nach dem Beispiel des Heranwachsenden und des Reisenden auch den Mauernden, den Schriftstellenden und den Besserwissenden bilden? Man sagt ja auch nicht Heranwachser und Reiser, warum dann also Maurer, Schriftsteller und Besserwisser?
Gibt es eine Gesetzmäßigkeit, nach der es irgendwie logisch oder genetisch nachvollziehbar wäre, dass bestimmte Nomina agentis so und andere so gebildet werden? Eine Logik, welche die rein aus moralischen Motiven geborenen Neutralisierungsbestrebungen von Genderideologen delegitimieren könnte?
Anders gefragt: Waren die 43 „etablierten“ Partizip-1-Personenbezeichnungen „richtig“, und sind die tausend neukonstruierten „falsch“?
Ist es nur eine Frage der Gewohnheit, dass wir den Fraktionsvorsitzenden als richtig, den Dachdeckenden und den Nebenklagenden als falsch empfinden?


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Die mit dem Eingangsbeispiel illustrierte Haupthypothese der Gendersprachgegner besagt, die –er-Suffigierung zeige an, dass die Tätigkeit häufig, gewohnheitsmäßig ausgeführt werde, die –ende-Verlaufsform verweise dagegen auf ein lediglich temporäres Agieren, eine Handlung, die gegenwärtig, quasi jetzt gerade stattfinde. Letztere sei also präsentisch, vorübergehend, aktuell, vielleicht gar akzidentell, erstere dagegen wesenhaft, dauerhaft, essenziell, existenziell.

Beim Lehrer können wir diese Auffassung problemlos bestätigen: Mit Berufseintritt ist und bleibt er dauerhaft und wesensmäßig durch seine Tätigkeit bestimmt, und selbst wenn er dreißig Jahre nach der Pensionierung zurückblickt, wird er Lehrer gewesen sein. Wenn der 95-jährige Opa sagt: „Ich war Lehrender“, wird man das mit altersgemäßen Hirnprozessen zu erklären und mit geriatrischer Nachsicht zu überhören wissen.
Im Kläger finden wir ein bedenkenswertes Gegenbeispiel: Kläger, Hauptkläger, Nebenkläger ist man nur während eines zeitlich begrenzten Gerichtsverfahrens, niemand ist wesenhaft Kläger. Wäre es hier nicht geradezu geboten, vom Klagenden zu sprechen?


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Zur Klarstellung: Wovon reden wir? Wir reden von Nomina agentis.
Bei den Nomina agentis handelt es sich (nach Lenk u. Kohvakka 2007) um eine semantisch bestimmte Teilklasse von appellativischen Substantiven (Gattungsbezeichnungen), mit denen wir den Träger des von der Derivationsbasis, also vom Verb beschriebenen Geschehens benennen, z.B. Bewerber, Einsteiger, Sieger.
Keine Nomina agentis sind demnach solche, die
(a) keine Lebewesen bezeichnen, also etwa die Nomina instrumenti, welche zwar von Verben abgeleitet sein können (und dies oft sogar mit den gleichen Suffixen wie die Nomina agentis), die aber unbelebte Gegenstände wie Instrumente, Werkzeuge, technische Vorrichtungen bzw. Geräte bezeichnen (Regler, Leuchter, Transformator). Dabei gibt es […] eine recht große Zahl von Verbalsubstantiven, die je nach Kontext sowohl als Nomina agentis oder auch als Nomina instrumenti interpretiert werden können (Schwimmer, Schrauber, Rechner).
(b) Personenbezeichnungen, die keine deverbalen Ableitungen darstellen, etwa Pförtner, Schulmeister, Schönling. [2]
Im Nomen agentis drückt sich also folgender Sachverhalt aus: Da ist ein Lebewesen, vorzugsweise ein Lebewesen, das des Agierens fähig ist – was nicht immer so ganz eindeutig ist, wie man am Beispiel des Frühblühers sieht: Ist das Blühen eine Aktivität der Pflanze oder passiert es einfach? – egal, wir haben also ein Lebewesen, und dieses Wesen tut etwas, wodurch es wahlweise zum „Tuer“ oder zum „Tuenden“ wird. Frage: Ist das eine freie Wahl? Eine Wahl zwischen zwei semantisch gleichwertigen, austauschbaren Varianten zum Ausdruck desselben Sachverhalts?

Interessant ist – nebenbei –, dass die Lebendigkeit nicht das Entscheidende am Lebewesen zu sein scheint. Es wird gern argumentiert, dass sich der ganze Unsinn eines Begriffs wie Studierende sofort zeige, sobald ein Amokläufer in den Hörsaal stürmt und die partizipial entsexualiserten Hochschüler umnietet. Sind das dann tote Studierende? Das gehe ja wohl nicht, man könne evidentermaßen nicht gleichzeitig tot sein und studieren.
Was ist aber mit dem ermordeten Fraktionsvorsitzenden? Der geht sehr wohl. Es gibt offenbar Fälle, in denen die passagere, fluide Tätigkeit so weit zur Wesenhaftigkeit geronnen ist, dass sie auch nach dem Tod noch angemessen in Partizipform zum Ausdruck gebracht werden kann, auch wenn das strenggenommen Unsinn ist. Aber auch das strengste Sprachgefühl lässt hier Milde walten. Man käme nicht auf die Idee, den Vorsitzenden im Moment seines Ablebens in einen Vorsitzer umzubenennen.
Allerdings ist dies auch der einzige Fall, der mir einfällt. Was wiederum nicht heißt, dass er jene Ausnahme wäre, die die Regel bestätigt.


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Es fällt auf, dass die Neutralisierung per Partizip vor allem in semantischen Kontexten stattfindet, die den eng umgrenzten Lebenswelten der Sprachaktivisten entsprechen: Wortbildungen wie Studierende, Dozierende, Teilnehmende, Machthabende, Regierende, Ratsvorsitzende, Medienschaffende, Demonstrierende, Radfahrende etc. repräsentieren den Jargon des politisch-medial-akademisch-kulturellen Komplexes und erhärten die Diagnose, dass wir es mit Akteuren auf einem – mit Piaget gesprochen – konkret-operationalen Niveau zu tun haben, Leuten also auf dem geistigen Level von Zehnjährigen, die kaum über das tägliche Anschauungsmaterial ihrer egozentrischen Bubble hinausblicken und -denken. (Was übrigens nicht bedeutet, dass diese Menschen nicht gleichwohl recht gebildet sein können. Es geht bei Piaget ja nicht um die Festplatte, sondern um den Prozessor.)
Erwachsene Sprachkonstrukteure mit einem Funken formal-operatorischen Verstandes würden sich fragen, ob ihre Regeln irgendwie universalisierbar sind. Und sie würden ins Zweifeln kommen, wenn sie feststellen, dass ihre woke Morphologie sofort ins Komische bis Höhnische abgleitet, sobald sie auf Inhalte abseits der Achtsamkeitsinseln angewandt wird: Straßenkehrende, Aldi-Kassierende, Torhütende, Skispringende, Erdogan-Anhängende, Flugzeugentführende, Vergewaltigende, Kinderfickende, Messerstechende etc. Die Genderistas aber kommen niemals ins Zweifeln.

Unter rationalen Diskutanten muss man ja eigentlich nur mal ein Beispiel wie Messerstecher gendersensibel durchdeklinieren [3], um den ganzen Unfug als solchen zu entlarven: Messerstechende, Messerstecherinnen und Messerstecher, Messerstecher*innen, messerstechende Personen, Messerstecher (m/w/d), Messerstechy, Wer mit Messern sticht, das Messerstechertum etc. (Kinderficker spielen Sie bei Bedarf gefälligst selbst im Kopf durch; es gibt Grenzen dessen, was sich niederschreiben lässt.)
Die Bewohner des PMAK-Komplexes aber sind durch solche Überlegungen nicht zu beeindrucken. Sie sind halt echte Gläubige, die sich durch Prinzipien, Logik, Rationalität nicht in ihrer Rechtgläubigkeit beirren lassen.


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Übrigens wird gelegentlich selbst von genderlinguistischer Seite bemängelt, dass es sich bei den so gerne genutzten Partizipialkonstruktionen (und bei den zunehmend beliebten Splittingformen noch offensichtlicher) um bloße Pseudoneutralisierungen, und somit um pseudo-antidiskriminierende Kinkerlitzchen handelt, die „die bestehende Geschlechterordnung nicht irritieren“ [4]. In der Tat: Sobald die Studierenden als Einzelwesen in der Sprechstunde sitzen, hat man es sprachlich wieder mit dem Studierenden oder der Studierenden zu tun, und das „nicht-binäre“ Studierende kann sehen, wo es bleibt.
Die einzig konsequente Neutralisierung wäre letztlich – da ja auch der Mensch und die Person psycholinguistisch mit male- oder female-bias behaftet sind –: das „Wesen, das studiert“.


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Betrachten wir zwei Deverbativa von denken: Was ist der Unterschied zwischen einem Andersdenkenden und einem Vordenker (oder einem Schnelldenker, Querdenker, Freidenker)? Könnten wir auch umgekehrt von einem Andersdenker und einem Vordenkenden sprechen? Zurzeit jedenfalls nicht. Zurzeit ist der Andersdenkende im Sprachgefühl fest etabliert, ebenso wie der Vordenker. Und die Semantik lässt hier – soweit ich sehe – keinerlei Unterscheidung hinsichtlich der Wortbildung geboten erscheinen. Ob –denker oder –denkender scheint ein völlig zufällig entstandenes Ergebnis freier Sprachentwicklung zu sein.
Ebenso verhält es sich mit dem Saalbieter und dem Meistbietenden. Oder dem Heimerzieher und dem Alleinerziehenden. Erkennt jemand irgendeinen klassifikatorisch einleuchtenden Unterschied zwischen dem Besserverdienenden und dem Alleinverdiener? Dem Vorsitzenden und dem Beisitzer? Ich nicht.

Es gibt also immerhin Fälle, in denen beides möglich ist, Substantivierung durch –er-Suffigierung und durch Partizipkonversion. Lässt sich aber aus diesem Befund die Regel ableiten, dass es in allen Fällen möglich und demnach eine reine Willens- und Gewöhnungsfrage ist?
Dann müsste die Regel jedenfalls auch in die andere Richtung gelten. Die Verfechter des generischen Maskulinums gewännen damit also auch das Recht, künftig vom Vorsitzer, vom Bahnreiser und vom Mitwirker zu reden. – Es wäre zu wünschen, dass sie von diesem Recht keinen Gebrauch machen.


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Es scheint morpho-semantisch keine zwingende Begründung für die eine oder andere Substantivierungsvariante zu geben.
Es gibt einige wenige Fälle, in denen die unterschiedliche Suffigierung einen echten Bedeutungsunterschied markiert.
Ein Zuspätkommender ist jemand, der in einer bestimmten Situation zu spät kommt.
Beispiel (DUDEN): „Zuspätkommende sollten versuchen, möglichst geräuschlos an ihre Plätze zu gelangen.“
Ein Zuspätkommer ist jemand, der gewohnheitsmäßig zu spät kommt.
Beispiel (DUDEN): „Mir sind Gerüchte zu Ohren gekommen, dass rationalisiert werden soll, und was das für Zuspätkommer heißt, muss ich Ihnen ja nicht erklären.“

Es gibt einige wenige Fälle, in denen offensichtlich nur die Verlaufsform möglich ist, weil nun mal von explizit verlaufsförmigen „Tätigkeiten“ die Rede ist: Die Gebärende kann keine Gebärerin sein. Der Genesende kann kein Geneser sein, der Sterbende kein Sterber.

Man könnte wohl sagen, dass das Partizip etwas häufiger den temporären Charakter eines Tuns zum Ausdruck bringt, aber wir finden so viele Ausnahmen und Gegenbeispiele, dass von einer Regel kaum die Rede sein kann. Der Bahnreisende mag jetzt gerade im Zug sitzen, und wenn er im Hotel ankommt, kein Reisender mehr sein. Aber was ist mit dem Handlungsreisenden? Der ist dauerhaft und hauptberuflich Reisender, und wenn er am Wochenende zu Hause in der Badewanne liegt, kann er immer noch mit Recht und grammatischer Korrektheit sagen, er sei Handlungsreisender. Er ist sogar dann noch Handlungsreisender, wenn er gerade als Urlaubsreisender nach Bora-Bora fliegt.
Der Notleidende könnte ein Notleider sein, wie der Hungerleider ein Hungerleidender sein könnte.
Ist also alles nur Sprachgefühl und ästhetische Gewöhnung?

Ich glaube: Ja.


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Aber dieses Ja muss präzisiert werden. Und das Nur muss gestrichen werden.
Wenn wir eingangs nach Gesetzmäßigkeiten fragten, nach Logik, nach Delegitimierung der aus moralischen Motiven geborenen Neutralisierungsbestrebungen von Genderaktivisten, nach „richtig“ und „falsch“, dann müssen wir nun feststellen: Es gibt in dieser Frage kein Gesetz, keine inhärente Logik, aber auch keine inhärente Moral. Was es allerdings gibt, ist Geschmack und Stil.

Damit ist die Diskussion für die Allermeisten wahrscheinlich beendet, da solche Ästhetica als etwas rein Individuelles, Willkürliches, Beliebiges verstanden werden. Über Sprachgefühl, Stil, „grammatischen Geschmack“ lässt sich zwar streiten, aber kaum derart, dass am Ende allgemeinverbindliche Ergebnisse stünden. Das ist ein echtes Problem, denn letztlich handelt es sich bei einem Großteil der ganzen Gendersprach-Debatte (wie auch bei allen anderen Debatten der Gegenwart, die irgendwie mit dem Lebensgefühl, der Beheimatung im Eigenen zu tun haben, also letztlich sogar bei der Migrationsfrage) um ästhetische Fragen. Und Ästhetik gilt als etwas Nachrangiges, Nebulöses und kaum Verhandelbares. Etwas für Schöngeister, Designer und Dekorateure. „Nur“ Ästhetik halt.

Dabei steht die sinnliche Wahrnehmung, der Eindruck, das Empfinden stets vor jedem rationalen Abwägen und über jedem moralischen Urteil. Man erfährt dies, sobald man den Leuten zwei, drei Fragen stellt, die hinter die etablierten Rationalisierungen und Moralisierungen zielen. Die Menschen wollen einfach nicht in einem Land leben, das aussieht wie Afghanistan und sich anfühlt wie die DDR. Sie wollen keine Sprache, die klingt wie Gestotter und anmutet wie ein dystopischer Roman. Ihre Ablehnung ist ästhetisch begründet, ein spontanes Geschmacksurteil, wie das eines Kleinkindes, das den Spinatbrei angewidert ausspuckt und „bäh“ sagt.

Die Menschen denken, sie dürften das nicht. Sie denken, sie müssten „gute Gründe“ vorbringen. Und sie spüren, dass Ästhetik in unserer kulturlosen Gesellschaft nicht als guter Grund anerkannt wird. Gendersprache abstoßend und hässlich zu finden, wird so wenig als Argument zugelassen, wie die Bekundung, dass man sich in der Heimatstadt nicht mehr wohl fühle unter all diesen Männern aus archaischen Kulturen.
Wir erkennen hier die Symptomatik einer schwächelnden, vielleicht schon sterbenden Kultur. Eine starke Kultur, also eine Gemeinschaft von Menschen, die sich ihres Soseins sicher sind, würde einfach sagen: „Bäh, will ich nicht, gefällt mir nicht, schmeckt mir nicht. Ich lass mir meine Sprache nicht kaputtmachen, ich lass mir meinen Lebensraum nicht kaputtmachen. Und ich muss dafür keinen Grund anführen außer: Euer Mist geht mir gegen den Strich, gegen das Gefühl, gegen die Geschmacksnerven. Geht mir weg damit!“

All so was verstehen die Genderbefürworter natürlich nicht. Vielleicht, weil sie angeborenermaßen irgendwie ästhetisch behindert sind. Vermutlich aber auch, weil es eben nicht nur den berühmten Sieg der Gesinnung über die Urteilskraft gibt, sondern mittlerweile auch den Sieg der Gesinnung über das Sensorium. Die meisten Gendergegner verstehen es allerdings auch nicht. Beide argumentieren im Bedeutungs- und Relevanzrahmen einer Zivilisation.
Die Genderbefürworter wollen, dass die Sprache gerecht und moralisch korrekt sei.
Die Gendergegner wollen, dass die Sprache gesetzmäßig und grammatisch korrekt sei.
Beide kommen – wie wir sahen – mit ihren Ansätzen an Grenzen, sobald es um Zweifels- und Extremfälle geht.


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Neben dem spontan angewiderten Kulturkind gibt es auch noch den Sprachliebhaber, den Sprachpfleger, den Sprach-„Empathisanten“. Er will nicht nur seine Ruhe im bewährten Schönen genießen, er will mehr. Er will, dass die Sprache das ihr innewohnende Potenzial ausschöpfe, dass sie sich einem (wenn auch wohl nie erreichbaren) Ideal wenigstens annähere, dass sie nämlich das Wunder zustandebringe, Geist in Materie zu verwandeln, etwas Innerpsychisches in etwas Physischem – Schallwellen oder Schriftzeichen – zum Ausdruck zu bringen, und zwar dergestalt, dass die Wellen und Zeichen in den Empfänger-Psychen etwas vorstellungsmäßig und sogar gefühlsmäßig möglichst Ähnliches evozieren.

Stil heißt hier: das Bestreben, sich unter unzähligen Wahlmöglichkeiten für die schönste zu entscheiden. Und schön heißt hier: stimmig (möglichst widerspruchsfrei), klangvoll (möglichst frei von Dissonanzen, Disharmonien, rhythmischem Rumpeln und Stolpern), ökonomisch (effizient) und funktional (verständlich).
Guter Stil heißt: Maximale Gedankenübertragung durch Schönheit. Gefühlstransfer durch Musikalität und Plastizität. Überwindung des existenziellen Autismus. Zaubern über den Abgrund hinweg.

Wir müssen nicht sprechen. Ich kann mir eine Welt vorstellen, in der wir nur summen und brummen, durch Gestik und Mimik und Berührungen kommunizieren. Ein wortloses Paradies, von dem Menschen, die der Einfühlung fähig sind, etwas ahnen, wann immer sie soziale Tiere über längere Zeit beobachten.

Das Paradies unserer Kindheit war ein sprachloses Zwischenreich, ein langes Erwachen vom symbiontischen Schlummer zum Bewusstsein, zum Schmerz, zur Härte und Hässlichkeit. Ich weiß kein besseres Lebensziel für einen seelenvollen Homo Sapiens als irgendwie wieder dahin zurück zu gelangen, zurück vor die Sprache, vor die Vertreibung, vor den Moment, als dem Würmchen die Welt begann. Vor das Erschrecken, mit dem das Kind die Augen aufschlug und die elementare Einsamkeit seiner Existenz erkannte. Und ich weiß keinen besseren Weg als Musik und Poesie. Die Sprache des Moralismus aber ist die vorsätzliche Zerstörung der Poesie, all dessen also, was musikalisch sein könnte im Austausch zweier Säugetiergehirne, zweier sehnsüchtiger Monaden, die eigentlich nie wirklich zusammenkommen können.

Wir müssen nicht sprechen. Aber wenn wir schon sprechen, dann sollten wir schön sprechen. Damit wir irgendwie verstanden werden. Es gibt kaum Tröstlicheres im Leben eines Menschen als die seltenen Augenblicke, in denen ein Ich und ein Du sich ansehen in der Gewissheit, dass sie einander gerade vollkommen verstehen. Dass der Zauber gelungen ist. Dass sie am Ende vielleicht doch nicht ganz allein sind.




[1] Wikipedia, Stichwort Nomen Agentis, Abschnitt Häufigkeiten: „Der Linguist Peter Eisenberg nennt unter Bezugnahme auf ein rückläufiges Wörterbuch von 1983 für den ‚Substantivierer‘ -er ein Vorkommen von ‚15.000 Einheiten, deren Bestand sich ständig erweitert‘. Die Produktivität dieses Wortbildungsmusters sei in den letzten vier Jahrhunderten stark angewachsen. Der Anteil des ‚Agensnominalisierers‘ -er läge im Gegenwartsdeutschen bei 85% aller -er-Bildungen – das entspräche 12.750 Personenbezeichnungen. 1997 ermittelte eine Studie insgesamt rund 15.000 Personenbezeichnungen in der deutschen Gegenwartssprache, entsprechend bilden Nomen Agentis auch 85% der deutschen Substantive zur Bezeichnung von Menschen.“ https://de.wikipedia.org/wiki/Nomen_Agentis#H%C3%A4ufigkeiten

Zu bedenken ist hierbei allerdings, dass nicht alle –er-Bildungen Deverbativa sind, dass demnach Nomina agentis wie etwa Rohköstler oder Maskenbildner nicht durch Partizipkonversion ersetzt werden können (oder allenfalls zu humoristischen Zwecken: der Rohköstelnde, die Maskenbildende). Dennoch dürfte eine hohe vierstellige Anzahl an potenziellen –ende-Bildungen übrigbleiben.

[2] vgl. Lenk, Hartmut & Kohvakka, Hannele. (2007). Streiter für Gerechtigkeit und Teilnehmer am Meinungsstreit? Zur Valenz von Nomina agentis im Deutschen und Finnischen. In: Germanistische Linguistik, Heft 188-189, Hildesheim / Zürich / New York: Olms, 2007. S. 195-218

[3] deklinieren hier im Sinne von: durchspielen der in den gängigen Genderleitfäden empfohlenen Entmännlichungsvarianten, also z.B. Passivierung, Sachbezeichnung, Umschreibung per Relativsatz, erklärender Klammerzusatz, X-Endung/Y-Endung, Unpersönliche Pronomen, Kollektiv-, Institutions- und Positionsbezeichnungen etc. 

Diese Genderleitfäden sind wahrhaft erschütternde und beängstigende Dokumente. Wenn Totalitarismusleugner wie Markus Lanz et al. fragen: „Wo bitteschön wird denn gegendert?!“, so als sei das Ganze die reine Paranoia von obsessiven Modernitätsverweigerern, dann sollte man ihnen vielleicht einfach mal ein paar hundert dieser bunt-inklusiven Leitfäden zur Lektüre zusenden. Jede Stadt, jede Uni, jede größere Institution, Firma, Organisation hat mittlerweile eine 20-seitige Broschüre, in der den Bürgern bzw. Mitarbeitern erklärt wird, wie sie sich möglichst geisteskrank ausdrücken können. Und sollen, sofern sie keine Probleme bekommen wollen.

[4] Ronja Löhr: Gendergerechte Sprache aus der Sicht nicht-binärer Personen. In: Genus – Sexus – Gender; herausgegeben von Gabriele Diewald und Damaris Nübling, de Gruyter, Berlin, Boston 2022


 

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