MEIN AMERIKANISCHER VATER – Wenn ich mit einem gewissen Sachverständigkeits- und Intimitätsanspruch von diesen göttlich-psychologischen Dingen rede, dann deshalb, weil ich aus einem Hause stamme, in welchem dem amerikanischen Gotte gehuldigt wurde, wie wohl kaum irgendwo sonst. Ja, ich glaube – zumindest versuchsweise – behaupten zu dürfen, dass niemand hierzulande biographisch berufener ist, das deutsch-amerikanische Seelenwirrwarr spekulativ zu umkreisen, als ich. Meine Expertise verdankt sich folgenden Umständen: Erstens war ich niemals selbst in den USA, meine Fantasie ist also nie durch irgendwelche prosaische Empirie kontaminiert worden. Zweitens kenne ich jemanden, der dort gelebt hat. Drittens hat dieser Jemand – mein Vater – mich vom Tage meiner Geburt an in einem … wie soll man es nennen … in einem naiv-idealistischen Amerikanismus erzogen, der trotz aller Enttäuschungen Teil meines Weltfeelings geblieben ist. So wenig ich noch an den Gott glauben kann, den man mir anerzogen hat, so wenig glaube ich an das Amerika meines Vaters. Aber beide werden ganz sicher für den Rest meines Lebens durch mein Über-Ich und meine Tagträume geistern.
Mein Vater ging als sehr junger Mann 1955 nach Amerika. Er lebte dort zwölf Jahre lang und kam 1967 aus schwer rekonstruierbaren Familiengründen zurück. Er blieb dann als weitgehend entdeutschter Aus- und Rückwanderer für den Rest seines traurigen Lebens im Land seiner Väter. Er wurde selbst Vater, wurde mein Vater, leider kein besonders idealer Vater, aber wenn ich etwas Gutes über ihn sagen sollte, etwas, für das ich ihm dankbar sein kann, dann fallen mir zwei Dinge ein: dass er die Musik liebte wie nichts sonst auf der Welt – ich bin ziemlich sicher, dass es nicht allzu viele einfache Arbeiter in Großbäckereien gab, die in der Musikgeschichte von Bach bis Hindemith, von Telemann bis Orff derart bewandert waren, wie er es als Hörer und Genießer, als Sänger und Cellist war –, und dass er die Sehnsucht nach einem verlorenen Paradies, nach einem gelobten Land, nach Freiheit, Weite, Lebensreichtum verkörperte wie kein Romantiker vor oder nach ihm.
Seine Liebe zu Amerika war völlig unpolitisch, ich habe zu Hause nie ein Star-Spangled Banner gesehen, es war die reine Toren-Liebe zu den landschaftlichen Schönheiten, zu den technischen, lebensräumlichen Großartigkeiten, zu der offenen, optimistischen, furchtlosen Mentalität der Leute. Sein Amerika war das Land des real existierenden amerikanischen Traumes, und keine Wolke hat je diesen Himmel verdüstert. Er lebte auch dort drüben, in Seattle, ein eher bescheidenes Leben, er war Konditor in einem feinen Hotel, fuhr einen VW Käfer und bewohnte mit der Frau, die später meine Mutter werden sollte, ein kleines Apartment. Aber es war immer klar, vor allem im Nachhinein, im Vergleich mit dem Land, in das er zurückmusste, und das ihn zudem mit der Zeitenwende der späten Sechziger empfing – es war klar, dass Amerika das eigentliche, das echte und richtige Leben verkörperte. Und das Restleben in diesem alten, fremdgewordenen Heimatland, das war das falsche Leben.
Mir scheint, ich bin aufgewachsen in diesem Grundgefühl, in einem durch und durch falschen Land zu leben, und in dem Wissen, dass irgendwo da draußen noch etwas anderes ist, etwas Eigentliches und Richtiges. Aber man kommt einfach nicht hin.
Ich bin aufgewachsen mit der permanenten Grundfrage: „Was würden die Amerikaner dazu sagen?“ Ich erinnere mich mit Schrecken und lebendig gebliebener Kinderangst an die Momente, wenn in irgendeiner Fernsehshow ein amerikanischer Gast begrüßt wurde, und mein Vater vor Zorn und Scham schier vergehen wollte. Sich diese peinlichen Deutschen ansehen zu müssen, die einem Harry Belafonte oder einer Shirley MacLaine lauter dumme Fragen stellten, sich wie ungelenke Stoffel und rückständige Provinzler aufführten … das deutsche Gehabe vor den Repräsentanten Amerikas konnte nie anders als blamabel sein.
Und so ungerecht und verbittert mir als Kind mein undeutscher Vater vorkam, so angemessen und völlig zutreffend erscheint mir, je älter ich werde, seine Haltung: die Deutschen sind wirklich ein durch und durch peinliches Volk. Und sie werden immer peinlicher. Ob man sich vor dem heutigen Amerika noch schämen muss, ist allerdings eine andere Frage … die neue Welt hat ihre Göttlichkeit weitgehend eingebüßt und kommt als seliges Drüben, als divine Instanz von Souveränität und naivem Zukunftsmenschentum kaum mehr in Betracht. Die Großartigkeit ist in Fettleibigkeit umgeschlagen und die kosmetisch strahlenden Gebisse können echte Gesundheit und echtes Lebensunternehmertum längst nicht mehr glaubhaft vortäuschen.
War mein Vater ein Deutschlandhasser, ein Selbsthasser, ein „Nationalmasochist“? Ich glaube, er hatte – ohne je eine Silbe philosophischer Selbstbespiegelung, deutscher Selbstkritik, nationaler Identitätsdebatten gelesen zu haben – einfach ein klares Empfinden dafür, dass mit seinem Vaterland etwas nicht stimmte. Die Jahre in Amerika hatten ihn gelehrt, wie anders die Welt sich anfühlen kann, wenn man als selbstbewusste Nation frisch und rücksichtslos hineingreift ins Leben, ohne je danach zu fragen, wozu man irgendein Recht hat. Man war Amerika, man hatte zu allem das Recht, man war zu allem stark und siegesgewiss genug, man war nur Einem Rechenschaft schuldig, und der meinte es gut mit seinem, mit God’s own country.
Deutschland dagegen hatte zu gar nichts irgendein Recht, es hatte jedes Recht verloren, es bedurfte der Gnade, und man war ihm ja gnädig gewesen, indem man es am Leben gelassen hatte, trotz allem, was es getan hatte und was es dafür verdient gehabt hätte. Mein Vater hatte keine eigene Erinnerung daran, dass Deutschland einmal mehr gewesen war als ein begnadigtes Verbrecherland, dass es einmal viel großartiger und schöner und bedeutender gewesen war als das dumme göttliche Kinderland auf der andern Seite des Planeten, wo man Maiskolben aß und Marlboro-Zigaretten rauchte. Woher hätte er das auch wissen sollen? Die Tradition war abgerissen, die Kultur war abgestorben, man hätte lesen müssen, forschen und rekonstruieren, man hätte sich selbst gegen die herrschende Unkultur erziehen müssen, um sich zum Deutschen zu bilden. Und daran hat sich bis heute nichts geändert. Wer Deutscher werden will, wird das nur gegen sein Volk, gegen seine Nachkriegs-Vorfahren, gegen seine Zeitgenossen. Deutscher werden heißt: sich desintegrieren.
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NATIONALNARZISSMUS – Martin Lichtmesz karrt diverse historisch-semantische Scheinwerfer heran, um den Begriff „Nationalmasochismus“ plausibel auszuleuchten. Der Nationalmasochismus verhalte sich nach Armin Mohler, der als Schöpfer des Wortes anzusehen sei, komplementär zum Nationalsozialismus, sei das seitenverkehrte Extrem zu dessen Chauvinismus und Sadismus, könne als dessen stilgleiche Kehrseite angesehen werden, er verkörpere ein Sendungsbewusstsein, einen negativen Messianismus, ähnele dem jüdischen Selbsthass.
Also, seien wir mal etwas penibel: Ist der Nationalmasochismus ein Messianismus? Eine negative Version des Nationalsozialismus? Und wäre der Nationalsozialismus dann ein positiver Messianismus? Das Spiel mit Gegenbegriffen und Negativmetaphern schafft zwar, ähnlich dem Trockeneisnebel in der Disco, eine atmosphärische Stimmung, aber wir wollen ja eigentlich das Gewölk ein wenig lichten. Wovon könnte der Nationalmasochismus das Gegenteil, die Kehrseite, das Komplement sein? Doch wohl nur von einem Nationalsadismus. Ist Nationalsozialismus aber gleich Nationalsadismus? Wohl nur in einem sehr plakativen Sinn. Einzelne Nazis mögen Sadisten gewesen sein, aber darum taugt das Wort ja noch nicht als Metapher für die politische Psychologie einer Nation.
Das Problem ist, dass das Wort Nationalsozialismus ja schon längst nicht mehr das bedeutet, was es besagt. Man denkt dabei ja nicht mehr an irgendwelche sozialistischen Theorien, sondern an den Inbegriff von Diktatur, an Führerkult und Riefenstahlsche Monumentalperspektiven, an Kriegsbegeisterung, Massenmord, Menschheitsverbrechen. Nähme man das Wort beim Wort, so wäre sein Antonym eher etwas wie Nationalkapitalismus oder Nationalliberalismus, also irgendein politisch-ökonomisches Etikett, aber jedenfalls keine sexuelle Perversion wie Masochismus. Der Bezug zum Nationalsozialismus kommt nur dadurch mit einer gefühlten Folgerichtigkeit zustande, dass man auf sein wesentliches semantisches Merkmal referiert. Man übersetzt Nationalsozialismus innerlich simultan zu etwas wie: „maximal übersteigerter Nationalismus, hysterische Liebe zum Vaterland, krankhaft libidinöse Besetzung des eigenen Volkes, Selbstvergötzung, Größenwahn“.
Hypernationalismus könnte man das Ganze also nennen. Und sein Gegenteil wäre dann etwas wie Nationalnihilismus? Aber auch das befriedigt noch nicht, denn Nationalismus und Nihilismus sind politische bzw. philosophische Begriffe, und wir suchen hier nach einer psychologischen Wahrheit.
Die krankhaft übersteigerte Selbstliebe ist im allgemeinen Sprachgebrauch etabliert unter der Mythometapher vom Narzissmus. Das, was man am Nationalsozialismus gemeinhin als das Typische, als seinen psychologischen – oder psychopathischen – Wesenskern empfindet, das ist der Nationalnarzissmus.
Wenn wir Deutschlands gegenwärtige mentale Störung als die übertriebene Reaktion auf die geistig-seelischen Ausschreitungen des Nationalsozialismus begreifen wollen, dann müssen wir nach dem Gegenteil, der Kehrseite, dem Komplement des Nationalnarzissmus suchen.
Und was wäre das Gegenteil von Nationalnarzissmus? Nun, es ist der – Nationalnarzissmus.
Deutschlands Problem ist seine Persönlichkeitsstörung, früher hätte man gesagt: Charakterneurose. Dieser Charakter ist ein narzisstisch gestörter, das heißt, sein Selbstwertgefühl, seine Selbstsicherheit, seine Selbstliebe ist zutiefst instabil, schwankend, kippend von einem Extrem ins andere. Die Ambivalenz, die Bipolarität ist dem Begriff (und der Sache) inhärent.
Deutschland ist bipolar. Das, was bei den affektiven Störungen als manisch-depressiv bezeichnet wird, kann man bei den narzisstischen Störungen als Polarität von Grandiosität und Inferiorität, von Selbstherrlichkeit und Vulnerabilität wiederfinden. Hier geht es sekundär-reaktiv auch um Stimmungsschwankungen zwischen freudig und traurig, zuversichtlich versus niedergeschlagen, „himmelhoch jauchzend“ versus „zu Tode betrübt“, im Kern aber um die Dimensionen Stolz und Scham, sowie Selbstliebe und Selbsthass.
Das ist die narzisstische Bipolarität, und Deutschland verkörpert sie wie keine andere Nation auf der Welt. Deutschland pendelt zwischen zwei Polen des narzisstischen Kontinuums. Es findet keine realistische Mitte zwischen Selbstvergötzung und Selbstdämonisierung, zwischen Größenwahn und Zerknirschung, zwischen „Deutschland über alles“ und resignierter Totalentwertung. Immer ist alles falsch und unglaubwürdig an seiner Selbstdarstellung. Vielleicht weil es für dieses Land tatsächlich keine realistische Mitte gibt?
Vielleicht ist Deutschland ein unheilbarer narzisstischer Pflegefall, dem allenfalls zu helfen wäre, wenn er seine Gestörtheit annähme. Wenn er aufhörte damit, sich zwanghaft irgendeine Normalität einreden zu wollen. Beruht denn die Ambivalenz im Selbstbild, im Selbstgefühl nicht vielleicht auf einer echten Zweiheit, einer Zwiespältigkeit der Person, die das Deutsche seit jeher ausmacht? Wenn nicht seit jeher, so doch mindestens seit den Tagen des Doktor Faustus?
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KAMPF GEGEN RECHTS – Michael Ley sieht im proislamischen Multikulturalismus die vorherrschende politische Religion unserer Zeit. „Die islamischen Invasoren sind die neuen Erlöser, die durch eine schöpferische Zerstörung Europa zivilisatorisch regenerieren: Mit dieser Utopie steigern sich die Multikulturalisten in den religiösen Wahn einer postmodernen Apokalypse, die die indigenen Europäer von ihrer Schuld und ihrem tiefen ethischen Fall befreien soll.“ (S. 39) „Die schuldbeladenen europäischen Masochisten [glauben] an den Muslimen Sühne für den Holocaust und die vielfältigen Opfer des Kolonialismus […] leisten zu können.“ (S. 34)
Da ist zweifellos was Wahres dran, aber das eigentliche religiöse Substrat liegt meines Erachtens noch eine Schicht darunter. Mir scheint, der Multikulturalismus ist nur die verstiegene Ideologie einer verhältnismäßig kleinen Sekte radikaler politischer Sonderlinge, welche allerdings derzeit ungefähr identisch mit den oberen, das heißt medial tonangebenden, Zehntausend ist. Zu denen gesellen sich noch die unteren Zehntausend, die Antifa-Fußtruppen, die den öffentlichen Raum mittlerweile großflächig ideologisch durchdesignt haben. Man unterschätze nicht die Tiefenwirkung dieser weltanschaulichen Überschreibung der Alltagswelt: Man kann ja buchstäblich keinen Schritt tun, ohne mit der herrschenden linksextremen Ideologie behelligt zu werden. Jeder Stromkasten, jeder Laternenmast, jede Hauswand, jeder Brückenpfeiler, jedes Straßenschild, jede Haltestelle ist im Sinne der Herrschenden beschriftet, besprayt, propagandistisch in Besitz genommen. Da, wo ich lebe, und das ist ungefähr linksdeutscher Durchschnitt, wird jedem, der das Haus verlässt, unmissverständlich klargemacht, wie es mit der geistigen Machtverteilung aussieht. Dass die subliminale Indoktrinierung mit Zustimmung der Politik geschieht, versteht sich von selbst.[5] Dass jemals irgendeine Parole von irgendeiner Wand entfernt würde und der extremistische Sprayer ein paar Jahre in den Knast wandern würde, ist ausgeschlossen. – Übrigens habe ich in meiner Umgebung noch nie ein einziges Zeichen von Rechtsextremismus gefunden. Wenn ich mal einen Tag in meiner Stadt herumwandern würde, um nachzuzählen, würde ich locker auf zehntausende linksextreme Graffiti kommen. Hakenkreuze oder „Ausländer-raus“-Sprüche dagegen sind schlechterdings unauffindbar.
Der antideutsche Multikulturalismus ist ein Projekt, das von einer primitivmoralischen Subkultur wahnhaft-nachträglicher NS-Widerstandskämpfer bis hin zur Spitzenpolitik getragen wird. Wir haben es mit Ministern zu tun, die wegen Auschwitz in die Politik gegangen sind und mit zivilgesellschaftlichen Zeichensetzern, die wegen Auschwitz Autos abfackeln und auf Twitter feiern, wenn AfD-Politikerinnen an Krebs sterben. Die Masse nimmt dergleichen hin wie eine unabänderliche Naturgewalt.
Was die Masse aber nicht nur hinnimmt, sondern wovon sie religiös durchdrungen ist, woran sie zutiefst glaubt, und zwar so sehr, dass sie nicht mehr in der Lage und schon gar nicht willens ist, kritische Fragen diesbezüglich in sich zuzulassen, das ist der Kampf gegen Rechts. Dieser Kampf gegen Rechts ist die Sammlungsbewegung der religiösen Restenergien, die in unserer Zivilisation noch so herumflottieren. Niemand (außer den Rechten und ein paar unverortbaren Freigeistern) hat heute einen ernsthaften Glaubenszweifel daran, dass dies die gute Sache ist, für die man sich engagieren muss, für die man moralische Belohnung erwarten darf, für die man in der Gemeinde Anerkennung und Aufnahme finden wird. Wer hingegen das Bekenntnis gegen Rechts verweigert, muss mit ähnlicher Beargwöhnung leben wie ehedem der Ungetaufte.
Die Sicherheit, die Hemmungslosigkeit, die von ganz oben sich beauftragt wissende Begeisterung, mit der in deutschen Parlamenten auf Vertreter rechter Positionen eingedroschen wird, ist für den areligiösen Beobachter wahrhaft atemberaubend. Von Linkspartei bis CSU hegt ersichtlich niemand die geringste Skepsis daran, dass es richtig und gut und geboten ist, die Ketzer mit Hass, Verachtung, Schmähung, Verleumdung, Beleidigung, Verwünschung zu überziehen. Und hier sind die Volksvertretungen zur Abwechslung mal wirklich repräsentativ, denn wenn man sich die tausenden von Initiativen gegen Rechts vor Augen hält, die mittlerweile mehr Mitglieder und mehr Engagement vorweisen können als die christlichen Kirchen, dann wird klar, dass hier eine Zivilreligion entstanden ist, die an Volksfrömmigkeit den früheren Abergläubereien in nichts nachsteht: Kirche gegen Rechts, Gewerkschaften gegen Rechts, Grüne gegen Rechts, Omas gegen Rechts, Fußballvereine gegen Rechts, Berlin gegen Rechts, Rheinhessen gegen Rechts, Aktiv gegen Rechts, Jung gegen Rechts, Anwohner*innen gegen Rechts, Eltern gegen Rechts, Löwen-Fans gegen Rechts, Kultur gegen Rechts, Verlage gegen Rechts, Satire gegen Rechts, Yogis gegen Rechts, Wissenschaftler/innen gegen Rechts, Linz gegen Rechts, Links gegen Rechts, Recht gegen Rechts, Rock gegen Rechts – alles echt, und nur ein winziger Ausschnitt aus dem Spektrum der zeitgenössischen Kampfkirchen.
So lächerlich das alles anmutet – es ist Religion, und die Religion gibt dem Menschen mentalen Halt in einem unbezweifelbaren Hintergrund des Seins. Eine Religion muss nicht spirituell sein, sie muss nur Gewissheit garantieren und den Menschen in etwas Größeres, etwas grandios Sinnhaftes einbinden. Dieses Große bietet heute, da die Wissenschaft alles ehemals Übersinnliche und Transzendente weitgehend wegrationalisiert hat, beinahe nur noch die Moral. Sie verspricht dem abendländischen Menschen der Spätzeit, dem das Leben nichts mehr zu bieten hat außer Konsumgütern, einen Rest an metaphysischem Mehrwert, bestehe er auch nur in einer imaginären Überlegenheit in einem fantastischen Kampf gegen Phantome und Dämonen. Was für den säkularisierten Christen ja nichts Neues ist: Im Zentrum seines Glaubens stand immer schon die Hölle, nicht der Himmel. Gottes Existenz war immer ungewiss, bedurfte immer der wortreichen Beschwörung und des autosuggestiven Gebets, aber an der Realität des Teufels, an der ganz konkreten Anfassbarkeit des Satans, hat kein echter Christ je gezweifelt.
Ein konstitutiver Unterschied zwischen Links und Rechts besteht darin, dass der Linke seinen Religionsersatz in den Sujets der Ethik findet, der Rechte dagegen in denen der Ästhetik (weshalb übrigens Wagner – trotz aller Revolutionstheatralik – eben kein Linker ist und mit seiner Erlösungskunst stets vor allem Rechte angezogen hat). Der gottlose Linke kämpft gegen das Böse, der Rechte gegen das Hässliche. Beides ist legitim, ja begrüßenswert. Das Problem ist, dass der Linke – der heutige Wellness-Linke zumindest – viel zu feige ist, gegen das wirkliche Böse zu kämpfen. Und dass der Rechte meist zu faul ist, sich darüber klar zu werden, wogegen er zu kämpfen hätte. Vielleicht ist er auch ein bisschen zu dumm.
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EX OCCIDENTE LUX – Ist diese Sache, ist dieser Nationalmasochismus nun eigentlich eine nationale Sache? Oder vielleicht eine ethnische, gar eine rassische? Oder eher eine mentale, ideologische, zivilisations- und kulturräumliche? Handelt es sich um ein Problem der Deutschen? Oder der Weißen? Oder des Westens? Des christlichen Abendlands? Des aufgeklärten Europas? Ein Problem der Auflösung alter religiöser Sinngeflechte und deren notdürftig-stümperhafter Reparatur mittels linker, vulgärethischer Ideologeme?
Nun, wenngleich Deutschland zweifellos der schwierigste Patient in der Therapiegruppe der narzisstisch Gestörten ist, so wäre die Reduktion auf ein nationales Problem doch nicht angebracht. Das deutsche Problem ist das europäische Problem: der Untergang des Abendlandes, das Absterben einer alternden Kultur.
Mit David Engels bin ich der Meinung, dass diese Entwicklung zwar kaum abzuwenden sein wird, dass man sie aber sehr wohl gestalten kann. Man muss das Elend nicht politisch beschleunigen und in Katastrophen ausarten lassen. Eine weniger idiotische Politik könnte Europa durchaus zu einem langen Alter in Pracht und Würde verhelfen, ein paar ertragreiche Jahrhunderte wären gewiss noch drin.[6]
Gegen David Engels bin ich jedoch der Meinung, dass eine Rückbesinnung auf das Christentum weder nötig noch wünschenswert ist. Das Alleinstellungsmerkmal des Abendlandes, Europas exklusive Weltgeschichtsbesonderheit ist nicht das Christentum – das ist eine Religion unter anderen, wenngleich eine sehr besondere Religion –, nein, es ist die Aufklärung. Und zwar nicht erst jene Aufklärung, die in den Schulbüchern von Lessing und Kant repräsentiert wird, sondern schon jene Vernunft- und Diesseitsorientierung, die spätestens die Renaissance auszeichnet, die aber auch dem „dunklen“ Mittelalter Anselms und Abaillards nicht fremd ist, und der aristotelischen Antike schon gar nicht. Europa, das ist ja gerade die dialektische Wundergeschichte von Rationalität und Glauben, von Aufklärung und Gegenaufklärung über zweieinhalbtausend Jahre.
Nun allerdings, da das Christentum unwiderruflich tot ist, bleibt nur die Aufklärung, die Vernunft, das Diesseits. Und alles, was sich anschickt, an die Stelle des alten Christenglaubens zu treten, muss aufs Schärfste bekämpft werden. Alles, was heute die freigewordene Position des Irrationalismus auszufüllen unternimmt, wird gefährlicher sein, als es das Christentum je war.
Natürlich hat das Christentum, die Christenkultur, die Christenmentalität unsern Kontinent maßgeblich zu der einzigartigen Blüte hinaufgetrieben, die wir rückblickend bewundern können. Dürer, Luther, Bach, Rom, Prag, Mont Saint Michel, Artus, Parsifal, Klosterfrau Melissengeist … alles undenkbar ohne den Glauben an den ewigen Frieden in Gottes Himmelreich und die Angst vor der Hölle. Kein Abendland ohne Engel und Dämonen, ohne die Allgegenwart der Heiligen und der bösen Geister.
Uns Europäer verbindet nicht das Christentum als solches, aber alles, was sich an Kultur auf dieser christlichen Grundierung entwickelt hat über die Jahrhunderte. Unsere Stadtkulturen sind deutlich verschieden, sind regional ausdifferenziert, aber in jeder Stadt stehen Kirchen und Rathäuser, jede Stadt war von einer Mauer umgeben und von einer Burg überthront, unsere Kunst war christliche Kunst, unser Gott, ob wir an ihn glaubten oder nicht, ob wir ihm dienten oder ihn bekämpften, war der Christengott, noch die Kriege, die wir gegeneinander, untereinander, miteinander geführt haben über die Jahrhunderte, sie einen uns rückblickend eher, als dass sie uns trennen.
Wir können aber an Europa als Christenheit nicht mehr glauben, aus guten Gründen. Sie heißen: Kritische Vernunft, Tiefenpsychologie, Rationalismus, Realismus. Aus diesen Gründen kann es ein echtes, naiv empfundenes und widerspruchsfrei gedachtes Abendland kaum mehr geben. Wir können es nur noch als Mythos und Geschichte vom goldenen Zeitalter ernstnehmen.
Unser einziges Zukunfts-Europa liegt in der Kultur der Aufklärung. Wir verlangen Logik, Forschung und Evidenz. Wir verlangen Falsifizierbarkeit und Misstrauen. Wir verlangen Vernunft und begründete Urteile. Wir verlangen echte Öffentlichkeit und die Anerkennung des besseren Arguments. Rationalismus, Skeptizismus, Realismus, Universalismus. Sehen, was ist. Beraten, was gilt. Wählen, was sein soll. Und, trotz allem: Träumen, was sein könnte. Keine Aufklärung ohne Romantik. Kein Mittag je, der nicht umschlagen müsste in Finsternis. Kein azurner Süden und keine Sonnenhöhe, die nicht Tag für Tag über den Horizont kippte in kalte, uralte Kinderangst und schwärzliche Märchensehnsucht. Keine Klarsicht und lebensbürgerliche Gefasstheit ohne das dunkle Verlangen nach Überschreiten des Verbotenen. Homo Sapiens und Zoon Eroticon, Kants Kritiken und Wagners Exzesse der Nachtgeweihtheit – man kann nicht nur eines davon haben, jedenfalls nicht in Europa.
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AKKULTURATION – Wer Deutscher werden will, müsse sich desintegrieren, sagte ich? Das gilt natürlich nur für Biodeutsche, die Kulturdeutsche werden wollen. Was wahrscheinlich nur ein paar Handvoll an Sonderlingen betrifft.
Wer deutscher Staatsbürger werden will, soll sich dagegen integrieren, so hört man. Aber was soll das eigentlich heißen? „Integrieren“ lässt sich ja alles Mögliche. Wenn das Fremde zum Eigenen werden soll, braucht es mehr. Der menschliche Körper kann auch Granatsplitter und steckengebliebene Gewehrkugeln „integrieren“. Aber so ein Geschoss wird nie zu einem funktionsfähigen Organ. Es bleibt ein Fremdkörper.
Wenn Ausländer Deutsche werden sollen, bräuchte es nicht Integration oder Inklusion, auch keine äußerliche Assimilation, sondern echte Akkulturation. Dafür wäre allerdings eine lebendige deutsche Kultur erforderlich. Dass eine solche (noch) existiert, müssen wir jedoch – trotz aller Aversion gegen teutonophobisch-özoguzoides Kulturleugnertum – durchaus ernstlich bezweifeln.[7] Denn das Deutsche existiert vielleicht noch irgendwo im Geheimen und Verborgenen, in privaten Kulturreservaten und mentalen Zeitkapseln umerziehungsresistenter Thomas-Mann-Thinkalikes, aber dass es noch einmal zu offensiver, naiv-selbstbewusster Vitalität erwachen und die natürliche Überzeugungskraft zur freundlichen Vereinnahmung, zur assimilatorischen Begeisterung, zur ungezwungen-selbstverständlichen Eindeutschung des Fremden entwickeln sollte, das scheint nach allen Erfahrungen der letzten Jahre und Jahrzehnte ungefähr so ausgeschlossen wie die Vorstellung, Hamed Abdel-Samad – ein Mann, der das Deutsche bestimmt reiner repräsentiert als unsere indigene Berliner Berufspolitiker-Bagage – könnte irgendwann einmal zum Bundespräsidenten gewählt werden.
Dieser sozialdemokratische Irrglaube, Menschen könnten durch staatliche Maßnahmen integriert werden … Projekte, Instrumente, Gelder, Kurse, Ämter, Stellen, Gesetze, Steuerungsmechanismen, Institutionen und Strukturen, Schulungen und Bescheinigungen, Tools aus dem Werkzeugkasten des gesellschaftskonstruktivistischen Utopismus.
Fremde müssen nicht integriert werden. Sie müssen sich integrieren. Und zwar nicht in den Staat, auch nicht in die Gesellschaft, sondern in die Kultur. Sie müssen sich akkulturieren. Dazu braucht es keinerlei staatliche Maßnahmen, man muss nur den natürlichen Druck und Zug, den eine starke Kultur immer ausübt, wirken lassen. Da Deutschland keine starke Kultur mehr hat, seine identitären Restbestände vielmehr bis zur Unkenntlichkeit ausgedünnt hat, ist es als Einwanderungsland denkbarst ungeeignet. Das heutige Deutschland ist ein Bevölkerungsgebiet ohne Anspruch und Bedeutung. Es gibt in diesem Land nichts, was man wissen und können müsste, um zurechtzukommen. Keine Kulturtechniken, die über rudimentäre Lesefähigkeit hinausgingen. Wer nicht zu blöd ist, an einer Supermarktkasse einen 50-Euro-Schein aus dem Portemonnaie zu ziehen und ihn der Kassiererin zu überreichen, wird in diesem Land keine Probleme bekommen.
Deutschland ist eine konsumistische, mit leeren Werthülsen dekorierte Zivilisation. Eine solches gefühl- und bedeutungsloses Sozialgebilde kann Fremdes höchstens unschädlich machen, aber keine Bereicherung, keine Befruchtung und Fermentation erlangen aus dem Neuen, das da auf der Matte steht und Einlass begehrt. Es ist rein auf Funktion ausgerichtet, ein Mehrwert im Sinne von Daseinssteigerung, Lebensfeier, Vermenschlichung, Vergemeinschaftung, Gesundung, Verschönerung, Aufwärtsentwicklung ist außerhalb seiner Zielvorstellungen, schon weil es gar kein Ziel kennt außer seiner formalen Erhaltung. Erhaltung im Sinne von Krisenbewältigung und Katastrophenminimierung.
Unsere Zeit gleicht nur deshalb einer Dauerkrise, weil sich Politiker und Medienmenschen keinen anderen Daseinssinn mehr vorstellen können, als eben Krisen zu managen. „Wenn man nur einen Hammer im Werkzeugkasten hat, erscheint einem jedes Problem wie ein Nagel“ (Watzlawick?). Genau. Und wenn man nur Angsthasen und Managertypen in Regierungen und Redaktionen hat, erscheint einem die ganze Gegenwart eben wie eine Krise.
Fortsetzung folgt …
[5] Der Chef der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands, Lars Klingbeil, bekannte neulich einem schwer beeindruckten Giovanni di Lorenzo, er sei ein großer Fan von Rage against the machine. Nun, ich bin gewiss ein ebenso großer Fan von RATM, aber ich würde einen wie mich niemals zum SPD-Vorsitzenden wählen. Ist einfach eine Stilfrage. Ich finde, jemand, der in der Nachfolge von August Bebel, Kurt Schuhmacher und Thorsten Schäfer-Gümbel steht, sollte besser Fan von Händel und Haydn sein. Ich will einfach nicht, dass unser Land von Leuten geführt wird, die schwitzend und pogend die Fäuste recken und dabei Fuck you, I won’t do what ya tell me! grölen.
[6] Interessantes Gespräch mit David Engels: https://www.youtube.com/watch?v=m3x96pBkT48
[7] Zur Erinnerung: Aydan Özoguz hatte 2017 als damalige Integrationsbeauftragte der Bundesregierung konstatiert: „Eine spezifisch deutsche Kultur ist, jenseits der Sprache, schlicht nicht identifizierbar“.
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