Bürger an die Querfront!

Marcus Jay Ludwig im Gespräch mit dem Magazin „Grübeldisco“ über sein neues Buch „Bin ich rechts? – Und wenn doch, geht das wieder weg?“  Mit dem Autor sprach der Leiter des Literaturressorts, Lendrian von Fröhn.

 

GRÜBELDISCO: Herr Ludwig, weiß der Richard David Precht eigentlich schon, dass Sie seinen Bestseller-Buchtitel so schamlos verballhornt haben?

MARCUS JAY LUDWIG: Keine Ahnung, der hat sich bei mir noch nicht gemeldet. Aber sein Titel ist doch mittlerweile dermaßen ins Volksmundliche und Redensartliche eingegangen, dass ich da jetzt keine urheberrechtlichen Konsequenzen erwarten würde, oder gar faustrechtliche … ich denke, an seiner Stelle würde ich mich eher geschmeichelt fühlen.

GD: Na, ob der sich von Ihnen noch mal geschmeichelt fühlen wird, nach allem, was Sie ihm während der Corona-Zeit an den Kopf geworfen haben …?

MJL: Hab ich? Was denn? Ich hab nicht das Gefühl, dass ich irgendwie ausfallend oder ungerecht gewesen wäre. Wissen Sie, Thomas Mann meinte mal, alles, was Nietzsche an Vermaledeiung über Wagner ausgekübelt habe, müsse man eigentlich als Ehrbezeugung und Reverenz lesen, als Panegyrikus mit umgekehrten Vorzeichen, sozusagen. Ich mein, man macht sich doch nicht soviel Auseinandersetzungs-Arbeit wegen irgendwem, der einem egal ist. Precht ist so einer, der mir irgendwie nicht egal ist. Ich spür da eine Art Familienähnlichkeit, er könnte eine Art Cousin dritten Grades sein, und ich kann einfach nicht teilnahmslos mitansehen, auf welche Abwege der geraten ist.
Wissen Sie, es hängt ja in Sachen Wellenlänge nun mal auch viel am Habitus. Und so gesehen ist es schon echt seltsam: Diese ganzen Leute aus den Oppositionsmedien, wenn ich mir die so ansehe und die reden höre, sind die meist nach Schlag und Artung eher nicht so meine natürliche Peergroup. Tichy, Reichelt, Köppel, Matussek, Herles, Kissler, Bolz, Reitschuster, Wegscheider, dieses ganze Werte-Union-, AfD-, Cicero- und Servus-Milieu – das ist mir im Grunde doch recht fremd. Aber – diese Leute haben nun mal in der Regel recht. Und Precht hat nicht recht. Nicht mehr. Leider. Und dass er nicht mehr recht hat mit seinen Analysen und Lagebeurteilungen, das hat schlicht mit Charakterschwäche zu tun. Angst vor Ausgrenzung, mangelndes Standing, labiles Rückgrat. Wenn man sieht, wie er sich abstrampelt, weil die vierte Gewalt ihm sein Buch über die vierte Gewalt übelnimmt, welchen Aufwand er betreibt, um die lächerlichen Antisemitismus-Vorwürfe zu entkräften, wie er sich knapp an der Grenze zur Unterwerfung windet und sich erklärt und entschuldigt, anstatt den „qualitätsmedialen“ Mob einfach auszulachen – oder einfach zu schweigen, wär ja auch eine Möglichkeit –, dann macht einen das schon traurig. Mich zumindest. Gerade der müsste es sich doch wohl leisten können, auf die Anerkennung dieses heuchlerischen Moralistenpacks zu pfeifen. Ich weiß nicht, wofür der in den letzten Jahren sein Geld ausgegeben hat, aber nach menschlichem Ermessen müsste das doch wohl jemand sein, der ausgesorgt hat. Der wird genug Millionen auf der hohen Kante oder in Immos investiert haben, um die restlichen dreißig, vierzig Jahre gut über die Runden zu kommen, selbst wenn ZDF, Random House und Uni Lüneburg ihn rausschmeißen.

GD: Die Uni hat ihn schon vor die Tür gesetzt, das heißt, er ist wohl selbst gegangen, nachdem die üblichen fünf besorgten Studenten irgendwas getwittert haben von wegen Untragbarkeit und Ansehen der Uni und so weiter. Und bevor sich dann wie üblich die Unileitung distanziert und das Gespräch sucht etc., hat Precht rechtzeitig sein Talar an den Nagel gehängt.

MJL: Ja, jetzt wo Sie es sagen, fällt mir ein, dass ich das schon am Rande mitbekommen hatte. Ist doch einfach lächerlich, oder? Immer dieses Zurücktreten beim kleinsten Gegenwind – in der Hoffnung wahrscheinlich, irgendwann wieder mitspielen zu dürfen … aber gerade so bestätigt und bestärkt man ja die herrschenden Normen dieser linksgrünmoralistischen Zivilreligion. Bis irgendwann nur noch Heilige und KIs sich zu Wort melden dürfen. – Ich mein, ich kann ja verstehen, dass man sich an so ein interessantes Leben voller Ruhm und Relevanz gewöhnt, mit all den schönen Buchmessen, Vorträgen, Podcasts, Talkshows, Preisverleihungen, aber genau da geht‘s eben um die Entscheidung zwischen Anpassung und Selbstachtung, zwischen Medienpräsenz und Charakter, zwischen Kohle und Ethos. Ich weiß nicht, was eigentlich noch passieren muss, damit einer wie Precht sich endlich mal auf die richtige Seite schlägt, wie oft er sich noch vor Tugendwächtern und Sittenrichtern entschuldigen will und deren Herrschaftsanspruch dadurch legitimieren will. Irgendwann wird aus Konformismus und Indifferenz Mitläufertum, und irgendwann wird es eine historische Aufarbeitung der Fehlentwicklungen des frühen 21. Jahrhunderts geben, und darin wird der Name Precht dann möglicherweise einen Beiklang von Verstrickung haben, wie wir ihn heute bei Namen wie Gründgens, George, Karajan, Heidegger, Riefenstahl, Furtwängler, Gehlen, Benn immer mithören. Ich will dem Confrère jetzt nicht zu viel der Ehre antun – er ist kein Titan der Geistesgeschichte, aber heute ist er durchaus wichtig, denn er ist ein bedeutender Exponent der Medienrealität unserer Zeit, und viele Leute in Deutschland wären schon erleichtert, wenn er sich in irgendeinem öffentlichen Akt, schriftlich, Podcast, Video, was auch immer, von der herrschenden Ideologie lossagen, distanzieren, befreien würde. Ich denke an Thomas Manns Brief an den Bonner Dekan, mit dem er 1936 endlich den überfälligen Bruch mit dem Regime vollzog … wie gesagt, das ist einerseits etwas hochgegriffen, aber in seiner Bedeutung als Aufbruchssignal und Ermutigung, als Urteil über die Verlogenheit unserer Zeit, als Richtigstellung der Realität wäre es vielleicht noch wirkungsmächtiger als Manns damaliges Bekenntnis, welches wohl den elitären Zirkeln, aber kaum dem kleinen Zeitungsleser auf der Straße irgendeine Zäsur bedeutete.

GD: Glauben Sie im Ernst, dass der Precht so was machen würde?

MJL: Eigentlich nicht. Kommt vielleicht drauf an, wie weit der publizistische Pöbel ihn zu treiben gedenkt. Den Antisemiten wird er als Attribut ja schon kaum mehr los. Ich schätz mal, wenn das ZDF ihn rausschmeißt und sein Verlag ihn fallen lässt, dann wird er vielleicht doch noch mal wach. Schaun mer mal …

GD: Apropos Antisemitismus: Sie haben sich bislang auffällig zurückgehalten mit Äußerungen zum Israel-Palästina-Problem. Ist Ihnen das Thema zu heiß?

MJL: Nein nein, ich wollte schon längst ein paar Notate dazu raushauen, ich kam nur während der abschließenden Arbeiten am neuen Buch und all dem, was rund um die Veröffentlichung so zu erledigen war, nicht dazu, meine Aufzeichnungen zu „posten“. Wobei das Posten als technischer Akt ja schnell erledigt ist, aber der skrupulöse und detailversessene Blogger muss halt erst zigmal drüberlesen und zurechtfeilen, bevor er sich überwindet, das rote Knöpfchen zu drücken, mit dem er seine schriftlichen Kapricen in die ewige Unlöschbarkeit entlässt. – Wobei ich mich immer frage, ob das wirklich stimmt oder nur so ein modernes Märchen ist … wenn ich meine Onlinetexte lösche, sind die dann trotzdem noch irgendwo vorhanden und lesbar, in irgendwelchen Internet-Archiven, schwedischen Saatgutbunkern und dunklen Parallelnetzen? Glaub ich irgendwie nicht.

GD: Doch, glaub ich schon, aber egal … was meinen Sie denn nun zu dem Thema?

MJL: Wissen Sie, vor Jahren, als ich mich mit dem deutschen Judentum im 19. Jahrhundert beschäftigte, schlug ich schon einmal vor, dass Juden und Deutsche, diese zwei seltsamen Sonderwegsvölker, sich doch endlich mal richtig zusammentun sollten: Alle Juden kommen aus ihrem Dauerkriegsgebiet nach Deutschland, im Austausch (und das kommt zahlenmäßig ziemlich genau hin) ziehen die hier sich aufhaltenden Muslime (also die, die eh keine Deutschen sein wollen) nach Palästina, wo sie nach Herzenslust ihrer orientalischen Lebensart frönen können. Ich schrieb ungefähr:
„Mir wird immer klarer, dass die Juden wirklich hierhin gehören. Die sollen gefälligst ihre heilige Sandkiste im Nahen Osten den Palästinensern überlassen und sich hier ansiedeln. Die paar deutschen Antisemiten werden vorher ausgesiedelt oder irgendwie gehirnchirurgisch unschädlich gemacht, ist mir egal. Mach ich zur Not selber. Ich kann nicht sagen, dass mir die Juden durchweg sympathisch wären, aber darauf kommt es auch nicht an. Mir sind auch die Deutschen nicht durchweg sympathisch. Beileibe nicht. Trotzdem gehören beide nun mal hierhin, und sie gehören zusammen. Was unter den heutigen Rahmenbedingungen dann daraus entsteht, wird sehr verschieden sein von der deutsch-jüdischen Kultur des neunzehnten und frühen zwanzigsten Jahrhunderts, aber es wird auf jeden Fall besser als das, was uns droht, wenn wir uns selbst überlassen bleiben. Höchstwahrscheinlich wird es aber einfach nur super.“
Später schlug ich mal eine Zwei-Staaten-Lösung für Deutschland vor: Alle, die wollen, dass Deutschland deutsch und abendländisch, europäisch und aufgeklärt, rational und romantisch bleibt, tun sich zusammen und kriegen den Südteil des Territoriums; die andern, die so weitermachen wollen wie bisher, die also wollen, dass ihr Land zu einem einzigen Großberlin und Großgelsenkirchen wird, kriegen den Rest der Republik, um dort nach Herzenslust ihrem Untergang entgegenzutorkeln. – Ich glaub, der entsprechende Essay ist auch im neuen Buch.
Und jetzt möchte ich vorschlagen, diese beiden Konzepte zu kombinieren, um damit gleichzeitig die kürzestmögliche Antwort auf die Titelfrage meiner Textreihe zum „neuen Volk“ zu liefern: Renaissance oder Ethnosynthese? Beides! Renaissance durch Ethnosynthese. Man nehme die verbliebenen Deutschen mit halbwegs nachweisbarem Lebenswillen und Hirnbesitz, kombiniere sie mit jenen Juden, die verstehen, dass sie ihrem ganzen Wesen nach ohnehin Europäer sind und in ihrer gelobten Liegenschaft am Jordan eigentlich eh nichts verloren haben außer Verheißungen und trotzigen Träumen und dass sie dort nie – in Worten: niemals, nie und nimmer, neverever – in Frieden leben werden, gebe den beiden Völkchen ein paar Jahre zum Durchmischen und Zurechtruckeln, und dann geht die Post ab.

GD: Hm. Ich bin mir nicht sicher, ob Sie den Vorschlag in Israel äußern könnten, ohne direkt in die nächste Klapse eingeliefert zu werden.

MJL (lacht): Ja, da haben Sie vermutlich recht. Aber es ist doch eigentlich schade, dass man sich dergleichen nur in so einem albernen Satiresound zu sagen getraut, denn eigentlich meine ich es halbwegs ernst. Aber man darf so was natürlich nicht ernst meinen, sehe ich ein. Ach, es ist deprimierend, und es ist bezeichnend für die Lebensrealitäten des Homo Sapiens, dass die rationalsten Lösungen für seine kindischen Großgruppenprobleme immer auch die abwegigsten und chancenlosesten sind.

GD: Ich wundere mich allerdings, dass Sie direkt beim Lösungsvorschlag ansetzen. Ich dachte, Sie geben uns vielleicht erstmal einen Einblick, wie Sie den 7. Oktober erlebt haben.

MJL: Hm, ich weiß nicht, ob so ein Interview der richtige Ort dafür ist … nun ja, es gibt Tage, an denen man sich noch ein bisschen mehr als sonst wünscht, es möge vielleicht doch eine Hölle geben, nicht wahr. Und bei der Betrachtung dieser Videos von Massakern palästinensischer Terroristen, von Demütigungen jüdischer Geiseln, vom Leid ihrer Angehörigen, da war so ein Tag. Ich wusste, es würden in dem kommenden Krieg auch unschuldige muslimische Kinder sterben, verstümmelt werden, zu Waisen gemacht werden. Aber an dem Tag habe ich wie jeder andere nur die Leiden der Israelis gesehen, nur die Grausamkeit islamistischer Mörder und Vergewaltiger. Ich ertappte mich, wie ich immer wieder unsinnige Worte vor mich hin murmelte: Gott schütze Israel. Gott strafe seine Peiniger. Gott gebe Israel die Kraft, seine Feinde ein für alle Mal niederzuwerfen und die Terroristenpest gnadenlos auszurotten. Ich wusste, es würden schon bald wieder Tage kommen, da ich mich erinnern würde, dass es keinen Gott gibt und dass nicht alle Muslime Terroristen sind. Aber manchmal braucht es so einen Tag der eindeutigen Gefühle, um den moralischen Kompass genauer zu justieren. Der Ernstfall richtet die ethischen Energien zuverlässiger aus als tausend Tage voller Logik und Gelaber.
Allerdings gibt ein Kompass eben nur die Richtung an, er sagt einem nicht, wie, womit, wie weit man sich in diese Richtung zu bewegen hat.

GD: Das heißt? Klingt für mich jetzt ein bisschen nach einem verklausulierten „Ja, aber“. Oder?

MJL: Wieso verklausuliert? Es gibt in moralischen und erst recht in politischen Fragen immer ein Aber. Immer. Aber ich will, bevor ich darauf eingehe, noch eines vorrausschicken:
Es gibt Juden und Angehörige des Staates Israel, so wie es auch Deutsche und Staatsbürger der Bundesrepublik gibt.
Das eine ist Abstammung, das andere Mitgliedschaft.
Das eine ist Volk und Nation, das andere Körperschaft und Population.
Das eine ist Familie und Geschichtsmythologie, das andere Verwaltung und Standesamt.
Das eine ist Identität, das andere Personalausweis.
Woraus dann auch folgt, dass Antisemitismus etwas anderes ist als Israelkritik. Oder von mir aus – für Leute wie Sie, die dann immer sagen: „Was soll denn Israelkritik sein? Es gibt schließlich auch keine Indien- oder Italienkritik“ …

GD: Ja, genau!

MJL: … Kritik an der israelischen Siedlungspolitik. Ein Antisemit ist einer, der sagt (und ernsthaft meint), dass alle Juden Diamantenhändler sind, die heimlich die Welt beherrschen und das Blut von Christenkindern trinken, oder dass sie Ratten sind, die wie Ungeziefer vernichtet werden müssen, solche Sachen halt. Der „Israelkritiker“ dagegen fragt, ob das, was da im Lande Zion seit 75 Jahren mit absurdem Aufwand an Wehrkraft, Waffengewalt und unschuldigem Blut verteidigt wird, wirklich die optimale Realisierung des Traums vom Judenstaat ist.
Eine Unterscheidung, deren Zulässigkeit eigentlich ziemlich eindeutig auf der Hand liegt, die derzeit aber wieder mal ausgiebig bestritten wird, gerade auch von Leuten, die man für klüger gehalten hätte.

GD: In der Tat ist es auffällig, wie man sich derzeit im rechtsboulevardesken Lager – Reichelt und so – emsig überbietet im Aufspüren von Antisemiten.

MJL: Tja, ich glaube einfach, der Drang, unbedingt und zweifelsfrei zu den Guten gehören zu wollen, und sich von den schnell ausgemachten Mächten der Finsternis – oder auch nur von denen, die erstmal gemächlich über Grautöne nachgrübeln müssen – aufs Schärfste zu distanzieren, dieses Gut-dastehen-Wollen vor irgendeiner imaginierten Nachwelt, vor dem Geschichtsbuch der Zukunft und den introjizierten Spruchkammern der Vergangenheit, ist ziemlich gleichmäßig über das politische Spektrum verteilt.
Diese Freude an der Vereinfachung, diese sichtbare Beglücktheit über die schwarzweiße Binarität, diese Erleichterung über die ethische Vereindeutigung. Wenn es denn mal alles so eindeutig wäre, wie euphorisierte Generalsekretäre und von heiligem Geschichtsernst überschauerte Christdemokraten zu wissen glauben. Wie oft haben diese Leute in den Tagen nach dem Hamas-Überfall die Parole ausgegeben, dass es jetzt „kein Ja, aber“ mehr gebe? Ich hab nicht mitgezählt, aber mitgewürgt hab ich. Disgusting. Diese öffentliche moralische Selbstbefriedigung.

GD: Bezeichnend fand ich persönlich den Linnemann bei Lanz. Zitat: „Heute war Ron Prosor bei uns in der Fraktion, das war für mich historisch, diese Sitzung werde ich nie vergessen, heute Nachmittag, der israelische Botschafter, ein hochintegrer kluger Kopf, der gesagt hat: ‚Ich erwarte jetzt von euch Solidarität, dass das, was in den nächsten Tagen passiert – und das wird hart […], wir versuchen natürlich Unschuldige nicht zu treffen, aber natürlich wird es passieren, und wir müssen so hart zurückschlagen, dass niemand auch nur im Ansatz auf den Gedanken kommt, nochmals Israel anzugreifen, und das wird hart, und diese Solidarität erwarte ich von Ihnen.‘ Wir haben geklatscht, wir haben Respekt gezollt, und ich habe wirklich Gänsehaut bekommen.“

MJL: Schamlos. Wie gesagt: Es gibt in moralischen und erst recht in politischen Fragen immer ein Aber. Immer. Und im Falle Israel gegen die Hamas gibt es eine ganze Menge Abers. Ich nenne nur eines, das sogar ein CDU-Mensch verstehen müsste – vorausgesetzt, er ist irgendwo noch Mensch und Christ: Ja, Israel hat jedes Recht, diese barbarischen Verbrecher ein für allemal unschädlich zu machen. Aber: Was wird Herr Linnemann oder wer immer sich angesprochen fühlen möchte, in zwanzig Jahren dem jungen Mann antworten, der ohne Augen und ohne Arme vor ihm steht, und sagt: „Ich war ein Jahr alt damals. Ich gehörte nicht zur Hamas. Ich war auch nicht indoktriniert, ich war nicht prädestiniert, ein Antisemit und Mörder zu werden, ich war nicht auf dem Weg, ein Terrorist zu werden. Ich war kein Keim des Bösen, den es auszumerzen galt. Was, bitte sehr, hatte ich mit diesem verdammten Krieg zu tun?“
Wird er ihm dann ins Gesicht sagen: „Pech für dich, sorry. Es war trotzdem richtig, in der Gesamtabwägung. Es war gut und richtig, dich zu verstümmeln, das war nun mal der Preis, der zu zahlen war. Denn es gab kein Aber damals. Wer Aber sagte, war gegen Israel, und wer gegen Israel war, war ein Antisemit. Logisch, oder nicht? Schade um deine Augen und deine Arme, hättest dich halt woanders gebären lassen müssen.“

GD: Das ist wahrscheinlich schon zu weit gedacht, „zu weit“ im Sinne von „zu inhaltlich“. Denn solche Leute äußern solche Sachen ja nicht als inhaltlichen Beitrag und Diskussionsangebot, sondern als Bekenntnis. Und wer mitreden will in der großen politmedialen Konsensfabrik, der muss halt rechtzeitig das öffentliche Bekenntnis ablegen, dass es kein Ja, aber mehr gibt.

MJL: So sieht’s wohl aus. Vielleicht sollte man nach Ereignissen wie dem 7. Oktober einfach mal ein einwöchiges Talkshowverbot erlassen. Damit all die „Kommentarwichsmaschinen“ – Wortschöpfung von Max Goldt – sich erstmal im Privaten erleichtern können, anstatt ihre ejaculationes praecoces in aller Öffentlichkeit zu zelebrieren.

GD: Die Wortschöpfung erschließt sich mir jetzt nicht zur Gänze …

MJL: Mein Gott, ist halt irgendein schmissig hingerotztes Schmähwort, ist doch jetzt egal! Wenn ich beim Spontanformulieren jedes Wort auf die Goldwaage lege, dauert das hier bis übermorgen. – Ähm, wie lange übrigens soll es noch dauern? Haben wir nicht längst schon genug erörtert?

GD: Wir haben ja noch gar nicht richtig über Ihr Buch gesprochen, und da wollte ich denn doch noch mal mit der Goldwaage um die Ecke kommen … weil Sie ja auch eben schon wieder vom Pöbel sprachen. Sie beklagen ja in Ihren Texten ausgiebig die voranschreitende Verpöbelung der Gesellschaft, aber viel mehr als radikale Bürgerlichkeit – was immer das sein soll – haben Sie als Gegenrezept auch nicht anzubieten, scheint mir. Ist die Verpöbelung derzeit wirklich unser Hauptproblem?

MJL: Wenn Sie gestatten, bereite ich meine Antwort mit einem kurzen Exkurs vor … meine aktuelle Gute-Nacht-Lektüre passt grad so gut dazu …

GD: Bitte bitte …

MJL: Wie Sie wissen, wird Claus von Stauffenbergs moralische Zurechnungsfähigkeit ja immer gerne mit ein paar ziemlich ungünstigen Briefstellen aus dem Polenfeldzug vom September 1939 in Zweifel gezogen. So auch in Thomas Karlaufs im Ganzen sehr lesenswertem Porträt eines Attentäters. Es ist da die Rede von „Pack, Verwahrlosung, Verschlamptheit, Heruntergekommenheit“. Eine vielzitierte Stelle lautet: „Die Bevölkerung ist ein unglaublicher Pöbel, sehr viele Juden und sehr viel Mischvolk. Ein Volk welches sich sicher nur unter der Knute wohlfühlt.“
Da muss dann auch für den Leser des Jahres 2023 gar nicht mehr viel kommentiert werden. Diese Sprache spricht für sich selbst. Und sie rundet das Bild des rassistischen Herrenmenschen ab, eines kaltherzigen Militaristen und willigen Mittäters im nationalsozialistischen Eroberungswahnsinn. Und so einer war Stauffenberg eben nach dieser Lesart auch. Die Diktion deckt sich mit der des Führers, der in der polnischen Bevölkerung „ein furchtbares Material“ sieht, „hier könne jetzt nur eine zielsichere Herrenhand regieren“.
Gegen solch eine Zitatzusammenstellung kann man natürlich kaum noch argumentieren. Stauffenberg sagt dasselbe wie Hitler – das war’s dann ja wohl.

GD: Irgendwie schon, ne?

MJL: Nun, mir scheint, man sollte sich hier nicht ausschließlich dem Empörungsreflex überlassen. Man sollte gewiss auch nicht allzu leichtfertig das Bedenkliche solcher Aussagen kleinreden. Aber ein wenig entdramatisieren kann man es schon, denke ich.
Zunächst mal wissen wir ja gar nicht, welche Bilder, welche Menschen, welches Volk Stauffenberg konkret vor Augen hatte, als er sein harsches Urteil fällte.
Und kann man nicht zumindest einmal versuchen, die Vorstellung zuzulassen, dass es eventuell tatsächlich sehr viel verarmtes und verwahrlostes Volk gab, das er zu Gesicht bekam? Zahnlose Analphabeten, gebeutelt, geduckt und in Lumpen gehüllt, animalischste Existenzen, Habenichtse in schiefen Hütten, Brei löffelnd zwischen Hühnern und Ziegen, ungewaschene Kinder, barfuß, verlaust, glotzend aus dem Schlamm der Dorfstraße hinauf zu den stolzen Reitern und ihren noch stolzeren Pferden?
Es wäre wohl sehr lebensfern, zu leugnen, dass es derartige Drittweltdörfer gab in Polen, und dass es solche Leute gab, und zwar in großer Zahl und Masse. Der Empörungsimpuls des heutigen Lesers richtet sich vielleicht auch weniger gegen die Zurkenntnisnahme der Fakten als vielmehr gegen den Ton, in dem Stauffenberg die Fakten benennt.
Aber Stauffenberg schreibt hier private Briefe an seine Frau.
Ich weiß nicht, wie sich andere Männer privat mit ihren Frauen austauschen, aber würde man meine Kommentare während des Fernsehens oder des Autofahrens aufzeichnen, könnte man ganz ähnliche Heftigkeiten und Peinlichkeiten extrahieren. Dazu müsste ich nicht mal 1939 durch Polen reiten. Wenn ich 2023 durch gewisse deutsche Stadtteile und Landstriche fahre, sind „Pöbel“ und „Pack“ die meistgehörten Worte aus meinem Munde. Das Wort „Knute“ gebrauche ich selten bis gar nicht, umso öfter die Worte „Polizei“, „Bootcamp“, „Sibirien“, „Plattmachen“, „Trauerspiel“, „Untergang“, „Auswandern“ und ähnliche Hoffnungslosigkeitsvokabeln.
„Juden“ und „Mischvolk“ kommen bei mir auch eher selten vor, denn Juden sehe ich außerhalb des Fernsehens gar keine, und die im Fernsehen sind wohl nicht gerade die, die Stauffenberg an der polnischen Landstraße in Eselskarren begegnet sind, sondern eher solche wie Michel Friedmann, die einem vor lauter Gepflegtheit fast schon unheimlich sind.
Wären Stauffenberg lauter Michel Friedmanns begegnet, hätte er sich mutmaßlich anders geäußert, vielleicht so: „Die Bevölkerung ist ein unglaublicher Pöbel, von dem sich viele auffällig gepflegte Juden wohltuend abheben.“
Und würden mir heute in unseren Städten lauter Michel Friedmanns und Michael Wolffsohns und Melody Sucharewiczs begegnen, so würde ich mich wahrscheinlich ähnlich äußern. Wahrscheinlich würde ich „gepflegt“ durch „interessant“ ersetzen.
Wie Stauffenberg dann das mit dem „Mischvolk“ noch eingebaut hätte, weiß ich nicht, weil ich keine genaue Vorstellung habe, was er damit verbindet. Als positive Hervorhebung ist es gewiss nicht gemeint, und es scheint mir zumindest tendenziell im Unterton rassistisch zu sein.
Das Hauptärgernis derer, die die Briefe gern zitieren, scheint mir aber das mit dem „Pöbel“ zu sein, denn das ist nun wirklich die klassische Abwertung des arroganten, feinen Herrn gegenüber dem einfachen Volk.
Genau das aber ist die Frage, und ich beantworte die Frage so: dass mit „Pöbel“ eben gerade nicht das einfache Volk gemeint ist, sondern eben der Pöbel.
Und den Pöbel, den gibt es, leider. Es gab ihn zu Stauffenbergs Zeiten, und es gibt ihn immer noch. Deshalb gebrauche ich das Wort auch häufig und ausgiebig und weitgehend ohne Ironie. Ich gebrauche es nicht gern, aber die ausgiebige Verwendung resultiert nun mal leider aus der unübersehbaren Tatsache, dass die Verpöbelung der Bevölkerung rapide voranschreitet.

GD: Das war ja jetzt sehr interessant, aber irgendwie keine richtige Antwort auf meine Frage … sind Sie noch bei der Sache? Hallo …?

MJL: Jaja, ich denke gerade, ich sollte vielleicht mal einen Essay schreiben: „Was ist Verpöbelung?“ Stauffenbergs Pöbel ist gekennzeichnet durch Verwahrlosung, Armut, Verschlamptheit, Heruntergekommenheit. Das ist wohl zutreffend, bleibt aber auf der rein deskriptiven Ebene. Erklärungen müssen her: Wie, kraft welcher sozialmagischen Prozesse kann eine nennenswerte Anzahl von Bundesbürgen, die doch mutmaßlich eine deutsche Schule durchlaufen haben müssen, irgendwann beim RTL-Promibüßen enden? Also, als Teilnehmer und als Zuschauer. Rätselhaft … muss mir das mal irgendwann genauer ansehen …

GD: Ja, tun Sie das. Ich versuch’s nochmal mit ner anderen Frage: Viele Rezensenten störten sich bei der Lektüre Ihres Buchs an den schroffen Brüchen im Sound, oder besser in der Tonart. Man weiß bei Ihnen nicht immer so ganz, wo man dran ist. Ist das jetzt Spaß oder meint er das ernst – Sie lassen den Leser da gern mal in der Schwebe zappeln, scheint mir. Ist das Kalkül oder eine Charakterstörung? Sie sprechen ja selbst immer von Bipolarität …

MJL: Also, ich find, es gibt doch kaum was Schlimmeres, als wenn irgendwo extra dransteht „Achtung: Satire“. Oder wenn einer was Freches sagt, und dann, bevor er fortfährt, zur Sicherheit einschiebt: „Ironie off“. Andererseits verstehe ich das Problem, es ist ein Problem der mangelnden Praxis, es ist eine Kulturtechnik, die verloren geht, die Fähigkeit zum differenzierten Wahrnehmen von sprachlichen Tonlagen. Und das liegt genau im Trend der großen Vereindeutigung der Welt. „Der soll jetzt aufhören mit der blöden Ironie und sich klar bekennen, was er meint, wo er steht, was ihm heilig ist, und nicht alles in dubios-humoristischer Schwebe lassen!“ So schnaubt der medienmoralistische Ungeist der Epoche. Aber, wie gesagt, ich kenn diesen Verdruss aus eigener Erfahrung. Ich erinnere mich an meine spätjugendlichen Erstkontakte mit der Titanic, da standen auch immer so seltsame Sachen drin, die ich nicht kapiert habe. Ich dachte, das kann doch nicht ernst gemeint sein, aber steht ja schließlich gedruckt in der Zeitung. Ich kannte zwar schon das MAD-Magazin, aber da war immer klar, dass alles zum Lachen war. In der Titanic gab es dagegen Anzeigen, in denen stand: „Heiner Müller signiert Ihr Kassengestell“. Heute zum Wegschmeißen, damals war ich nur verwirrt. Man muss sich das autodidaktisch anlernen, diesen Geschmack für die Nuancen des Absurden und Uneigentlichen, in der Schule lernt man so was ja nicht.
Naja, jedenfalls, um auf Ihre sogenannte Charakterstörung einzugehen: Wie im Buche so auch im Leben bin ich zuweilen durchaus in der Lage, komplett umzuschalten zwischen Ironie- und Pathos-Modus. Der Ironie-Modus geht so, dass ich zum Beispiel beim Fernsehabend zu meiner Frau sage: „Hm, läuft nichts Gescheites, schalt doch mal durch, ob vielleicht irgendwo Hitler läuft. Hitler geht ja immer …“. Und dann kommt irgendwo Hitler, bei Phoenix oder Arte, und ich sage mit Hitler-Stimme: „Dör Föhrer.“ Und im Verlauf der Sendung, wenn Hitler mit seinem typischen Hitlergesicht zu sehen ist, sage ich noch ein paar mal „Dör Föhrer“ oder „Wönn das dör Föhrer wösste“, oder ich spreche in einer Mischung aus Föhrerdeutsch und Dutzidutzi-Kindersprache mit unserm Kätzchen, wobei es mich groß und prüfend anguckt, bis es ihm zu blöd wird. Und dann kann es noch passieren, dass irgendwann in der Doku ein jüdisches Geschäft in Breslau zu sehen ist, und ich falsettierend losplappel: „Itzhak Finkelstein, Juwelier seit finfzik Jahren … mechts käufe scheen Geschmeide von Kinstlerhand?“ Meiner Frau geht das entschieden zu weit, und sie ermahnt mich: „Mann, jetzt hör aber mal auf! Wenn das einer hört … ist echt langsam nicht mehr witzig.“ Und ich übersinge die Peinlichkeit mit „Ein bisschen Spaß muss sein …“
So etwa geht der Ironie-Modus.
Der Pathos-Modus geht so, dass ich auf dem Sofa liege und lese, Originalquellen, Dokumente der Schande, Berichte des Leids, Protokolle der Mitleidlosigkeit, Lebensgeschichten, Briefe, Interviews, Erinnerungen an das Unaussprechliche, und meine Augen füllen sich mit Tränen, und ich lege die Bücher und Ausstellungkataloge weg, weil ich es nicht mehr ertrage, und ich grüble und fantasiere und forsche und komme zu keinem Ergebnis. An manchen Tagen weiß ich nicht, wie ich überhaupt weiterleben soll. Ich bin ein Angehöriger des Tätervolks, und ich komme immer wieder zu dem Schluss, dass es mich eigentlich gar nicht geben dürfte. Bei meiner Geburt war es noch keine 30 Jahre her, dass man Kinder in Gaskammern geschickt oder an Häuserwänden zerschlagen hatte, damit sie nicht eines Tages würden zu Rächern heranwachsen können. Es haben trotzdem welche überlebt. Und sie haben neue Leben begonnen, und ein Volk und ein Land wuchs neu heran. Und sie sind nicht zu Rächern geworden, die mir nach dem Leben trachten, mir, der ich ein Deutscher durch und durch bin. Das ist ein Wunder. Ein Wunder, das die Scham nicht zu lindern vermag. Es ist und bleibt zum Heulen, sobald einem die Ironie ausgeht und man die Dinge sieht, wie sie gesehen werden müssen. – So geht der Pathos-Modus.
Es würde mich echt interessieren, ob das bei anderen Deutschen auch so ist, dieses Bipolare, dieses ironisch-frevlerische Distanzieren hier und dieses Sichfallenlassen ins suizidalste Elend dort. Man weiß es nicht, weil der ganze Umgang mit dem Thema noch immer streng tabuisiert und religiös reglementiert ist. Die Unfähigkeit zu trauern bleibt als Befund ungebrochen aktuell. Die Deutschen haben weder gelernt zu trauern, noch sich Erleichterung im Humor zu verschaffen. Sie haben die Flucht ins Formal-Religiöse gewählt. Sie lassen sich lieber von Steinmeier Plattitüden predigen als die Analysen der Mitscherlichs zu studieren.

GD: Nun ja, Mitscherlich, Freud, Psychoanalyse ist jetzt auch nicht mehr der allerhotteste Shit der Saison, oder? Wie wollen Sie mit dieser Seelenhydraulik des 19. Jahrhunderts den digitalisierten Gehirnen des KI-Zeitalters zu Leibe rücken? Schon diese ganze altgriechische Marmorgalerie – Ödipus, Narziss, Antigone, Iokaste, Pygmalion, Elektra, Midas, Persephone –, kann doch heute keine Sau mehr was mit anfangen.

MJL: Well, die Psychoanalyse ist eine ambivalente Angelegenheit. Zum einen ist sie unzweifelhaft Teil der Aufklärung. Welche Maxime wäre aufklärerischer als Freuds Wo Es war, soll Ich werden? Andererseits schafft sie viele neue Dunkelheiten und semantische Nebel, was ihr mit Recht vorgehalten werden kann. Denn dieses Problem hat sie sich selbst geschaffen, indem sie sich so ausgiebig beim alten mythologischen Personal und den antiken Erzählstoffen bediente, welche nun mal dazu neigen, ein Eigenleben zu entwickeln und Deutungsmuster vorzugeben. Im Kern aber ist die Psychoanalyse ganz klar: Seelentomographie, Tiefenausleuchtung, Entzauberung. Und Entzauberung ist Aufklärung.
Ich kann nicht behaupten, dass ich in dieser Sache den vollen Überblick hätte, aber mir scheint, dass die Psychoanalyse von oppositionsmedialer Seite eher den linksideologischen Hegemonialmächten zugerechnet wird, was wahrscheinlich auf der unseligen – und mir von jeher völlig unverständlichen – Verquickung von Freud und Marx beruht. Man muss diese ziemlich gezwungene Connection aber nicht übernehmen. Freud ist unser Gewährsmann und Bundesgenosse. Freud ist Aufklärer, Freud ist Vorreiter des kritischen Realismus, des Antifiktionismus, der schonungslosen Desillusionierung. Radikal humaner Kämpfer gegen die strukturelle menschlich-allzumenschliche Verlogenheit.

GD: Wenn Sie das sagen … aber bevor wir uns jetzt allzu sehr in Psychokram verlieren, würd ich doch gern noch mal handfesteres Terrain betreten, zumal Sie ja eben die Stichworte „Opposition“ und „radikal“ schon fallen ließen: Inwieweit ist das denn nun Spaß, Ironie, Humor, was auch immer, wenn Sie schreiben, das Bürgertum, vor allem das kulturoptimistische Bürgertum, solle geschlossen in die AfD eintreten, um die irgendwie von innen aufzumöbeln, zu zivilisieren, oder so ähnlich … ?

MJL: Ich schätze, ich mein das ungefähr so ernst, wie das mit den Juden, die alle nach Deutschland kommen sollen. Also ernst, aber halt mit dem verzweifelten Humor dessen, der weiß, dass es in der derzeitigen Realität ziemlich aussichtslos ist.

GD: Haben Sie übrigens dieses Corona-Symposium bei der AfD-Fraktion im Bundestag mitverfolgt?

MJL: Ja ja, hab ich.

GD: Und?

MJL: Tjo. Gut gemeint, mäßig gemacht. Mäßig heißt: irgendwie dilettantisch, halbimprovisiertes Stegreiftheater, ohne antizipatorischen Sinn für die Wirkung auf den Zuschauer „draußen im Lande“. Es zeigte sich an dieser Veranstaltung wieder einmal das Hauptproblem der AfD, oder besser: mein Hauptproblem mit der AfD. Ich habe kein im engeren Sinne „moralisches“ Problem mit denen, programmatisch bin ich mit vielem – wenn auch bei weitem nicht allem – einverstanden. Und was der Verfassungsschutz bemängelt, unterstellt, an den Haaren herbeizieht, halte ich für weitestgehend lächerlich und machttaktisch durchsichtig. Mein Problem ist die seit Jahren nicht weichen wollende Erkenntnis, dass diese Leute handwerklich höchstwahrscheinlich auch nicht kompetenter sind als die Stümper der amtierenden Gestaltungsmächte. Ich habe bei diesem Symposium ein paar interessante Dinge gehört, aber ich würde niemals einem meiner Bekannten den Link schicken und dazuschreiben: „Hier, guck dir das mal an.“ Wär mir einfach zu peinlich, als einer zu gelten, der so was sehenswert finden könnte. Dasselbe Problem hab ich – nur zum Beispiel – mit Julian Reichelt, dem härtesten Gegner von Heuchelei und Hafermilch, und diversen anderen alternativ-oppositionsmedialen Playern: Es ist alles – nicht alles, aber vieles – so schlecht gemacht, so amateurhaft, so geschmacklos und vor allem so völlig desinteressiert offenbar an der Frage, wie so was beim Normalbürger ankommt.

GD: Was ist an dem Reichelt denn so schlimm?

MJL: Also, ich habe tatsächlich so ziemlich alle Achtung-Reichelt-Sendungen von Beginn an gesehen, aber noch nie eine an Freunde weiterempfohlen. Nie. Warum nicht? Zum Beispiel deshalb, weil der Typ in jeder Sendung meint, satirisch werden zu müssen und keiner ihm mal sagt, dass er das nicht kann. Er macht irgendwelche Witzchen und lacht dann so gekünstelt affig, oder er spricht im ironischen Anführungszeichen-Sound so mit knödelig verstellter Stimme, wenn er irgendwas Schlaues von Annalena oder Ricarda oder dem Valium-Schlumpf aus dem Kanzleramt zitiert. Reichelt hat das typische Problem aller Alphatierchen, die sich nur mit Untergebenen umgeben, von denen keiner sich traut, dem Chef mal die ungeschönte Wahrheit zu sagen: „Alter, du kannst es nicht. Du machst nen passablen Job als populistischer Polemiker, als Gegenpropagandist und Boulevard-Prediger, aber du bist kein Humorist, kein Schauspieler, kein Komiker, kein Stimmenimitator, oder was immer du zu sein vorgibst, wenn du so peinliche Nummern aufführst. Lass es besser, okay?“

GD: Also, mich stört das nicht. Sie sind da n bisschen zu anspruchsvoll, scheint mir. Aber mal generell: Waren nicht eigentlich die Linken immer die Dilettanten?

MJL: Sie können offenbar Gedanken lesen. Ich wollte gerade sagen, ich erinnere mich, dass der Verleger und Drucker Gerhard Steidl vor etlichen Jahren – das war bestimmt in den Neunzigern, und ich hab keine Ahnung, warum sich solche Nebensachen so lange in meinem Hirn festsetzen – in einer Fernsehdoku den linken Dilettantismus beklagte. Als perfektionistischer Büchermacher und Qualitätsfanatiker sah er mit Unverständnis auf all dieses handzettelhaft Gutgemeinte, dieses Studikneipen- und Copyshop-mäßig Hingerotzte, dieses „Aussehen egal, Hauptsache die Message stimmt“.
Heute sind die Linken Meister der Oberfläche, so linksgrünwoke wie die großen Werbeagenturen sind ja nicht mal die Unis und die Kirchen. Und der DiY-Dilettantismus hat sich weitestgehend nach rechts verlagert. Videos, Webseiten, Parteien, Rhetorik, Klamotten, Frisuren, Veranstaltungsdeko, Werbung, Sounddesign, etc. … überall, wo ästhetische Minima für Anschlussfähigkeit sorgen könnten: Herrschaft des Handzettels. Haben diese Leute einfach keine Kontakte zu Profis, irgendwelchen Coaches, Beratern, Designern, Kritikern, Analytikern, Kommunikationsstrategen, Friseuren?

GD: „Ziemlich weit aus dem Fenster gelehnt für einen, der jetzt auch nicht gerade ganz oben auf den Bestsellerlisten und den Design-Award-Podien der Republik steht“, könnte man Ihnen da entgegenhalten.

MJL: Ja, könnte man. Macht aber keiner. Ich krieg sehr selten böse Briefe. Ich glaub, die Bösen lesen mich einfach nicht. Schade eigentlich. Schade um das schöne Schicksal …

GD: Guter Buchtitel.

MJL: Stimmt. Apropos Bestsellerlisten: Ist Ihnen auch schon aufgefallen, dass meine Bücher im Handel unter den seltsamsten Rubriken geführt werden? Mein Genderbüchlein „Stolpersterne“ stand bei Amazon zwischendurch schon mal auf Platz zwei in der Kategorie „Medizinische Ethik“.

GD: Vielleicht haben Sie ja doch noch Chancen, dereinst den Posten der unseligen Frau Buyx zu übernehmen …

MJL: Wissen Sie zufällig, wer in Deutschland die Ethikratsvorsitzende ernennt? Also, wer immer dafür zuständig ist, und das hier zufällig liest, nehme bitte einfach meine bisherigen Publikationen als Bewerbungsunterlagen. – Und ja, ich nehme die Wahl an. Das Finanzielle wird sich gewiss finden …
Aber im Ernst: Was ist das, was ich hier seit circa vier Jahren treibe? Jedenfalls gewiss nicht medizinische Ethik. Aber es gibt dafür weder bei Amazon eine Rubrik noch in der inhabergeführten Buchhandlung „Zur lustigen Leseratte“ ein Regal. Gäb es das, dann müsste wohl dranstehen: „Moralistik“.
Ja, ich glaube, mein Blog könnte auch heißen:
Der Moralist
Untertitel: Zur Kritik des Moralismus aus dem Geiste der Moralistik
Oder: Moralistik im Zeitalter der Medienrealität

GD: Was war das noch genau: Moralistik? Ich hab da jetzt so Namen wie Montaigne, La Rochefoucauld, Gracian, Lichtenberg vor Augen …

MJL: Also, ich würd sagen, Moralistik ist, wenn man sich so die tempora und die mores anguckt, also dieses ganze merkwürdige Treiben seiner Nebenmenschen, und sich gleichzeitig anguckt, was das mit dem eigenen Magen macht, wie der eigene Neocortex und der Thymos darauf reagieren, und wenn man von diesen ganzen inneren Vorgängen dann ein paar Fotos macht, und die ein paar Tage in den Kühlschrank legt, und dann versucht die zu beschreiben, zu besingen oder auch zu zerrreißen und zu zerknüllen, um das Geräusch, das dabei entsteht, in Worte zu fassen.
Also kurz und kindgerecht ausgedrückt: Moralistik ist kritische Menschen- und Selbstbeobachtung, literarische Anthropologie, Weltkommentierung vom Spielfeldrand aus, explizit unsystematisch und unabgeschlossen, Fokus auf Vielfalt, spielerische Erkenntnis und amüsante Bewusstseinsanimation als Ideal.

GD: Letztlich also nur die Umsetzung der altbewährten Formel: delectare et prodesse

MJL: Mein Reden. Und hier – auch wenn Sie nicht danach gefragt haben – eine vollständige Auflistung aller Erscheinungsformen der modernen Moralistik, die mir gerade einfallen:
Der Essay, also der Versuch, die „Bemühung“ (Thomas Mann) und Möglichkeitserwägung. Der Aphorismus, die Maxime, die Sentenz. Reflexion, Meditation und Bewusstseinsstrom. Die Anmerkung, Randbemerkung, Marginalie. Die Kolumne. Die Skizze, der Entwurf, das Fragment. Der Dialog. Die „Rede“ (auch die ungehaltene Rede). Die Invektive, Schmähung. Die Polemik. Die Predigt, die Philippika, die Suada. Die Enttarnung, Entlarvung. Die Anklage, die Bezichtigung. Die kritische Klage. Die Prophezeiung. Die Beobachtung, das Notat, der Einfall. Das Tagebuch, die Tagebuch-Auswahl. Die repräsentative (oder zumindest als möglicherweise repräsentativ imaginierte) Selbstbespiegelung. Die Epistel, der offene Brief. Das öffentliche Bekenntnis, der Profess, die Beichte, der Sinneswandel. Die Stellungnahme, das Statement. Die Parteinahme, Solidarisierung. Die Distanzierung. Die Belehrung, Unterweisung, Zurechtweisung. Der Ausbruch, die Wutrede. Die Verfluchung. Die Laudatio. Die Verteidigung, die Apologie.

GD: Reicht, reicht. Also im Grunde irgendwie alles außer Gedicht, Drama und Roman.

MJL: Und Hauptsache nicht langweilig. – Hm. Ob ich wirklich Moralist bin? Aber vielleicht werd ich ja mal einer …

GD: Ja vielleicht. Wie auch immer – wir sollten so langsam mal zum Ende kommen, woll? – Ach, da fällt mir noch ein: Sind Sie auch schon so gespannt auf diese neue Partei, die sich da angeblich um Hans-Georg Maaßen und Markus Krall bildet?

MJL: Könnte eine echte Alternative werden. Durchaus. Je nachdem, wer da noch alles mitmacht. Eigentlich bräuchte man ja nur alle (oder einige) zusammentrommeln, die immer am NIUS-Tresen von Sebastian Vorbach sitzen, plus alle (oder einige), die bislang bei Ralf Schuler zum Einzelgespräch Platz genommen haben, und dann noch ein paar Handverlesene, zum Beispiel: Ulrich Vosgerau, Antje Hermenau, Peter Hahne, Werner Patzelt, Henryk Broder, Rüdiger Mai, Hamed Abdel-Samad …

GD: … Thilo Sarrazin, Uwe Tellkamp, Prinz Asfa-Wossen Asserate, Hans-Werner Sinn, Silke Schröder, Kristina Schröder, Susanne Schröter, Michael Meyen, Sandra Kostner, Andreas Rödder, Gunter Frank …

MJL: … Klaus Stör, Burkhard Müller-Ullrich, Birgit Kelle, Ralf Höcker, Egon Flaig, Susanne Gaschke, Imad Karim, Martin Wagener …

GD: … Raymond Unger, Michael Esfeld, Arnold Vaatz, Hans Joachim Maaz, Fritz Vahrenholt, Joachim Steinhöfel, Gerhard Papke, Stefan Homburg … und wie sie alle heißen.

MJL: Nicht zu vergessen bitte Waldi Hartmann, Harald Martenstein und Kay Ray. Das wär doch mal ein Parteipräsidium, mit dem man ordentlich durchstarten könnte. Sind jetzt alles keine Leute, die man anhimmelt und sich als Starschnitt an die Wand pinnt. Es würde mir derzeit schon echt reichen, Leute an der Macht zu wissen, die einfach nur Recht und Ordnung wiederherstellen, damit ich ruhig schlafen und produktiv träumen kann. Ich persönlich würde auch noch ein paar andere nominieren, aber die sind entweder Österreicher oder in der AfD oder mutmaßlich ihrem Selbstverständnis nach zu links, um bei so einer Altbonner Bürgerversammlung mitzumachen.

GD: Bravo-Starschnitt von Hans-Georg Maaßen fänd ich cool. – Was ist mit der Wagenknecht-Partei?

MJL: Erwarte ich mir nicht besonders viel von. Wird halt einfach die etwas rationalere Linkspartei sein. Und die bisherige Linkspartei anteilsmäßig genau ersetzen. Aber die werden das Migrationsproblem nicht mit der nötigen Entschlossenheit angehen. Und alles andere ist mittlerweile zweitrangig. Aber mal abwarten …
Hoffe jedenfalls, die Maaßen-Krall-Union hat genug Kohle, um sich echte Marketing- und Medienprofis einzukaufen, Designer, Texter, Talkshowtrainer. Und bittebitte nicht irgend so nen bekloppten Namen ausdenken, der direkt alles zunichtemacht.

GD: Aber selbst da mitmachen würden Sie nicht?

MJL: No way. Aber wenn die mal irgendwo externen Sachverstand brauchen, eine ehrliche Zweitmeinung, kritisch-konstruktive Urteilskraft – mein Stundensatz ist so maßvoll wie meine Selbsteinschätzung. Ich kann denen zwar auch nicht sagen, wie‘s genau geht. Aber ich kann ziemlich genau sagen, was nicht geht.

GD: Ein schönes Schlusswort. Haben Sie sonst noch was auf dem Herzen? Irgendwas, das Sie loswerden wollen? Lektüretipps für unser Publikum? Außer dieser Stauffenberg-Biographie von eben?

MJL: Jüngers Waldgang las ich jüngst. Kann ich das empfehlen? Doch, schon. Seltsames Buch. Ist mir sehr nah und gleichzeitig sehr sehr fern. Dunkel und tief, die Bilder überlagern sich, stellen einander fortwährend in den Schatten. Nirgends Lichtung, vereinzelt nur Strahlen hinab bis ins niedere Holz, für mich zu viel an Bedeutung, zu wenig Humor. Humor jetzt nicht als Komik, nur als Distanz. Wenig davon. Ein unsinnig ernster Metapherndschungel. Lakonisches Pathos, mir durchaus vertrauter Drang zum Evangelium, viel Schönes und Seltenes inmitten des Stolperns und Tastens durch vieldeutige Dickichte.

GD: „Viel Seltenes“ ist gut.

MJL: Immerhin aber starke Impulse zu Ambition und Disziplin. Lehrgang für mich eher als Waldgang. Lehrgang im Entscheidenden: Absehen von der Zeit, Wendung zu den Gesetzen und Grundlagen, den größeren Energien. Mit Universen, Imperien und Epochen spielen nicht anders als mit all den andern Blüten und Protuberanzen des Seins.
Ferner, für die Praxis – und um Praxis geht es diesem Wegweiser und Ratgeber doch –, lernt man wieder begreifen, wie man sich zu stellen hat zu den Gestalten der Gegenwart, man gewinnt wieder Sicherheit in Geschmacksurteilen, spontan, körperlich geradezu wird einem klar, welche Anmaßung etwa darin liegt, wenn der kleine Mann aus dem Kanzleramt „Zeitenwenden“ im Munde zu führen sich traut. Man muss all diese Repräsentanten des Staates und der Zeit gar nicht verächtlich machen, als Comicfiguren karikieren oder blöd nachäffen, man muss sie nur reden lassen und ein paar Sätze eines echten geistigen Führers danebenhalten. Denn das ist Jünger zweifellos, und seine Sätze, seien sie als versammelte Textmasse auch ein paar Nummern zu polyvalent, sind kraftvolle Kontrastmittel gegen die semantischen Schmierereien des ochlokratischen Säkulums.

GD: Sie sind nicht so der Waldgänger, ne? Also, metaphorisch gesehen ….

MJL: Eher wohl Parkgänger. Gewiss, ich liebe den Wald – also, sowohl als Sinnbild als auch in echt, ich komme ja schließlich aus dem Wald, bin Nachfahr eines vielhundertjährigen Ahnenfächers von Weltfremdlingen aus dem Carl-Schmitt-Land, bin Sohn des „sauren“, das heißt „nassen“ und tausendfältig grün schattierten Mittelgebirgs, meine Kindheit ist im Rückblick, im Rückgefühl, ebendiese alte, fromme Welt, diese märchenhafte Anfangsverdichtung, die zwischen Kirche und Wald, zwischen gemurmelten Gebeten und dem Gekrächz der Häher, zwischen Orgelsturm und Buchfinkengezwitscher, zwischen Freiheit und Geborgenheit keinen Unterschied zu machen weiß. Ja, von dort komm ich, aus diesem katholischen Tannendunkel, aber mein Sehnen geht wie das aller Kulturfolger und Lustwandler nach den Gärten, den Anlagen, vornehmlich den Schlossparks mit ihren verlässlichen Wegen und optimierten Ordnungen, ihren Orangerien, künstlichen Grotten und Konzertmuscheln. Der Mensch ist Kind seiner Ursprünge, aber mehr vielleicht noch Zögling seiner Ziele. Ich will sagen: Ich könnte problemlos Konformist sein, wenn der „Menschenpark“ vernünftig eingerichtet wäre. Ist er aber leider nicht. Man wird ja quasi zurück in den Wald gezwungen.

GD: Aber Sie sind kein …

MJL: Nein, ich bin kein Anarch. Ich bin Aristokrat. Glaube ich zumindest. Ja, lachen Sie ruhig. Also, Aristokrat nicht in dem Sinne, dass ich mich selbst für einen „aristós“, einen der „Besten“ hielte, sondern als Befürworter der Aristokratie. Die Besten sollen herrschen, wer denn sonst? Nur – wer sind die Besten, wie ermittelt man die? Durch demokratische Wahl? Warum nicht? Die Frage ist allein, welche Art von Demokratie zu einer Auswahl der Besten führt.
De facto haben wir ja dem Wunschdenken nach längst eine demokratische Aristokratie. Das Problem ist nur, dass unter den tatsächlich Erwählten, der vermeintlichen Elite, weit und breit kein aristós zu finden ist.

GD: Allerletzte Frage: Wann dürfen wir eigentlich mal wieder mit einem Roman rechnen? Kommt da noch mal was, oder haben Sie sich komplett auf Moralistik und politische Desorientierung verlegt?

MJL: Also, wenn ich ehrlich sein soll, hab ich schon lange keinen Bock mehr auf dieses ganze Mitreden und Grübeln über all die Gossenthemen, die die Medienrealität uns aufzwingt. Das ist eigentlich nur Pflichterfüllung, Besänftigung des schlechten Gewissens. Irgendein Bewohner meines Über-Ichs, wahrscheinlich der katholische Widerstandsgeist, zwingt mich immer wieder, Nein zu sagen, zu diesen ganzen Gegenwartszumutungen.

GD: Aber das können Sie ja eigentlich auch – und vielleicht besser – in Form des Romans tun. Besser, weil einfach intensiver und packender, bewegender, berührender als irgendeine Analyse, ein Witz oder ein Argument.

MJL: Ja, denk ich mir auch zuweilen … die Menschen wollen ja auch berührt werden. Die wenigsten wollen ja vom Text etwas erfahren, etwas erkennen, durchschauen, sich bilden zu begründeterer Wirklichkeit und höherer Humanität. Homo sapiens ist nun mal wesentlich homo socialis, sein Hauptorgan zur Welt ist nicht sein Hirn, nicht sein Auge, sondern die Haut. Die Menschen der Gegenwart sind unberührte Einzelne, existenziell einsam und isoliert. Unsere Zivilisation verbietet uns das Unerlässliche des Lebens, die Berührung, Haut gegen Haut, sie hat uns zum Ekel erzogen, Primaten auf Distanz wurden wir. Avatar, Artefakt und Surrogat, kontaktloses Digitalisat. Was die Tiere in aller Unbekümmertheit tun, Lausen und Lecken, zwanglose Analogie, handfeste Biochemie und sensorischer Austausch, das muss der nackte, enthaarte und wieder verhüllte Massenaffe an den Sublimator delegieren, dass er ihm gereinigt, vergeistigt zurückbringe, was als echte Anfassbarkeit ihm zuwider geworden.

GD: Den „Sublimator“? Sie meinen den Künstler?

MJL: Der Künstler ist Medium, prismatische Seele, wandelnder Lichtfang und Bioprojektor, er bricht die Bilder der Welt und bündelt die Farben zu höheren Formen. Was der Lebemensch sich einverleibt und was bleibt ihm zur Nahrung, das geht durch den Töner und Schilderer nur so hindurch, wird katalysiert und verwandelt und zieht dann als wirbelnde Schleppe und Wunderschweif hinter ihm her, Verdichtungschromatik, Wahrheitsakkord, Bedeutungskaskade und jubelnde Entselbstung. Vor ihm das graue Gewese, in seinem Rücken der bunte, brennende Flammenwind. Tränenblinder Maler, geknebelter Sänger rennt er auf brodelnder Stelle. Zeitlupe, Zeitofen, zur Zeitlosigkeit kochender Symbolreaktor, Blendung, Spektakel und stockendes Blut. Sein Werk holt ihn ein wie ein Feuer im Traum, ein Verfolger mit lodernden Klauen, dem man nur durch den Sprung, durch den Schrei ins Aufwachen entkommt.

GD: Ich kann nicht mehr ganz folgen …

MJL: Der tätliche Mensch, der Fresser und Endverbraucher, der Glotzer und Schmöker und Dancer und Surfer wird nie eine Ahnung haben von den Opfern, die hier gebracht wurden für seine Kurzweil und kleine Erhebung. Es verzichtet da einer auf alles, was Leben heißt, damit du, Mensch und schmatzender Zivilkonsument, deine Zeit in Behagen und Spuren von Sinn dir vertreibst.

GD: Bleiben wir doch beim „Sie“, ja?

MJL: Damit es dich rührt, ab und zu, im Einatmen zwischen Labern und Shoppen, in der Schwebe zwischen Ikea und Tagesschau, im Dunkeln zwischen Autobahn und Tiefkühlpizza. Du brauchst die Berührung, damit du nicht zugrunde gehst an diesem Taumeln von Einsamkeit zu Einsamkeit, an dieser Lieblosigkeit inmitten all der Millionen von gleichsinnig Zugerichteten und Abgetrennten. Leere Gesichter, verlederte Seelen, niemand, der dich kennt, kein Blick, der dich meint, keine Frage, die dein Dasein ihnen aufgäbe.

GD: Ääh …

MJL: Nur der Künstler kennt dich, aber weißt du das nicht? Er kennt dich, nicht zwar zur Gänze, aber ziemlich zur Tiefe. Er kennt dich, weil du aus demselben Mängelleben, demselben schlammigen Tunnel und Nahtod kommst wie alles, was mit dir durch diese Zeiten geistert, er kennt dich, weil er die Matrix kennt, den Mutterboden des Lebens, den er von klein auf durchwühlt, als Sohn der großen gleichgültigen Gebärerin, ausgetrieben und wahllos erwählt, weil er grad da war, als man einen brauchte, auf den es nicht ankam.

GD: Sehr schön, war das ein Auszug aus einem neuen Roman? – Wollen wir das einfach mal so interpretieren … Herr Ludwig, vielen Dank für das Gespräch.

MJL: Keine Ursache, Herr von Fröhn.

GD: Jetzt hab ich bloß noch ein Problem.

MJL: Nämlich?

GD: Ich hatte vorab schon einen Titel ersonnen, „Bürger an die Querfront!“, und der passt jetzt nicht so richtig zu dem, was wir besprochen haben.

MJL: Doch, klar, der passt. Jedenfalls zum Buch. Ist hiermit von mir höchstselbst autorisiert. Können Sie so drucken.

GD: Wir sind ein Online-Magazin. Außerdem kann ich doch nicht  einen Text betiteln mit Worten, die der Interviewte nicht einmal ausgesprochen hat.

MJL: Wieso? Hat er doch: BÜRGER AN DIE QUERFRONT!! Reicht Ihnen das? Schmeißen Sie dafür einfach den Reichelt irgendwo raus, der kam definitiv zu häufig vor, fand ich. – Also denn, Tüssi.


 

© Marcus J. Ludwig 2023
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