Kriegsziel Gerechtigkeit?

Nach einem Jahr und hunderttausenden Toten habe ich noch immer keine stabile Meinung zum Ukraine-Krieg. Aber ein paar Fragen haben sich angesammelt, eine ganze Menge kniffliger Fragen, gerichtet vor allem an jene Moralkriegerinnen (es scheinen seltsamerweise tatsächlich mehr Frauen als Männer zu sein), die sich ihrer Sache so erstaunlich sicher sind. Fragen zum Verhältnis von Krieg und Moral, zum Problem der Durchsetzung des Völkerrechts ohne planetarische Polizei, zur Kunst des Weiterlebens mit ungerechten Kompromissen und insbesondere zur Technik des Jonglierens mit unkalkulierbaren Atomkriegsrisiken.

Ein paar Bekenntnisse vorweg: Ja, mir wäre es wohl auch am liebsten, wenn die Ukrainer diesen unsäglichen Scheißkrieg für sich entscheiden könnten, wenn sie die Truppen des Aggressors möglichst filmreif mit bloßen Fäusten und wehenden Freiheitsflaggen hinter die völkerrechtswidrig überschrittenen Grenzen zurückschlügen; wenn daraufhin das russische Volk, angeführt von Soldatenmüttern und Rachegöttinnen, abrechnete mit jenem Herrn, der diesen Abenteuerausflug in die Weltgeschichte der Barbarei zu verantworten hat, und mit allen, die ihm bei seiner „Spezialoperation“ zur Hand gingen in Worten und Werken. Wenn es abrechnete auf jede erdenkliche Art und Weise, die einem traditionell so einfällt als verarschtem und verführtem und schließlich an den Widerständen der Wirklichkeit gescheitertem Volk. Waltete der Mob seines klassischen Amtes, ich würde mir ein angedeutetes Aufatmen wohl nicht verkneifen.

Und ja, die Tapferkeit der Ukrainer verdient höchsten Respekt, ich hege herzliche Sympathie für solche Patrioten, die bedingungslos um das Ureigenste kämpfen, Menschen, die noch für den letzten Quadratmeter zerbombten Heimatbodens ihr Leben zu opfern bereit sind, die jeden Kompromiss mit Empörungsgebrüll zurückweisen, und lieber die ganze Welt mit in den atomaren Abgrund reißen würden, als dem Botoxjunkie im Kreml auch nur den winzigsten Teiltriumph zuzugestehen. Ich kann mich problemlos hineinfantasieren in dieses Braveheart-Pathos, diese sentimentale Sturheit, die einen unerbittlich dazu zwingt, sich eher bei lebendigem Leibe die Eingeweide herauswühlen zu lassen, als vor den Schändern der Freiheit zu winseln. [1]

Ja, beziehungsweise nein, ich kann mir beim besten Willen und bei allen Anhaltspunkten für eine ehedem vielleicht vorhandene politische Rationalität diesen heutigen Putin kaum anders denn als Psychopathen vorstellen; selbst wenn ich alle westliche Verteufelungspropaganda abrechne, sehe ich immer noch ein kosmetisch aufgeschwollenes Gesicht, das einen heillos entstellten Charakter mehr offenbart als maskiert; ich sehe einen absurden Tisch, an dem ein Machtmensch seine Besucher Platz zu nehmen nötigt, ohne offenbar zu merken, wie lächerlich er sich selbst damit macht; ich sehe einen narzisstisch entgleisten Geschichtsbuchaspiranten, der sich entschieden hat, die Restenergien seines Lebens in ein rücksichtloses Selbstverewigungsprojekt zu investieren.

Russlands Sicherheitsinteressen, die unglaubwürdig dämliche NATO-Osterweiterung, geopolitische Machttektonik, all das mag auch eine Rolle spielen in der Großhirnrinde des Wladimir Wladimirowitsch, aber es bedarf keines übermenschlichen psychologischen Sachverstands, um mindestens hypothetisch zu konstatieren, dass solche Motive den Charakter von Rationalisierungen tragen – Argumente, vermeintliche Sachzwänge, Kausalketten, die verstandesgemäße Folgerichtigkeit vorgaukeln, wo eigentlich irrational-imperialistische Größen- und Wiedererstarkungswünsche träumerisch das Zepter führen.

Und ja, um auch das noch zuzugeben: Mir behagt „der Russe“ als Typus insgesamt auch nicht so sonderlich. Vielleicht sind es die fünfzig Jahre tiefenwirksamer Charakterwäsche durch Hollywood, vielleicht ist es meine Familiengeschichte, vielleicht meine ästhetische Überempfindlichkeit und mein Hang zu einer etwas grenzwissenschaftlich-spekulativen Physiognomik, aber … nee, ich weiß auch nicht, irgendwie ist mir alles Russische nicht recht geheuer. Mir fallen zig Gründe ein, warum man Russland nicht zu Europa rechnen sollte, aber nur sehr wenige, warum es vielleicht doch dazu gehören könnte. Ich weiß, Amerika als Mentalität und Kulturcharakter ist mindestens so fragwürdig wie Russland, aber die amerikanische Art der Durchgeknalltheit steht mir einfach wesentlich näher. Meine Beziehung zu den USA ist mit einem Wort benannt: Hassliebe. Oder vielleicht wäre „Trauerliebe“ das treffendere Wort, oder noch schnulziger: Melancholiebe (Allmächtiger!, ich sollte das streichen, aber mein transatlantisches Über-Ich zwingt mich, es stehen zu lassen!). Meine Beziehung zu Russland hingegen ist … im Grunde gar nicht vorhanden, das einzige passende Wort dafür wäre: Fremdheit. Wenn es zu einem Atomkrieg kommt, und der liebe Gott mich im Halbschlaf um mein Votum bittet, worauf ich eher verzichten kann, dann würde es wohl auf Russland hinauslaufen, mein dummes Kinderherz schlägt nun mal für the land of the free, in Ewigkeit. Amen.

So. So weit meine präponierten Geständnisse und Selbstbezichtigungen. Ich hätte, wie man sieht, meine Gründe, in den Chor deutscher Eskalationsfreunde einzustimmen. „Russland muss verlieren, mit Kriegsverbrechern verhandelt man nicht, die Ukraine verteidigt unsere Freiheit in diesem verbrecherischen, völkerrechtswidrigen Angriffskrieg, der KGB-Psycho hat die Gaspipeline gesprengt, um den Westen zu spalten, Wagenknecht und Co. machen sich zu Putins nützlichen Idioten oder willigen Gehilfen“, und was man noch so alles von Baerbock, Kiesewetter, Strack-Zimmermann und ähnlich wertegeleiteten Waffenlieferanten gewohnt ist.

Aber: Es gibt oberhalb der Impulse und Reflexe und der ästhetischen Prägungen noch etwas anderes, es gibt über der hochherzigen Achtklässler-Moral, die um jeden Preis verhindern will, dass das Böse und Hässliche gewinnt, auch noch eine Ebene ethischer Skepsis und utilitaristischer Unsicherheit, auf der sich die Dinge etwas anders darstellen. Mir jedenfalls. Nämlich ungefähr so:

Was wir, der Westen, Deutschland bezüglich dieses Krieges zu tun und zu lassen haben, ist eine Frage, die sich nicht mit den Mitteln der Alltagsmoral oder des Bürgerlichen Gesetzbuches beantworten lässt. Es wurden während des vergangenen ersten Kriegsjahres diverse Analogien bemüht, die irgendwie beweisen sollten, dass es unsere Pflicht sei, der Ukraine bedingungslos beizustehen und dass es keinerlei Kompromisslösung in diesem Konflikt geben könne. Die (meiner subjektiv-ungenauen Zählung nach) beliebtesten Argumentationsfiguren waren a) das Überfall-im-Park-Argument und b) das Gartenzaun-Verschiebungs-Argument, deren diverse Spielarten sich in etwa so zusammenfassen lassen:
a) Wenn ich mitbekomme, wie eine Frau im Park überfallen wird, dann bin ich verpflichtet, einzugreifen. Wenn ich das – aus welchen Gründen auch immer – nicht kann (weil ich mich selbst gerade irgendwie zu schlapp fühle oder an Krücken gehe oder was auch immer), dann muss ich dem Opfer zumindest mein Pfefferspray überlassen, damit es sich selbst besser verteidigen kann. Keinesfalls aber kann ich einfach zusehen und mich mit Appellen begnügen oder den Aggressor mit einem Kompromissangebot beschwichtigen, etwa dergestalt, dass er die Frau vielleicht doch wenigstens ein bisschen vergewaltigen darf.
b) Wenn ich mitbekomme, wie mein Nachbar eines Tages plötzlich den Gartenzaun um drei Meter versetzt und damit Anspruch auf einen Teil meines Grundstücks erhebt, dann werde ich das doch nicht einfach hinnehmen oder ihn bitten, sich freundlicherweise mit zwei Metern zu begnügen. Ich werde mich ja wohl gerichtlich zur Wehr setzen, den übergriffigen Anrainer wegen Hausfriedensbruchs oder irgendeines verletzten BGB-Paragraphen verklagen, und nicht einfach kleinbeigeben, auch nicht, wenn der Finsterling 2,20 m misst und aussieht wie Olivia Jones. Wir leben schließlich in einem Rechtsstaat!
So. Wenn ich aber nun zugebe, dass ich in diesen Fällen auf Basis dieser und jener ethischen oder rechtlichen Prinzipien so und so zu handeln gezwungen bin, ja, dann muss ich das doch mit Blick auf die größere politische Ebene genau so sehen! Was für das Miteinander und Gegeneinander einzelner Personen, einzelner Bürger gilt, das lässt sich doch ersichtlich auch auf politische Akteure übertragen. Moralische Skalierung, sozusagen, versteht doch jedes Kind!

Nun, es mag befremdlich anmuten, sich mit ethischen Fragen auf diesem Niveau überhaupt auseinandersetzen zu sollen, aber ich fürchte, dies ist eben genau das Niveau, auf dem die handelnden Akteure – zumindest in Deutschland – ihre Entscheidungen treffen und damit möglicherweise Weltgeschichte schreiben, beziehungsweise das Ende derselben. Ich erinnere daran, dass wir uns eine Außenministerin leisten, die schon mal gern, ganz en passant, Deutschlands Kriegseintritt verkündet. Der Frau, die aus dem Völkerrecht kam, ist erwiesenermaßen kein Geplapper zu vorlaut und keine Moral zu kindisch. Ich erinnere an eine Bundestagsvizepräsidentin, die sich darin gefällt, Kampfpanzerlieferungen mit Poesiealbumsprüchen zu feiern („The Leopard’s freed!“), als ginge es um eine Wagenladung Plüschtiere. Ich erinnere an einen CDU-Außenausschuss-Obmann, der nicht müde wird, herumzuposaunen, „Russland müsse lernen zu verlieren“ – Außenpolitik als pädagogisches Projekt für schwererziehbare Staaten.

Aber auch wenn die Welt aus Sicht von Erwachsenen und Realisten weder ein Rechtsstaat noch eine Wertegemeinschaft noch ein Kindergarten ist, bleibt natürlich die Frage: Was sollen wir tun? Sollen wir überhaupt etwas tun? Welche Art von Ethik ist hier anzuwenden?
Also, ich bin kein Hardcore-Utilitarist, aber wo man schon mal mit zerstörten Menschenleben und Toten zu rechnen gezwungen ist, da gibt es im Grunde keinen anderen Ansatz als den der Kalkulation des geringsten Leidensbetrags. Zehntausend Tote sind besser als hunderttausend Tote. Unschön das zu sagen, aber die schöne Welt, in der es keinen Putin und keinen Krieg gibt, gibt es leider nicht.

Wie müssen wir uns verhalten, damit am Ende die geringste Summe an Leichen herauskommt? So könnte man fragen. Diese ethische Leitfrage würde allerdings schon voraussetzen, dass der Erhalt von Menschenleben wichtiger ist als die Existenz eines eigenen Staates oder wichtiger als die Freiheit eben jener Menschen, die infolge der Anwendung einer utilitaristischen Lebenserhaltungs-Ethik nicht gestorben sein würden. Diese Bewertung wird aber vermutlich nicht von allen Beteiligten geteilt.
Frage: Wenn Putin die Ukraine mit einer Ruckzuck-Aktion eingenommen hätte, bei der „nur“ tausend Menschen ihr Leben verloren hätten, aber ein souveräner Staat beseitigt worden wäre, wäre das dann „besser“ gewesen, ethisch vertretbarer, erstrebenswerter, als wenn morgen Friedensverhandlungen begönnen, an deren Ende die vollständige Wiederherstellung des ukrainischen Territoriums, umfangreiche Reparationszahlungen und die Abdankung des russischen Präsidenten stünden, aber eben zum Preis von mittlerweile dreihunderttausend Toten? Nun, die Frage kommt eh zu spät, man hätte sie vor einem Jahr stellen müssen, wenngleich es sich fragt, ob damals irgendwer zuverlässig hätte vorausberechnen können, dass wir heute vor diesem gigantischen Leichenberg stehen. Das ist das leidige Problem beim Utilitarismus, die Kalkulation beruht immer auf ziemlich vielen Unbekannten und vagen Probabilitäten. Welche Entwicklung ist wie wahrscheinlich, welche Prognose ist wie realistisch? Sind die dreihunderttausend Toten, die wir jetzt zählen, vielleicht das kleinere Übel, gemessen an den drei Millionen, die wir in einem Jahr haben könnten oder an den drei Milliarden, die wir haben, wenn die Sache nuklear aus dem Ruder läuft? Sollte der Westen dem Elend ein Ende setzen, indem er die Waffenlieferungen einstellt, und damit die Ukraine preisgibt? Oder ist es ein langfristig höheres, also leidensverminderndes Ziel, dem Herrn Putin und seinen Russen die Kiesewettersche Lektion fürs Leben zu erteilen? Müssen sie „verlieren lernen“, weil sie sonst nach der Ukraine direkt die nächsten souveränen Staaten angreifen würden und somit ganz schnell doch wieder die drei Millionen Toten, die man durch das Ukraine-Opfer zu verhindern suchte, im Raum stehen bzw. im Morast liegen? Und wenn der Mann, den alle für so irrational und hitlerlike halten, das Verlieren gelernt hat, wird er dann als Verlierer weiterleben wollen, oder wird ihm dann vielleicht alles so dermaßen scheißegal sein, dass er sich und der Welt zum Abgang noch ein schönes Feuerwerk mit den erlesensten SS-27-Raketen gönnt?

Die eigentliche Frage ist aber: Wie kann angesichts all dieser unbeantwortbaren Fragen überhaupt irgendjemand auf die Idee kommen, irgendwelche Prognosen zu wagen, auf deren Basis man irgendwelche Entscheidungen treffen kann, die verantwortungsvoller sind als Würfeln oder Nichtstun?

Meine Antwort (ich könnte aber auch hier hinter jeden Satz ein Fragezeichen setzen) lautet: Es gibt keine rationalen Antworten auf diese Fragen. Es gibt keine rationalen Entscheidungen in diesem Spiel, solange die Spielregeln nicht ersichtlich und von allen Seiten akzeptiert sind. Krieg ist aber nun mal der Inbegriff von Regellosigkeit, seine Dramatik besteht – anders als bei all seinen sportlichen Surrogaten – eben nicht nur darin, dass man nicht weiß, welchen Spielzug der Gegner als nächstes macht, sondern darin, dass man nicht weiß, ob der Gegner überhaupt dasselbe Spiel spielt.

Alles militärstrategische Wenn-Dann ist leeres Gewäsch. Alle Experten, die seit einem Jahr in den Talkshows ihre Einschätzungen kundtun, seien sie Generäle, Kriegshistoriker oder Panzerquartettsammler, wissen so wenig wie ich oder meine Katze, wie es weitergeht, welche Waffenlieferung welche Reaktion auslöst, welche Frühjahrsoffensive welche Konsequenzen nach sich zieht, nach welchem statistisch ermittelten Muster dieser konkrete Krieg verläuft. Alles, was sie anzubieten haben, ist ein mit Theorie oder Geschichte dekoriertes Nichtwissen.

Das Teuflische ist, dass der moderne Krieg als archaisch-avantgardistisches Try-and-Error nicht komplett irrational ist, sondern vielmehr pseudo-rational. Er erweckt immer wieder den Anschein von Gesetzmäßigkeit und Vorhersagbarkeit. Es gibt ja gewisse Logiken, manche Ahnungen und Analogieschlüsse bestätigen sich. Aber ob ein Steinzeit-Gehirn im Kreml (das meine ich nicht despektierlich – Homo Sapiens‘ kognitive Ausstattung ist nun mal für neolithische Lebensbedingungen designt), ob ein von chaotischem Neuronenfeuer aus seinem Millionen Jahre alten limbischen System möglicherweise stark emotionalisiertes Steinzeit-Gehirn irgendeine Entscheidung trifft, die sich über digitale, störungsanfällige Kommunikationskanäle, diverse menschlich-technische Zwischeninstanzen und militärische Befehlsketten fortpflanzt bis zu einem konkreten Raketenwerfer, der ein Projektil auf ein Haus in Mariupol abfeuert, dort den auf dem Dach befindlichen Handymasten trifft, welcher irgendeinem von A nach B laufenden Passanten auf den Kopf fällt und das darin befindliche Steinzeit-Gehirn zerstört, lässt sich leider schwieriger kalkulieren, als das Geschehen, das sich abspielen könnte, wenn zwei Männer mit Keulen sich zum Kampf gegenüberstehen.

Wenn schon solche Was-passiert-wenn-Szenarien ziemlich unkalkulierbar sind, wie soll man auch nur mit minimalster Sicherheit Großlagen modellieren, in denen Millionen von Einzel-Unsicherheiten sich zu einem Optionen-und-Wechselwirkungs-Wahrscheinlichkeits-Diagramm verknäueln, durch das kein Analytiker und keine KI jemals durchsteigen kann. – Mal ganz abgesehen von Einzel-Unsicherheiten wie Annalena-„die-diplomatische-Zeitbombe“-Baerbock und Wladimir-„was-kümmert’s-mir“-Putin, durch deren Geistesblitze jede noch so zutreffende Vorausschau im Nu wieder zu Hypothesenstaub zerfallen kann.

Krieg ist leider kein Wettkampf. „Fünftausend von unsern Jungs gegen fünftausend von euren, morgen früh um sechs auf dem Schlachtfeld, und wer gewinnt, kriegt die Krim.“ Da könnte man einigermaßen kalkulieren und rational entscheiden. Man könnte das Risiko abschätzen. Man könnte Kämpfer rekrutieren, die selbst entscheiden, ob sie sich opfern wollen für ein Stück Land, für eine Idee, ein Heiligtum oder sonst was.

In einem echten, regellosen, pseudo-rationalen Krieg aber entscheiden Leute wie Agnes Strack-Zimmermann aus dem Bauch heraus, dass eine unkalkulierbare Anzahl von Menschen ungefragt geopfert wird. Politiker treffen Entscheidungen ohne den Hauch einer Möglichkeit, verlässlich abzuschätzen, was ihre Entscheidungen auslösen. Ich habe keine Ahnung, wie sie das fertigbringen.

Die einzige rationale Entscheidung bestünde – soweit ich sehe – darin, denjenigen, der das diabolische Spiel begonnen hat [2] und am Laufen hält, aus dem Spiel zu nehmen. Entweder indem man ihn per „Spezialoperation“ extrahiert, oder indem man ihn dazu bewegt, sich auf Verhandlungen einzulassen. Da ersteres außerhalb von Hollywoodfilmen offenbar nicht zu funktionieren scheint, bleiben nur die diplomatischen Künste. An deren Ende steht aber keine Verhaftung und kein Richterspruch, sondern ein Kunstwerk. Und das Werk, das sozialpsychologische Kunstwerk, welches die Kunstgattung Diplomatie produziert, nennt man „Kompromiss“.

Der Ruf nach Gerechtigkeit von Seiten des vergewaltigten ukrainischen Volkes ist verständlich, aber darf der Westen sich ihn zu eigen machen? „Gerechtigkeit“ ist ein Motor der Eskalation. Den Krieg, den die Welt gegen Russland führen müsste, um Butscha zu rächen und wirklich Gerechtigkeit herzustellen, kann niemand außerhalb der Ukraine wollen. Ein konsequenter Gerechtigkeitskrieg ist in der jüngeren Geschichte ein einziges Mal halbwegs gelungen. „Gelungen“ nach alttestamentarischen Moralvorstellungen. Aber er wäre unmöglich gewesen, wenn Hitler über Atomwaffen verfügt hätte. Russland niederringen und plattmachen wie einst Nazideutschland wird einfach nicht hinhauen.

Wozu gibt’s dann so was wie „Völkerrecht“? Gute Frage. Hab ich mir auch schon gestellt. Und in einem meiner morgendlichen Selbstgespräche zwischen Wecker und Aufstehen wurde ich schließlich mit dieser Antwort beschieden: „Völkerrecht? Kannste dir im Grunde in die Haare schmieren. Völkerrecht ist so ähnlich wie Hypermoral. So wie die Überdehnung des Familienethos zur humanitaristisch-universalistischen Moralhypertrophie führt – als wären auch die Fernsten noch unsere Nächsten –, so führt die Ausdehnung des Rechtsgedankens ins Globale zu einer Art „Hyperrecht“. Das kann nicht funktionieren. Eine Rechtsgemeinschaft kann nur aus Bürgern eines Staates bestehen, also eines Systems von Institutionen, das Rechtssicherheit garantieren kann. Staaten – oder die Regierungen von Staaten oder auch ihre einzelnen Führungspersonen, also etwa ein Präsident Putin – sind aber keine Bürger eines Weltstaates. Der Rechtsstaat kann nicht zur „Rechtswelt“ erweitert werden. Also, man kann natürlich an internationalen Gerichtshöfen Prozesse führen und Urteile sprechen, solange man lustig ist, aber wo ist die planetarische Polizei, die globale Vollzugsbehörde, die Russland oder sonst einen Schurkenstaat hinter Gitter bringt? Sollen die Blauhelme in den Kreml spazieren und Putin nach Den Haag abtransportieren? Im Ernst: ein Recht, das niemand durchsetzen kann und das nur auf freiwilliger Einhaltung basiert, ist ein Witz, oder?“

So sieht’s wohl aus. Das globale Staaten-System ist – wie der amerikanische Politologe John Mearsheimer mit seiner Theorie der internationalen Beziehungen schon ein paar Jahre vor mir erkannt hat – anarchisch. Staaten agieren in einem herrschaftsfreien Raum, es gibt schlichtweg keine durchsetzungsfähige Instanz über den Staaten, an die man sich wenden könnte, um die Einhaltung des Rechts einzufordern. Dazu müssten alle Staaten der Welt ihre Waffen abgeben und sich dem Gewaltmonopol des „Weltstaates“ unterwerfen. Ich wage die Prophezeiung, dass dergleichen nicht passieren wird. Jedenfalls nicht in der näheren Zukunft. Für die nächsten paar hundert Jahre werden wir weiter in Anarchie leben. In einem anarchischen System aber gilt de facto letztlich – und „letztlich“ heißt: wenn man sich verhandlungsmäßig nicht irgendwie einigen kann – schlicht das Recht des Stärkeren, also noch schlichter: das Recht des Atombombenbesitzers. Was natürlich kein wirkliches „Recht“ ist, sondern nur die rohe „Macht“.

Genug. Mehr als diese großspurige Prophezeiung und das ganze fragezeichengespickte Nichtwissen hab ich vorerst nicht anzubieten. Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit. Für handfestere Prognosen und ethische Rigorositäten halten Sie sich bitte an die bewährten, einschlägig bekannten Twitter- und Talkshow-Insassen.

Eine Vorhersage trau ich mir allerdings noch zu: Am Ende dieses ganzen Schlamassels steht zweifellos – wie nach so ziemlich jeder Episode der Weltgeschichte – auch hier der Schlusssatz aus Burn after Reading: „Schätze, wir sollten das nicht wiederholen … wenn ich nur wüsste, was eigentlich … Gott, was für ein Riesenscheißdreck.“[3]
Die Frage ist diesmal nur, ob noch Menschen da sein werden, den Satz auszusprechen. Und ob noch irgendwer darüber wird lachen können.


[1] https://www.youtube.com/watch?v=cCHf8FxqzJc

[2] Über die Frage, wer das Spiel begonnen hat, gibt es bekanntermaßen unterschiedliche Vorstellungen. Ich bevorzuge rein gefühlsmäßig (aber hat überhaupt irgendjemand Besseres zu bieten als sein persönliches Gefühl?) eine Sowohl-als-auch-Vorstellung: Natürlich gibt es nachvollziehbare Gründe für das Zustandekommen dieses Krieges, Gründe nicht im Sinne von Legitimation oder geopolitischer Gesetzmäßigkeit, aber im Sinne psychologischer Kausalitäten. Reiz und Reaktion. Der 24. Februar hat zweifellos eine lange Vorgeschichte voller unkluger politischer Entscheidungen, amerikanischer Alleingänge, gebrochener Versprechen, persönlicher Enttäuschungen und diplomatischer Dämlichkeiten. Aber das sind keine hinreichenden Erklärungen, schon gar keine Rechtfertigungen. Putin musste nicht in die Ukraine einmarschieren, um auf die zunehmend bedrohlichere NATO-Osterweiterung zu reagieren. Aber es passte ihm als realpolitische Rationalisierung (quasi wissenschaftlich abgesegnet durch die politologischen Theorien des Neorealismus) gut in den Kram. Wer eine mythengetriebene Imperialpolitik verfolgt und vom Wunsch beseelt ist, „russische Erde zu sammeln“ (David Engels, März 2022: https://www.freilich-magazin.com/welt/david-engels-europaeische-konservative-sind-fuer-putin-nur-ein-instrument), der muss geradezu dankbar sein, wenn der geopolitische Gegner ihm handfeste Gründe liefert, mit denen man sich vor dem Volk oder den Verfassern zukünftiger Geschichtsbücher sehen lassen kann, ohne als Romantokrat und metaphysischer Schrat verlacht zu werden. 

[3] https://www.youtube.com/watch?v=e9ip3Fd5G_0

 

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