Neues vom Nationalmasochismus (3)

IN DER LEERE – „Wir haben es hier mit einer Perversion der Aufklärung zu tun. Eine europäische Stärke, Selbstkritik, ist in Selbsthass umgeschlagen. Als Weißer geboren zu sein, ist die Erbsünde, von der man sich nur durch Selbstgeißelung befreien kann“, stellt Norbert Bolz in seinem Buch „Der alte weiße Mann“ fest. „Dieser ethische Absolutismus der Selbstkritik steigert sich bis zum Bußmasochismus. Das ist der Effekt der letzten großen Erzählung, mit der die Linken die Öffentlichkeit faszinieren und das Bewusstsein der Bürger betäuben: die Erzählung von der weißen Schuld. Ihre Erfindung ‚unbewältigter Vergangenheiten‘ erzeugt im Westen ein universales Schuldbewusstsein.“[8]

Die Beschreibung überzeugt, aber die Erklärung fehlt. Wie konnte Kants leuchtende Freiheitsformel Sapere aude! Wage es, dich deines eigenen Verstandes ohne Leitung eines Anderen zu bedienen! im 21. Jahrhundert wieder umschlagen in Endzeit-Apokalyptik und Inquisition, in falsche Frömmlerei und moralischen Irrationalismus, in Teufelsangst und Dämonisierungslust, kurz: Wie schlug Vernunft in Glaube um, wie wurde aus Realismus wieder Fiktionismus, wieso kehrt der Rationalismus zurück zur Religion? Denn darum handelt es sich doch bei alledem: um Religion. Nicht um Politik, jedenfalls nicht primär. Erbsünde, Selbstgeißelung, Bußmasochismus, der Geist der Rache, das Schlachten der Sündenböcke, Verteufelung der Andersdenkenden, Medienpranger, Tribunalisierung, Tyrannei der Minderheiten, Kultur der Hypersensibilität und Wehleidigkeit, Lust am Vorzeigen der Wunden, Selbstheiligung durch Erlangung eines Opferstatus, Wokeness, Political Correctness, Cancel Culture, Kampf gegen Rechts (bezeichnend ist – nebenbei –, dass es nicht „Kampf gegen Rechte“, „Kampf gegen Rechtes“, „Kampf gegen rechte Ideologie, rechtes Gedankengut, rechte Politik“ oder so in der Art heißt, sondern eben „Kampf gegen Rechts“. Ein Kampf gegen Eigenes und Inneres. Hier wird mitnichten ein politischer Gegner bekämpft, sondern ein seelischer Schatten.)

Wir haben es nicht primär mit linken Politikern zu tun, die entsprechend einer Ideologie künstliche Narrative ersinnen, um eine Gesellschaft zu formen und zu lenken. Das wäre halbwegs rational. Nein, wir haben es mit echter Religion zu tun, in Reinform verkörpert von den Grünen. Hier geht es um Gewissheiten, die aus dem Glauben kommen. Hier geht es um das Höhere, das Gehorsam gebietet, das unsere Existenz als ganze fordert. Es gibt keinen grünen Gott, aber es gibt auch bei den diesseitigsten Atheisten noch die Stelle in der Matrix des Unbewussten, wo einmal das Göttliche gesessen hat. Bedürfnisse steuern Energien. Aus dem Mangel kommt die Kraft. Es hockt nun keiner mehr auf dem Thron des Weltenrichters, kein Gott als Person, aber der Thron selbst hat immer noch Macht, und gerade der Umstand, dass man nicht wirklich weiß, wer da demnächst sitzen wird, macht die Vagheit und Universalität des moralischen Sollens aus.

Ich will sagen: Es gibt offenbar eine religiöse Konstante im Menschen, eine Planstelle im psychischen Apparat, und wenn der eine Gott durch Aufklärung, Wissenschaft, moralischen Bankrott (Auschwitz), Kultur- und Wertewandel untragbar geworden ist, muss doch früher oder später unweigerlich ein anderer her. Dieser Andere bildet sich gerade heraus, formt und verdichtet sich aus den Nebeln des Zeitgeistes zu einer ernstzunehmenden, gefährlichen Instanz heran. Er wird bei uns im Westen gewiss nie mehr „Gott“ heißen, aber er wird so wie der alte weißbärtige Mann im Himmel etwas irgendwie Menschenförmiges und Personenhaftes, etwas Übermächtiges und Elternmäßiges sein. Etwas, das dich sieht und richtet, etwas, vor dem du dich verantworten muss, etwas, das dich vernichten kann.

Sehen wir uns um, gestehen wir’s uns ein: Das sapere aude! überfordert die Menschen. Sie sind nicht gern allein mit sich und ihrem Gehirn. Menschen ertragen es offenbar nicht, dass es niemanden da draußen interessiert, was sie tun und lassen. Dass niemand von ihrer Existenz Notiz nimmt. Dass sie dem Universum so gleichgültig sind wie die Dinosaurier. Dass es nichts gibt, was mit ihnen lebt in der Leere, nichts, was sie liebt, nichts, was sie hält. Niemanden, der sie auch nur vernichten will.


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VON DEN FLAGELLANTEN – Mit dem Flagellantismus ist es folgendermaßen bestellt: Die Geißelung oder flagellatio ist seit jeher, soweit jedenfalls die Überlieferung reicht, ein Element des Strafvollzugs. Das Geschlagenwerden mit biegsamen Instrumenten, etwa Ulmen- oder Feigenruten, mit Stricken, Ketten, Peitschen aus Kalbslederriemen, in welche oft noch Spitzen aus Knochen und Holz eingeflochten sind, dient als Mittel der Folterung (Erzwingung von Geständnissen) und der Züchtigung (Erzwingung einer Sinnesänderung), als selbständige Strafe (z. B. öffentliche Geißelung eines ertappten Ehebrechers durch den Ehemann) sowie zu kultischen Zwecken. Als Neben- und Begleitstrafe ist die Geißelung bei der Todesstrafe üblich. Den Brauch, den Verurteilten vor Vollstreckung der Kreuzigung zu geißeln, kennen wir von Jesus und den christlichen Märtyrern. Die Kreativität im Ersinnen von Möglichkeiten der Grausamkeitssteigerung ist bemerkenswert. Bei Verwendung einer plumbata, einer Ledergeißel mit Bleikugeln, erreichen die Geißelhiebe – es sind etwa für Häresie oder Götzenkult, für Unzucht und Sodomie in der Regel hundert an der Zahl, bei Sklaven auch mal dreihundert – die nackten Knochen. Das horribile flagellum kann mit sogenannten stimuli, metallenen Stacheln oder gar Krallen, versehen sein. Mit einem derartigen Instrument geht die Geißelung – sagen wir ruhig: die Zerfetzung – nicht selten bereits in den Vollzug der Todesstrafe über.

Interessant ist nun die Umleitung dieser barbarisch-justiziellen Fleischesroheiten auf das Gebiet der Kultur, der höheren Geisteszustände und Reinigungsrituale. Die spiritualisierte Gewalttätigkeit wird früh als Mittel zur Erzeugung kollektiver Bewusstseinsveränderungen (Ekstase, Massenhysterie) entdeckt. Fruchtbarkeitszauber, Initiationsmysterien, rites de passage finden ihren performativen Ausdruck in der dosierten Verabreichung von Schmerzen mittels Ruten und Peitschen. Priesterschaften rasen durch die Straßen, um die Frauen aufs Festlichste mit Lederriemen zu traktieren, was nach dem Volksglauben der Fruchtbarkeit dient. Als Reinigungsbrauch ist das kultische Geißeln in der Sexualaskese seit jeher populär, als Ersatzhandlung erspart es dem gegen die Triebknechtschaft Aufbegehrenden die – ohnehin nur einmal mögliche – Selbstkastration. Als Übergangs- und Initiationsritus ist die Flagellation Teil des schmerzreichen Arrangements, mit dem der Myste den Eintritt in die Gemeinde der Erlösten und wahrhaft Lebenden vollzieht. Tod und Neugeburt, voluntaria mors durch Schläge und sonstige autogene Grausamkeiten, durch Absonderung, Einschließung in einen dunklen Raum oder Verhüllung, Haarschur, Fesselung, Persönlichkeitsentzug durch Maskentragen – wer solch ein Zeremoniell durchlebt, durchstirbt, der wird jenseits der Kasteiungen zweifellos ein Anderer und Neuer sein, ein Eingeweihter und im eigenen Blute Getaufter.

Die eigentlich asketische Selbstgeißelung als christliche Bußform taucht allerdings erst im Mittelalter auf. Seit dem 9. Jahrhundert lassen sich Asketen freiwillig den Rücken auspeitschen; seit dem 11. Jahrhundert nehmen sie zwecks „disciplina“ auch selber die Geißel zur Hand. Dann, im 13. Jahrhundert, erscheinen die Flagellanten als religiöse Massenbewegung auf der Bildfläche. Dies Phänomen der in Scharen durch die Lande ziehenden Geißler, Flegler, Flagellatores, Cruciferi oder Paenitentes ist zeitgeistiger Ausdruck einer kollektiven Bußgesinnung, getragen von der Hoffnung auf Aufschub des Jüngsten Gerichts und von der Furcht vor unmittelbar bevorstehender ewiger Verdammnis. Schwere Hungersnöte, vor allem aber die ständig wiederkehrenden Pestwellen befeuern die religiöse Erregung und den massenhaften Drang zur Selbstgeißelung. Die Bewegung der Flagellanten, die sich anfänglich spontan zu ihren Zügen zusammenfinden, später in regelrechten Bußbruderschaften mit 1200 und mehr disciplinati organisiert sind, reicht bis ins 15. Jahrhundert. Die allgemeine Angst des Zeitalters verbunden mit dem Glauben an eine Rettung verheißende aufrichtige Buße bringt den Geißlerscharen großen Zulauf aus allen Teilen der Bevölkerung, Männern und Frauen, Adligen, Bürgern und Bauern, Mönchen und Klerikern, wenngleich das Phänomen primär wohl als Ausdruck einer städtischen Religiosität gesehen werden muss.

Die Geißlerzüge dauern entsprechend der Zahl der Lebensjahre Christi auf Erden 33 ½ Tage. Von Klerikern mit Kreuzen und Prozessionsfahnen begleitet, ziehen die Flagellanten mit Geißeln in den Händen, halbnackt mit bloßem Oberkörper oder geöffneten Kleidern, unter Gesang der Geißellieder in die Städte ein. Die Leitung des einzelnen Zuges liegt bei den Meistern, denen unbedingter Gehorsam zu leisten ist, innerhalb der Büßerscharen aber kommt es zur Aufhebung aller gesellschaftlichen Schranken, man redet sich gegenseitig als Bruder an. Man marschiert in Zweierreihen in einer Prozession, Edel und Unedel, Alt und Jung, gar Kinder von fünf Jahren. Nackt, nur mit ihrer Bescheidenheit bedeckt, ziehen sie durch die Straßen der Städte, jeder hält eine Peitsche in der Hand und schlägt sich unter Stöhnen und Weinen heftig auf die Schultern, bis das Blut fließt. Das staunende Volk verspricht sich von dem Flagellanten-Blut wunderbare Heilkräfte. Die Flegler vergießen Fontänen von Tränen, als hätten sie mit leiblichen Augen das Leiden des Erlösers selbst gesehen, und erflehen unter Schluchzen und Gesang die Barmherzigkeit des Herrn und die Hilfe der Mutter Gottes. An der Kirche angelangt, beginnt die Bußhandlung nach hochtheatralischem Rituell mit der Absolutionszeremonie: den Oberkörper nackt, den Unterkörper bis auf die Füße mit einem weißen Kittel oder Tuch umkleidet, legen sich die Geißler in einem weiten Kreis zur Erde und bekennen; ein Meineidiger etwa reckt drei Finger in die Höhe, ein Ehebrecher legt sich auf den Bauch, so zeigen sie durch Gebärden die Sünden an, für die sie büßen wollen. Alsdann schreitet der Meister über den ersten und absolvierte ihn durch einen Spruch und eine Berührung mit der Geißel. Der erste erhebt sich und schreitet mit dem Meister zusammen über den zweiten. So geht es fort, bis alle aufgestanden und übereinander geschritten sind. Dann beginnt wieder die von Gesang begleitete Handlung der Selbstgeißelung. Sie vollzieht sich in drei prozessionsartigen Umgängen, die jeweils durch einen gestenreichen Bittruf beschlossen werden: nachdem sich die Geißler in die Knie gelassen, werfen sie sich in Kreuzgestalt zur Erde, um sich dann wieder auf die Knie zu erheben und mit erhobenen Händen um Bewahrung vor dem jähen Tod zu bitten.

Ein Chronist berichtet: „Nicht nur tagsüber, auch nachts mit brennenden Kerzen, im strengsten Winter, gehen Hunderte und Zehntausende um die Städte und Kirchen und werfen sich demütig vor den Altären nieder, voran die Priester mit Kreuzen und Bannern. Die Dörfer und Städte, die Ebenen und die Berge widerhallen von den Stimmen derer, die zum Herrn rufen. Die Lieder der traurigen Büßer bewegen selbst steinerne Herzen, und die Augen der Hartleibigsten können die Tränen nicht zurückhalten. Dann kehren alle Zerstrittenen zur Eintracht zurück, die Wucherer und Räuber beeilen sich, das zu Unrecht Weggenommene zurückzugeben, während die Übrigen, in alle denkbaren Vergehen verwickelt, demütig ihre Sünden bekennen und ihrer Eitelkeiten entraten. Die Gefängnisse werden geöffnet, die Sträflinge freigelassen, und die Verbannten dürfen in ihre Häuser zurückkehren. So tun sowohl Männer als auch Frauen Werke der Heiligkeit und Barmherzigkeit, als ob sie befürchteten, dass die göttliche Macht sie mit himmlischem Feuer verzehren oder sie plötzlich in die Erdhöhle aufnehmen oder sie durch ein heftiges Erdbeben erschüttern würde oder durch andere Plagen, mit denen sich die göttliche Gerechtigkeit an den Sündern zu rächen pflegt.“[9]

Ob die Selbstgeißelungen irgendeine Seele vor der Verdammnis bewahrt haben, ist nicht überliefert. Vor der Pest jedenfalls bot das blutige Gebüße wohl keinen wirklichen Schutz, auch die Flagellanten fielen dem verheerenden Bakterium massenhaft zum Opfer. Man nimmt an, dass Yersinia pestis bei den gottselig Verwundeten infolge der selbstgeschaffenen Eintrittspforten sogar sehr viel leichteres Spiel hatte.


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VOM WÖRTERWÄGEN – „Nationalmasochismus“ … muss man so ein Wort dermaßen auf die philologische Goldwaage legen? Muss eine Metapher restlose semantische Kongruenz vorweisen können, reicht es nicht auch, wenn man schon einigermaßen versteht, was da gemeint ist und bildhaft-assoziativ verdeutlicht werden soll? – Also, mir reicht es keineswegs. Und den Rechten würde ich raten, es sich auch nicht reichen zu lassen. Die gesellschaftliche Akzeptanz rechter Kritik scheint mir mitunter auch dadurch gedrosselt zu werden, dass sie mit allzu plakativen und begriffsschiefen Vokabeln arbeitet. Bestes Beispiel ist der „Große Austausch“, bei dem jeder theoretisch Interessierte, der statt eines Stammtischs die besagte Goldwaage im Gemüt stehen hat, die Flucht ergreift.

Wenn ich was zu sagen hätte, würde ich sagen: Mehr Goldwaage wagen! Also generell. Die meisten gesellschaftlichen Debatten scheitern ja schon daran, dass die Teilnehmer sich nicht einig sind über die genaue Bedeutung der verwendeten Begriffe. Und auch gar nicht wissen, dass dem so ist. Was vielleicht von Seiten der Talkshow-Inhaber auch so gewollt ist, denn andernfalls gäb es wohl kaum noch groß was zu bereden. Der Thrill beim Talkshowgucken gründet ja im Grunde allein in der Frage, ob die Gäste es wohl schaffen werden, bis zum Ende der Stunde wenigstens einmal nicht aneinander vorbeizureden. Das wäre dann der Moment, der einem Tor beim Fußballspiel entspräche. Die meisten Talkshows gehen aber bekanntlich 0:0 aus.

Wenn ich mir meinen Traumjob backen dürfte, dann wäre ich so was wie „Großer Goldwaagen-Bewahrer der heilig-mitteldeutschen Sprachverschönerungskanzlei“ mit Sitz in der Lutherstube auf der Wartburg, assistiert von den emsigen Experten der altehrwürdigen Alkmaarer Käsewaage, den Zetters, Waagmeesters und Ingooiers, die im Rang und Sold etwa den klassischen Mundschenken und Truchsessen gleichgestellt wären. Wir wögen jeden Tag ein Wort, von „Alphawurst“ bis „Zombiesport“. Ach, kann denn nicht der Herr Ramelow oder demnächst der Herr Höcke das Land zwischen Werra und Wyhra in ein putziges Operetten-Erzherzogtum umwandeln, so mit Fantasy-Uniformen und Kutschen statt Autos, wo ich dann gegen ein paar Truhen voll Thüringer Taler und einen täglichen Teller Reibeplätzchen in Ruhe meines schönen Amtes walten könnte?


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SCHLECHTE DEUTSCHE ZÄHNE – Ich sagte es schon an anderer Stelle, aber ich sage es gern immer mal wieder mit neuen und vielleicht triftigeren Worten: Es gibt viele gute Gründe, sich fürs Deutschsein zu schämen, und es gibt gewiss noch mehr Gründe – vielleicht sind es minder gewichtige Gründe? –, auf Deutschland stolz zu sein. So wie es gute, verständliche, nachvollziehbare Gründe gibt, Scham und Stolz für die eigenen Eltern, für die eigene Familie zu empfinden. Familie und Nation sind eingeborene, mitwachsende Strukturen der eigenen Identität, Stammholz und Symbionten im Seelengeäst. Meiner Ahnen gesammelte Verfehlungen und Schandtaten, ihre Wunderschöpfungen und ihre Heldenhaftigkeiten sind die narrativen Urgründe meines Selbst- und Weltgefühls, ihre Krankengeschichte geht organisch über in die meinige, ihre Schönheiten und Ideale ziehen mich voran, in die Höhe, ins Verderben. Herkünfte, abgebrochene Wege, unerreichte Ziele. Spiegel und Sehnsucht, Feindbild und Quelle unzähliger Qualen. Ich liebe und hasse meine Familie, ich liebe und hasse mein Land. Wie sollte es anders sein?

Mit Schuld aber hat das alles überhaupt nichts zu tun. Nicht einmal mit Verantwortung. Ich bin nicht haftbar für irgendetwas, das vor meiner Geburt, vor meiner moralischen Zurechnungsfähigkeit geschehen ist. Ich bin nicht verantwortlich für die Taten meiner deutschen Vorfahren, und es erwächst aus ihren Taten auch keine Verantwortung für mein zukünftiges Handeln. Ich brauche mich nicht täglich (oder auch nur gedenktäglich) an die Gaskammern zu erinnern, um mich moralisch davon zu überzeugen, dass es falsch wäre, Juden zu töten. Ich brauche keine routinemäßigen Ansprachen und Staatsakte, um zu wissen, dass ich moralische Verantwortung trage für alles, was in meinem Zuständigkeitsbereich passiert. (Wie dieser Zuständigkeitsbereich genau zu definieren wäre, zeitlich und räumlich und sozial, ist letztlich wohl die Grundfrage aller übererregten Debatten der Gegenwart. Die Linken wollen ihn immer weiter ausdehnen, die Rechten wollen das nicht.)

Schuld ist eine ethische Kategorie, eine halbwegs objektivierbare Frage von Regeln und Gesetzen. Scham ist etwas ganz anderes, ein aus ethischen und ästhetischen Minderwertigkeitswahrnehmungen auffliegendes Gefühlsgemisch, das den Kern der Person mit schmerzhaften Fragen und schrecklichen Einsichten bedrängt. Bin ich wertlos, bin ich hässlich, bin ich ekelerregend, bin ich dumm, bin ich feige, bin ich gründlich verdorben und unabänderlich falsch, so wie ich bin? Bin ich der Sohn einer Nation, die einmal die wundersamsten Werke aller Kulturgeschichte hervorzubringen im Stande war, die Geist und Kunst und komplizierte Humanität zu reichster Blütenpracht emporgetrieben hatte, und dann so tief sich stürzen ließ in alle Abgründe der Unmenschlichkeit wie nie eine Nation zuvor? Bin ich der Sohn Heydrichs und Hitlers, so wie ich der Sohn Fontanes und Freuds bin? Und werde ich diese fatalen Gene und Geschichten nie aus mir herausbekommen? Und wird man mir dieses unheilvolle Gemisch aus Genie- und Verbrecher-Genetik nicht immer ansehen? Kann ich mir denn aussuchen, wofür ich mich schämen muss?

Menschen schämen sich für ihre schlechten Zähne. Die Mimik eines Menschen, sein Lachen und Sprechen, sein ganzes Ausdrucksverhalten ändert sich mit den Jahren des Verschleißes, wird gehemmt durch das Gewahrwerden ästhetischer Fragwürdigkeit. Der Blick in den Badezimmerspiegel und der Blick in den Spiegel des Mitmenschengesichts wirkt wahre Wunder der Verhaltensänderung, Lektionen in fazialem Benimm, die durch kein kognitives Relativieren wieder verlernt werden können. Höchstens durch dentale Kosmetik oder Prothetik. – Aber damit endet die Analogie, denn es gibt für Geschichte und Genealogie weder Kosmetik noch Prothetik.

Die Scham wird mich bewegen zu Versuchen der Wiedergutmachung, des verzweifelten Ungeschehenmachens, der tätigen Reue. Oder sie wird es eben nicht tun, sie wird mich womöglich lähmen und gerade am Tätigwerden hindern, weil all das zu schmerzhaft wäre und mein Fortleben massiv bedrohen würde. Man kann schlechterdings niemandem befehlen, wie er sich zu schämen hat und wie er daraus „verantwortliches“ Verhalten abzuleiten hat.

Scham setzt gesunde Selbstliebe voraus. Schamlosigkeit gedeiht nur auf dem Boden narzisstischer Verwahrlosung, sei es in Form identitärer Gleichgültigkeit und emotionaler Abgestorbenheit, sei es in Form von wahnhaft-wahrnehmungsgestörter Selbstvergötzung. Ein echter Deutscher mit intaktem Nationalempfinden, ein Deutscher, der seine Nationalität nicht nur als Abstammungsschicksal, sondern als Anspruch begreift, der kann gar nicht anders, als sich für sein Deutschsein zu schämen. Nicht für sein ganzes Deutschsein, aber für seine schlechten deutschen Zähne, sozusagen. Unser einst so ansehnliches – wenn auch immer schon undurchsichtiges – Antlitz ist für immer verunstaltet. Durch Hitlers Faustschläge und Goebbels‘ faulige Zungenküsse, die unser Volk sich willig hat gefallen lassen. Das ist nicht unsere Schuld. Aber jetzt sind die Zähne splittrig und vergammelt und werden uns ewig ein Hemmnis sein, unserem jüdischen Gegenüber so richtig herzhaft, mit unverhohlen geblecktem Gebiss ins Gesicht zu lachen.

Ja, es waren nur zwölf Jahre. Zwölf Jahre von zwölfhundert.[10] Nur ein Prozent, eine Seite im Buch der Geschichte. Die Zähne machen weit weniger als ein Prozent des Körpers aus. Aber wenn sie ruiniert sind, ist es nun mal aus mit der Schönheit.


Fortsetzung folgt …

 

[8] siehe auch NZZ, 18.02.2023, Medienwissenschafter Norbert Bolz: „Ich bin sicher, dass viele Linke mit diesem Mist nichts zu tun haben wollen“: „Sowohl England und Frankreich auf der einen Seite als auch Amerika auf der anderen Seite sowie Deutschland haben ihre großen Katastrophen gehabt, die jetzt gegen sie verwendet werden und die sie vor allen Dingen gegen sich selbst wenden in einer Art Selbstgeißelung. Bei den Franzosen und Engländern ist es der Kolonialismus, bei den Amerikanern der Rassismus gegen die Schwarzen und bei uns in Deutschland der Holocaust. Alles ist darauf fixiert …“ […] „Die Selbstkritik ist wohlgemerkt ein Alleinstellungsmerkmal der westlichen Intellektuellen. In anderen Kulturen macht man sich selbst nicht so fertig. Diese Selbstkritik ist heute in Selbstgeißelung umgeschlagen. Statt Argumente zu bringen, wird nur noch moralisiert. Das führt letztlich zu einer Verdummung der Intellektuellen.“

https://www.nzz.ch/feuilleton/medienwissenschafter-norbert-bolz-cancel-culture-alter-weisser-mann-ld.1725899

 

[9] Thomas Mann konnte zu seiner Zeit noch ungeniert und ungestraft ganze Lexikonartikel in seine Texte einbauen, einschmelzen. Hannos Typhus-Tod ist das bekannteste Beispiel für diese Art des „höheren Abschreibens“. Da ich nun nicht TM bin, und da unsere Zeit anders ist als seine Zeit, geb ich die Quellen meiner parodischen Historienmontage mal lieber an. Ich hab zwar weder Doktorgrad noch Ministeramt zu verlieren, aber ich hab eine Horde nervtötender kleiner Plagiatsjäger im Zwischenhirn, die mich nachts aus dem Schlaf schrecken, und wenn ich nachts schreiend hochschrecke, schrecke ich das ganze Haus mit hoch, und dann muss ich morgens im Treppenhaus mit Fragen rechnen, und da kann ich irgendwie schlecht sagen, mir sei der grimme Geist von Theodor Klauser oder Robert-Henri Bautier erschienen … deshalb also:

Reallexikon für Antike und Christentum, Band IX. Stuttgart 1976

Lexikon des Mittelalters, Band 4. München, Zürich 1989

Arthur Hübner: Die deutschen Geisslerlieder. Studien zum geistlichen Volksliede des Mittelalters. Berlin, 1931

 

[10] … wenn man die deutsche Geschichte mal ungefähr und schlankerhand im Jahr 786 mit dem Auftauchen des Wortes „theodiscus“ beginnen lässt, was ich als jemand, der alles Sprachliche für wichtiger erachtet als Schwerter, Kronen und Throne, prinzipiell gern tue.

 

 
 

HILFE! 

Springer, Süddeutsche, Spiegel und SWR wollen mich aufkaufen! Hab ich jedenfalls irgendwo munkeln gehört. Man will mir wohl ein unablehnbares Angebot machen, von neunstelligen Summen ist die Rede, plus lebenslang frei futtern im Düsseldorfer „Sattgrün“. Ich aber will diese Seiten, dies bescheidene Sturmgeschütz der Gedankenfreiheit, unbedingt in publizistischer Selbstbestimmung weiterführen. Für Sie, liebe Leser, für euch, meine feingeistigen Freunde – für dich, du ferner Gratisempfänger am anderen Ende des Glasfaserkabels! Bis morgen, von mir aus auch bis Ende der Woche, sollten also zum Zeichen, dass die Leserschaft von dem brennenden Wunsche durchdrungen ist, zu verhindern, dass der Skribent Ludwig künftig Mainstreamtextchen für den meistbietenden Mediengiganten verfassen muss, ein paar opulente Obolusse auf diesem Konto einlaufen, aufkreuzen, antanzen oder sonstwie vorstellig werden: 

Marcus J. Ludwig

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 Hoffnungsfroh dankt im Voraus Ihr, Euer, Dein

MJL

 

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