September 23

Ich mach jetzt einfach mal versuchsweise das, was man von einem „Blogger“ eigentlich erwartet, nämlich ein öffentliches Tagebuch zu schreiben. Wobei „Tagebuch“ wohl dem Intimitäts- und Interessantheitsanspruch nach etwas hochgegriffen ist – meine Erlebnisse in NASA-Geheimlaboren, RTL-Backstageräumen und Kanzleramtskellern kann ich, diskret wie ich bin, leider erst dreißig Jahre nach meinem Ableben zur Publikation freigeben –, das hier wird also wohl mehr ein Notizensammelsurium und Schmierheft werden. Mal sehen. Jedenfalls wird es – wenn ich nicht irgendwie durch Mausarm oder rumzickende Fritzbox blockiert sein sollte – täglich (oder auch mal zwei-, dreitäglich) nach unten hin ergänzt. Sie müssen also, sofern mich die Muse peitscht und darob größere Notierwürdigkeiten entstehen sollten, irgendwann vielleicht ein paar Minuten nach unten scrollen. Vielleicht schreib ich aber auch nur dreißig Tage lang auf, was ich gegessen hab, dann geht’s schneller.
Here we go.

 

Freitag, 01. September 2023

So: Was hab ich denn gestern alles gegessen? Ist ja nicht vollkommen uninteressant. Viele traumatische Enttäuschungen und Therapiesitzungen könnten der Menschheit erspart bleiben, wenn die Leute sich beim Kennenlernen ein Monatsprotokoll ihrer Einverleibungen überreichen würden. Also nicht nur so allgemeines kulinarisches Abklopfen: ich bin Flexitarier, und ich koch gern italienisch für meine Freunde, wenn der Job mir die Zeit lässt, blabla, sondern ganz konkret, vollständig und ungeschönt. Da weiß man dann recht genau, wo man dran ist. Auch politisch.

Ich glaub, es war Bismarck, der meinte, wenn die Leute wüssten, wie Wurst und Gesetze gemacht werden, könnte keiner mehr ruhig schlafen. Ich ergänze: Wenn die Leute voneinander wüssten, was sie essen und trinken, könnten sie seelenruhigst schlafen, denn dann würden sehr viele Figuren, die über ihr Leben bestimmen – nennen wir sie fantasiehalber Lang oder Lauterbach –, ganz einfach per Nichtwahl aus dem Politikbetrieb ausgesondert. Und die Welt wäre ein Stückchen besser. Ich mein, niemand würde doch jemanden als Minister tolerieren, der sich zum Frühstück eine Schüssel mit Haselnüssen füllt, darüber ein Glas Orangensaft gießt, und dann mit Drehorgelstimme sagt: „In einer Minute zubereitet, in zwei Minuten gegessen. Und man hat Energie für den ganzen Tag.“ Hat er aber mal irgendwann gesagt, der Karl, vor Jahren, als ich ihn irgendwie noch ganz witzig fand. Aber auch da dachte ich schon: Wer so wenig Wert auf Genuss und Gastrosophie legt, wer nur isst, um schnell fertig zu werden und Energie zu tanken, und wer zudem noch den Magen eines Komodo-Warans hat – denn den braucht man doch wohl, um diesen Todescocktail zu verstoffwechseln –, der muss auch darüberhinaus manch unappetitliches Problem mit sich herumschleppen, und von so einem sollte man sich vielleicht besser nicht regieren lassen. Jemand, der so was Sperriges verfrühstückt, der knabbert zum Filmabend wahrscheinlich gemischte Spanplattenreste aus dem Hornbach-Holzzuschnitt. Und auf dem Knabberschälchen steht: „Energie für die ganze Nacht!“

Einmal sah ich Lauterbach, wie er beim Italiener ein Nudelgericht bestellte. Er sagte mit panisch geweiteten Augen und abwehrender Geste „Senza sale, senza sale!“ Darauf sagte der Kellner: „Niemals wieder SPD!“ Nein, sagte er nicht, aber er guckte so.

Was Ricarda Lang zu sich nimmt, oder was weiland Helge Braun oder Peter Altmaier zu sich nahmen, vermag ich mir tatsächlich nicht vorzustellen. Jetzt wirklich ohne Spott. Ich vermute, man muss roundabout vier- bis sechstausend Kalorien aufnehmen, um so zu werden und so zu bleiben. Und ich weiß nicht, wie das gehen soll. Ich fresse saisonal wesentlich mehr als mir guttut, und das sehe ich dann immer wieder im Spiegel und auf der Waage. Aber selbst, wenn ich alles fresse, was ich will, komme ich schwer über dreitausend oder dreieinhalbtausend Kalorien. Mehr als zwei Stücke Torte gehen doch gar nicht rein in einen Menschen, und wenn man mehr als eine Tüte Chips futtert, kippt man um. Ein Eisbecher, eine Tafel Schokolade, eine Flasche Wein, ein Burger plus große Pommes, eine Tüte saure Saurier – kann ich alles nachvollziehen. Aber um auf zweihundert Kilo oder so zu kommen, muss man ja von allem das Dreifache essen, vermute ich. Ich stehe wirklich vor einem Rätsel. Also, ich verstehe sehr gut die Zügellosigkeit, den Drang zum Frust- und Kompensationsfressen, ich kenne diese Dammbruch-Momente, dieses Scheißegal, ich fress jetzt, bis ich kotze. Aber ich würde dann halt beim dritten Stück Donauwelle wirklich kotzen. Die Dicken müssen offenbar nicht kotzen. Seltsam.

Was hab ich gestern gegessen? Zum Frühstück ein Kilo Haselnüsse (mitsamt Schalen) und eine Tasse Essigessenz. Nein, komm, jetzt ernsthaft: zwei Toastbrötchen, so Mehrkorn-Dinger von Harry, also vier Hälften, bestrichen mit meinem Privat-Nutella. Dieser Nuss-Nougat-Aufstrich wurde von mir in jahrelanger Grundlagenforschung am eigenen Leibe entwickelt, das Rezept ist eines der am besten gehüteten Geheimnisse der Functional-Slow-Food-Esoterik. Hier ist es: ein Glas Bionella (400g), ein Glas dm-Bio-Erdnussmus crunchy (250g), ein Glas dm-Bio-Mandelmus braun (250g). Die drei Glasinhalte gut vermischen. Wenn man das per Hand mit einem stabilen Messer macht, kann man sich das Krafttraining für den rechten Unterarm sparen. Ich habe alle verfügbaren veganen Bio-Nutellas durchprobiert, Bionella ist eindeutig das beste. Allerdings besteht auch dieses, wie alle andern, zur Hälfte aus Zucker. Pur dargereicht schmeckt es geradezu lächerlich süß. Die Kombination aber mit den besagten ungesüßten Nussmusen senkt die Süßigkeit auf optimales Erwachsenenniveau.

Ein bisschen albern finde ich das trotzdem immer noch. Irgendetwas sagt mir, dass meine Eltern und meine Großeltern mich nicht mit lobenden Blicken bedenken würden, wenn sie meinen morgendlichen Kinderteller sähen. Ich gleiche dieses imaginierte Imageproblem aus, indem ich sechs Tassen ultrastarken Kaffees dazu trinke, was ich als sehr maskulines Verhalten empfinde, so maskulin, dass ich mich während des Frühstücks, welches ich, da es meine Hauptarbeitszeit begleitet, auf etwa vier Stunden zu strecken imstande bin, zweimal rasieren muss. Dem wiederum begegne ich dadurch, dass ich in den starken Kaffee ein wenig geschäumte Hafer-Soja-Milch hineindrapiere, was mir, während ich mir den Schaum von den Lippen lecke, so feminin und spielerfrauenmäßig vorkommt, dass der Bartwuchs sich flugs wieder auf normales Niveau runterreguliert.

Nach dem Frühstücken und Schreiben gab es gestern (so wie meistens) Mittagessen. Was gab es? Es gab Reis, Baby. Logisch. Aber nicht nur. Es gab den Rest vom Vortag: Basmati-Reis mit Seitan-Currywurst und Asiagemüse, alles – wie sich das gehört für ein Vortagsresteessen – schön durcheinandergerührt und hochkant in der Pfanne gebraten. Da es aber absehbar zu wenig war für meine verfressene Gattin – welche in den letzten dreißig Jahren infolge meiner Kochkünste mindestens zwei Kilo zugelegt hat –, musste ich mit passenden Ergänzungskomponenten beifüttern. Diese waren: Zucchini-Paprika-Gemüse mit Vemondo-Cevapcici in einer Sauce aus Knorr-Schweinebraten-Tunke (ja, die ist tatsächlich vegan), Rotwein, Sojasahne, Dosentomaten und noch irgendwas. Dazu irgendwelche Medaglioni (hießen die so?) mit Linsen-Kichererbsen-Füllung. Konnte man essen. Die Bekochte war jedenfalls danach nicht mehr in der Lage, ihre üblichen zwei Eisbomben zu verputzen.

Nachmittags gab es weitere zwei Tassen Extremisten-Kaffee, dazu einen Proteinriegel. Denn der Mann ab fünfzig muss nicht nur dem Bartwuchs, sondern mehr noch dem Muskelabbau wehren. Wo aber aufgebaut werden soll, da muss Material her. Und das kommt nicht aus Limettentörtchen und Leitungswasser, sondern aus der optimierten Zufuhr von Aminosäuren in Form leicht verdaulicher Proteine mit hoher Bioverfügbarkeit. Ich war noch nie sonderlich muskulös, und ich will nicht infolge altersgemäßer Sarkopenie auch noch die paar Fasern verlieren, die man mir genetischerseits zugeteilt hat. Also heißt es für den Rest des Lebens: ordentlich Proteine mampfen und regelmäßig Eisen verbiegen. Es sei denn, man will altersgemäß altern.

Gestern allerdings war statt Krafttraining Radfahren angesagt, was zwar nur den Herzmuskel aufbaut und für alle andern Muskeln eher katabole Wirkung hat, aber der ist nun mal doch der wichtigste. Außerdem war optimales Wetter, und das – in Kombination mit Fahrtwind und vorbeifliegenden Naturschönheiten – trainiert das Gemüt. Welches übrigens auch ein Muskel ist. Was das Herz für den Körper ist, ist das Gemüt für den Geist. (Bin gerade nicht sicher, ob ich mir den Satz selbst ausgedacht habe, oder ob der irgendwann mal aus einem Hermann-Hesse-Kalender in mich rein diffundiert ist …)

Abends gab es dann das übliche Problem. Anstatt es bei einem dem Nachtschlaf förderlichen kleinen Imbiss zu belassen, wurden große Mengen an Hummus mit Crackern vertilgt, dazu Kalamata-Oliven, Antipasti, Schlemmer-Gürkchen, Velamischeibchen, irgendwoher kam noch ein Rest Nudelsalat und ein Knäppchen Knoblauchbaguette, Basilikumtofu und Remoulade mussten auch weg, und begleitet von einem halben Fläschchen Sangiovese war das dann doch irgendwie eine von diesen ausgewachsenen Mahlzeiten, die ich mir für den Abend endlich mal abgewöhnen wollte. Hat aber irgendwie nicht geklappt. Hat irgendwie überhaupt gar nicht geklappt. Denn obendrauf und hinterher gab es auch noch eine appetitliche Gemengelage aus Chips, Flips und Erdnüssen, und dann wurde auch der Durst am Ende so groß, dass der von Sport und Sonne gedörrte Organismus mit einem Gallönchen Bayreuther Hell aufgefüllt werden musste.

Immerhin geraucht hab ich nicht. Wenn ich Radfahren war, kann ich unmöglich abends rauchen. Ich müsste also einfach mal irgendeine Disziplin finden, die es mir unmöglich macht, abends zu fressen.
Tja. Irgendeine Disziplin …

Weitere Speiseprotokolle werde ich hier lieber nicht posten. Könnt ja sein, dass ich irgendwann noch mal Gesundheitsminister werden will.

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Seltene Glanzstunde des deutschsprachigen Gegenwartsfernsehens: Norbert Bolz im Gespräch mit Wolfram Eilenberger (LINK).
Zwei Leute mit konträren Positionen unterhalten sich angenehm gesittet und geistreich miteinander. Wäre das der Standard im ÖRR, ich müsste nie wieder eine Silbe zu dem ganzen politmedialen Unwesen unserer Zeit verlieren. Ich würde Romane schreiben und Lieder singen. Und nachts ruhig schlafen. In der Überzeugung, dass sich alle anderen Probleme halbwegs von selbst regeln, wenn Menschen nicht von moralistischen Tyrannen daran gehindert werden, vernünftig miteinander zu reden.

Klar ist freilich, dass Norbert Bolz das Äußerste darstellt, was in den regulären Medien heute noch zur Sprache kommen darf. Auf David Engels, Manfred Kleine-Hartlage, Hauke Ritz, Ulrich Vosgerau et.al. als Gäste der Sternstunde Philosophie oder bei Precht wird man mutmaßlich noch die eine oder andere Ewigkeit warten dürfen.

 

Samstag, 02. September 2023

Es entwickelt sich ein neues literarisches Genre. Es entwickelt sich aus der Zeit, als Antwort auf die Not der Zeit. Es ist in diesem Sinne eine notwendige Entwicklung. Ehemals war es nötig, den Menschen Fantasien anzubieten, Fluchten aus dem eintönigen Alltag, Traumreiche, Sehnsuchtsinseln, ferne Möglichkeiten und Lebensentwürfe gegen die Härten der Wirklichkeit. Einmal war es Aufgabe der Literatur, den Suchern Sinn zu erschließen, Transzendenzen in einer entgötterten Welt, Lebenshilfe in entzauberter Zeit. Dann schien es vor allem geboten, die Bürger, die Philister und Gewohnheitstiere zu sensibilisieren, sie zu schockieren und zu verunsichern gegen die Verhärtungen, die stumpfen Routinen und Verpanzerungen, mit denen sie sich abschirmten von den Realitäten ihrer Gegenwart.

Der Schriftsteller – das ist der Mensch, der – ob er will oder nicht – sym-pathisiert, also mit-leidet mit seiner Zeit, der mitdenkt und sein Inneres in Worten auszudrücken versteht, – muss sich verhalten zu den Störungen, den Bösartigkeiten, den Abirrungen, deren Zeuge und Mitgeschöpf er ist.

Was ist die Not unserer Zeit? Es ist die Entwirklichung. Die Fiktionalisierung der Welt durch die Lüge, durch Auslassung, engagierte Einseitigkeit, interessierte Gewichtung. Durch Narrative, Mehrheitsmärchen, Bullshit, Propaganda, Andichtung, Framing, Verzerrung, Interpretation, „Einordnung“. Durch Meinungsunterdrückung, Zensur, Deutungsabkommen, mediale Wiederholungs- und Durchsetzungsmacht, Pseudorepräsentanz, reziproke Relevanzbeglaubigung, Rationalitätsverweigerung, Perspektivenharmonisierung, Selbstgleichschaltung der „Guten“.

Keine Epoche vor uns war je in sich derart verlogen, in den Grundfesten verzogen, in jedem Balken verbogen. Andere Zeitalter mögen schlimmer gewesen sein, schlimmer im Sinne von brutaler, gewalttätiger, repressiver. Aber sie mussten eben nur deshalb brutal und repressiv sein, weil sie nicht über die heutigen psychosozialen und medientechnischen Voraussetzungen zur strukturellen Verlogenheit verfügten.

Die Aufgabe des Schriftstellers unserer Zeit heißt: Wirklichkeitsabgleich. Wirklichkeitsverteidigung. Schreiben gegen die große, weltentstellende Verlogenheit. Jeder an seinem Platz. Von sich selbst sprechen, der Zeit die Zunge lösen, die Menschen entfälschen.

Die Verlogenen benennen, anklagen, vor den Kadi zitieren. Im Vertrauen darauf, dass wenigstens irgendeine Zukunft über sie richten wird.
Den Belogenen beistehen: Es ist gut, dass du dich so schlecht fühlst, es ist richtig, dass sich alles so falsch anfühlt, dein Unbehagen ist das Fieber, das sich gegen die Krankheit der Gesellschaft wehrt.

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Strukturelle Verlogenheit:
All the lies on your resume have become the truth by now,
and the things that you never did have become your youth somehow …
(Regina Spector, Older and taller)

Dieses Somehow zu ergründen, wäre die Hauptaufgabe des geistigen Menschen unserer Zeit. Die Mechanismen des Fiktionismus analysieren und an den Tag bringen.
„Hinter die Couchen, ihr Philosophen!“

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Erstes Gebot des kritischen Realismus: Du sollst dir kein Narrativ machen!
Die Welt ist nicht geschichtenförmig. Erzählung heißt immer Verfälschung.


Sonntag, 03. September 2023

Wenn ich die Wahl hätte, ob ich 300 vollverschleierte Sozialstaatsgäste oder 300 biodeutsche ARD-Redakteure in einen Abschiebeflieger nach Afghanistan setzen soll, dann würde ich bestimmt nicht aus ethnischer Solidarität über das faktische Schadenspotenzial hinwegsehen. Wenn die Destruktivkräfte aus den Medien weg wären, würden Nießnutzimmigration und Verschleierung ohnehin ziemlich bald der Vergangenheit angehören. Die Entschleierten würden Deutsche und Europäer werden, oder sie würden sich ganz von selbst um einen Platz im nächsten Flieger bewerben.

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Wenn ich übrigens von Vollverschleierten spreche, dann meine ich auch Vollverschleierte. Die gehören selbstverständlich verboten oder ausgewiesen. Mit mohammedanischen Damen, die lediglich ihre Frisur per Kopftuch verhüllen, habe ich dagegen keine persönlichen Probleme, im Gegenteil sogar interessante persönliche Begegnungen. Gestern schenkte mir eine orientalische Schönheit, für die ich mein Rad vor dem Zebrastreifen abbremste, ein derart bezauberndes Lächeln, dass ich ihr beinahe ein „Salam aleikum, Signorina“ hinterhergeflötet hätte. Und mit einer türkischen Mamma, die kein Wort Deutsch konnte, hatte ich einen gestenreichen Dialog über die Vermüllung der deutschen Straßen, in welchem recht viel und herzlich gelacht wurde. Ich kann über einiges, was mich politisch stört, im Privaten ganz lässig hinwegsehen. Mein schizothymes Naturell und meine Lust am Exotischen kommen mir da sehr zur Hilfe. Nur, wenn die fremdländischen Damen als Lehrerinnen arbeiten oder sonstwie in Staatsdienste treten möchten, dann sollen sie doch bitte ihr religiös-weltanschauliches Bekenntnis vom Kopf nehmen und verständliches Deutsch reden, würde ich vorschlagen.

Nein, ich hab nichts gegen Fremde. Ich bin selber fremd hier. Ich trage das Zeichen meiner Art an der Stirn, und die Mehrheitssprache ist nicht meine Sprache. Aber die Mehrheit verkraftet mich. Es hängt alles am richtigen Maß. Ich will nicht, dass Kopftuchfrauen und Vollbartpatriarchen hier die Mehrheit werden. Genauso wenig wie ich will, dass Typen wie ich hier die Mehrheit werden.

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Lanz & Precht über sexuelle Selektion, Testosteron, Evolution etc. (LINK). Wenn man die beiden so hört und sieht, könnte man meinen, die Welt sei in Ordnung. Also, „in Ordnung“ im Sinne von: „die Welt ist zwar nicht in Ordnung, aber wir sind uns einig darin, inwiefern sie nicht in Ordnung ist“.
Sie ist aber weder in diesem noch in irgendeinem anderen Sinne in Ordnung. Man braucht sich nur kurz vorzustellen, alles, was Precht so locker von sich gibt über die Biologie des Menschen und was Lanz so launig interessant findet, wäre in einem Podcast namens Höcke & Hahne ausgesprochen worden. Lichterketten von Berlin bis Karlsruhe! Kirchentage, Krisenstäbe, „Wir-sind-mehr“-Konzerte. Grönemeyer, Steinmeier und Haldenwang performen die Schunkel-Hymne „Keinen Nanometer nach rechts!“, und die Studien der Menschenrechtsinstitute, die wissenschaftlich exakt nachweisen, dass die AfD jetzt aber nun wirklich verboten werden kann und muss, stapeln sich auf dem Platz der Republik wie ein Mahnmal der Anstande.

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Bei der Gelegenheit, nur zu Erinnerung:
„Wir Deutsche tun uns schwer mit Denkmälern und Gedenkstätten. Es wird auch um ein Denkmal der Deutschen Einheit Streit geben. Die Unfähigkeit zu feiern und die Unfähigkeit zu trauern gehören zusammen. Sie können auch nur zusammen überwunden werden. Denkmäler der Schande und der Trauer, des Stolzes und der Freude sind notwendige Grundsteine des neuen Deutschland und der neuen Bundeshauptstadt.“

Aus einem Antrag zur „Errichtung eines Einheits- und Freiheitsdenkmals auf der Berliner Schlossfreiheit“, eingebracht unter anderem von Ilse Aigner, Peter Altmaier, Wolfgang Bosbach, Rainer Eppelmann, Hermann Gröhe, Gerda Hasselfeldt, Klaus Holetschek, Dr. Klaus Kinkel, Dr. Norbert Lammert, Dr. Angela Merkel, Ruprecht Polenz, Dr. Peter Ramsauer, Dr. Rupert Scholz, Dr. Hermann Otto Solms, Dr. Rita Süssmuth, Annette Widmann-Mauz.

Deutscher Bundestag, Drucksache 14/3126 vom 06.04.2000

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Wenn ich hier schon den Blogger spiele, dann muss ich wahrscheinlich auch was zu den Themen des Tages absondern, nehm ich an. Dann sag ich jetzt einfach mal was zum Thema Aiwanger. Da ich im Gegensatz zu Peter Hahne nicht elf Zeitungen täglich lese, kann es allerdings sein, dass das, was ich sage, schon etliche Kommentatoren vor mir gesagt haben.

1. Inwiefern ist dieses Aiwanger‘sche Jugendelaborat eigentlich antisemitisch? Juden werden mit keinem Wort, nicht einmal verklausuliert, erwähnt. Ist jeder Text, in dem die Wörter „Konzentrationslager“, „Massengrab“, „Auschwitz“ in pietätloser Weise gebraucht werden, antisemitisch? Eigentlich nicht, es sei denn man ist Anhänger einer tabuüberladenen Zivilreligion, die überall Blasphemie und Häresie wittert. Die unappetitliche Komik mal beiseitegelassen, bezeugt dieses Flugblatt den Wunsch, mit Vaterlandsverrätern so zu verfahren, wie im Dritten Reich mit Juden verfahren wurde. Ich würde sagen, der Verfasser disqualifiziert sich durch dieses Opus für verantwortungsvolle Ämter und warmherziges Entgegenkommen, aber echten Antisemitismus kann ich hier nicht erkennen. Was freilich nicht ausschließt, dass er doch ein Antisemit ist, zumindest zur Zeit der Abfassung einer war.

2. Mein Eindruck ist, dass Aiwanger und/oder sein Bruder – was übrigens keinen so wahnsinnig großen Unterschied macht, denn irgendwie verfestigt sich doch mangels nachvollziehbarer Erklärungen der Verdacht, dass das Blatt wohl eine Art Koproduktion gewesen sein muss –, dass also Aiwanger – wenn er sich gegenüber der Presse auch noch so unbeholfen ausgedrückt hat – auch als Jugendlicher eher kein Antisemit war, gleichwohl aber irgendwie eine Phase hatte, in der er mit altrechtem Gedankengut geliebäugelt hat. Dieser Text ist ja nicht einfach eine Provokation, ein frecher Akt der Rebellion gegen eine linke Lehrerschaft, den man so als Kinderei abtun könnte. Frechheiten und faschoparodische Kindereien haben wir damals auch verübt – keine große Pause, keine Straßenbahnfahrt ohne Fööhrer-Persiflage und pseudojiddisches Gebrabbel. Ich verspüre jedoch keinerlei Impuls, mich für solche Jugendsünden zu entschuldigen. Weil es gar keine Jugendsünden waren, es waren harmlose, geschmacklose Entlastungsakte. Unbeholfener Humor, der die Zumutungen einer linksgrünen Lehrerschaft, die uns die Erbsünde und den Schuldkult predigte, mildern sollte. Das Aiwanger-Papier ist aber etwas anderes. Es ist keine impulsive Übersprunghandlung, es ist eine besonnene Tat, also eigentlich exakt das, was man eine Jugendsünde nennt. Und ich würde von einem Sünder dieses Kalibers etwas mehr Reue erwarten. Und nicht so windelweiche und gleichzeitig beklemmend hölzerne Wenn-Dann-Vielleicht-Entschuldigungen. Ohne echte Reue kein Verzeihen.

3. Die Aiwanger‘sche Jugendsünde wäre grundsätzlich verzeihlich. Menschlich gesehen. Als Politiker wäre er für mich allerdings keinesfalls mehr wählbar.


Montag, 04. September 2023

Wovon man nicht sprechen kann, darüber muss man – schweigen? Quatsch, davon muss man singen!
(Und worüber man nicht singen kann, davon muss man tanzen!)

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Vortrag von Dr. Dr. Thor von Waldstein, zehn Thesen zur politischen Linken. (LINK)  Unangenehm unterhaltsam. Intelligent zweifellos, in der Sache weitgehende Zustimmung. Als Typ aber einer von denen, die einen vor allzu viel Rechtsoffenheit zurückschrecken lassen. Pauker und Kompaniefeldwebel, Thesen wie Befehle, Blicke wie letzte Warnungen. Wirkt auf mich wie jemand, der noch erleben will, wie das Blatt sich wendet, wie aufgeräumt wird mit dem Pack, das ihm Jahrzehnte seines Lebens vermiest hat. Nicht, dass ich solche Impulse nicht kennte, aus meinen Abrechnungsfantasien kann man problemlos ein verschollenes Tarantino-Frühwerk zusammenstellen, aber es gibt halt auch Leute, bei denen man sich nicht so sicher sein kann, ob sie ihre Rachegelüste zu beherrschen und zu sublimieren wissen werden, wenn es ernst wird. Wenn man ihnen eine Uniform und einen Schreibtisch anbietet.

Auch die Art, wie im Publikum gelacht und applaudiert wird, eher semisympathisch. Am höhnisch-fidelsten bei der Stelle, wo der „Vegan-BoBo mit SUV in der Garage“ als Karikatur des linken Systemparasiten präsentiert wird. (27:05)

Ich glaube, nach einer Machtergreifung würden die als erstes Veganer schlachten. Egal, ob man sich jahrelang differenzierte Gedanken zum Links-Rechts-Problem und zur Rettung des Abendlands gemacht hat.
Der Argwohn der Wehret-den-Anfängen-Hysteriker mag krankhaft sein und seinerseits Anfänge eines neuen Totalitarismus schüren – gegenstandslos ist er nicht.

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Wie man mir zuträgt, hat Frau Prof. Dr. Naika Foroutan uns jüngst im Focus (LINK) unter dem Titel „Sie erkennen „Ihr“ Land nicht mehr? Dann haben Sie etwas falsch verstanden“ mit einer aufschlussreichen Probe ihres Denkens und Meinens beschenkt. Die Ausführungen der Direktorin eines Deutschen Zentrums für Irgendwas mit Integration und so strotzen dermaßen vor „Erstaunlichkeiten“ (wie wir Quartalsaristokraten sagen, wenn wir etwas sehr anderes meinen, was aber zu abfällig klänge, um es einer attraktiven Frau anzuhängen), dass sich eine detaillierte Auseinandersetzung einfach aus Zeitgründen verbietet. Ein Punkt jedoch ist zu ernst, um ihn mit Euphemismen und knappem Kopfschütteln abzuhandeln. Er betrifft die Frage, wem Deutschland gehört. Die fantasiebegabte Forscherin meint nämlich:

„Deutschland ist das Land seiner Einwohner und Einwohnerinnen. Es gehört niemandem per se, weil er oder sie Urahnen hatten, die schon immer hier gelebt haben. Etabliertenrechte prallen also auf Neuaushandlungen und Erwartungen der Gleichbehandlung – jenes grundgesetzliche Versprechen, das in Artikel 3 des Grundgesetzes verankert ist.“

Allein in diesen zwei Sätzen zeigen sich so viele denkstilistische Unsauberkeiten, dass man nicht weiß, wo man hinlangen soll mit dem Analysebesteck. Fangen wir irgendwo an: Wem gehört Deutschland?
Nun, verhaltensbiologisch gehört ein Territorium dem Tier, das es erfolgreich verteidigt, bei sozialen Tieren der Gruppe, die ihr Gebiet gegen konkurrierende Eindringlinge behaupten kann. So gesehen gehört Deutschland also schon nicht mehr so wirklich den Deutschen. Aber der ethologische Blick reicht hier nicht, selbst aus der Perspektive der Primatenpolitologie wird man ein Staatsgebiet nicht mit dem Lebensraum einer Schimpansengruppe vergleichen können. 

Die Frage, die Frau Foroutan aufwirft, richtet sich an das Recht, genauer gesagt an das Naturrecht, und nur der Mensch kam bislang auf die Idee, seine Ansprüche an das Leben aus Idealen, seine Nomoi aus den Logoi, die menschlichen Ordnungen also aus der „Weltvernunft“ abzuleiten, statt einfach seinen Willen per Körperkraft und Kampfbereitschaft durchzusetzen.

Natürlich „gehört“ keinem Homo Sapiens irgendein Stück Land auf diesem Planeten. Wo einer sagt: „Das hier ist meins“, kann sogleich ein anderer kommen und sagen: „Das wollen wir doch mal sehen, ich behaupte nämlich, das ist meins!“ 

Unter zivilisierten Bürgern innerhalb einer Rechtsgemeinschaft, also eines sogenannten „Staates“, wird man solche Konflikte noch per Katasteramt und Gerichtsbeschluss entscheiden können. Unter unzivilisierten Staaten, Nationen, Völkern, die keinen Richter über sich akzeptieren, fällt man jedoch notwendig wieder zurück in den biologischen Modus. Krieg ist Biologie, wenngleich hier die Körperkraft und die Kampfkunst durch technische Erweiterungen der reinen Physis gewaltig gesteigert sein können.

Also: Wir müssen – wie immer – unterscheiden zwischen Realität und Fiktion. Realistisch gesehen gehört ein Territorium dem politischen Kollektiv, das es halten, verteidigen, „besitzen“ kann.

Die Rechtsfiktion hingegen bedarf der Überzeugungskraft. Wir erkennen denjenigen als rechtmäßigen Eigentümer eines Gebietes an, der sein postuliertes Anrecht am stimmigsten, schlüssigsten, logischsten, plausibelsten begründen kann. Dessen Fiktion übernehmen wir, die des Konkurrenten, der keine vergleichbar gute Herleitung seines Anspruchs präsentieren kann, lehnen wir ab. 

Beispiel: Wenn der Bauer Hennes Piepenkötter im Kreise seiner fünfzigköpfigen Großfamilie uns glaubhaft darlegen kann, dass das säuberlich und gut sichtbar eingezäunte Stück Land, auf dem er da steht in seinen Gummistiefeln, seit tausend Jahren seiner Familie gehört, dass eine ununterbrochene Kontinuität der Generationen, der Abstammung, der Erbfolge dazu geführt hat, dass er heute hier ansässig ist und diesen Grund als den seinen betrachtet; und wenn dann ein illegaler Immigrant aus Dschibuti angeschlendert kommt, und uns erzählt, diese Piepenkötter’schen Liegenschaften seien ab Datum heutigen Tags sein Eigentum, weil halt irgendwie alles allen gehöre und jetzt sei halt der historischen Ausgeglichenheit halber er mal dran mit dem Besitzen, tja, dann, so nehme ich an, würde die erste Fiktion sehr wahrscheinlich 99,9 Prozent der Mitglieder der Rechtsgemeinschaft weitaus mehr überzeugen als die zweite.

Irgendwie hat das mit den „Urahnen“ und den „Etabliertenrechten“, also das mit der Abstammung und der „Angestammtheit“, eine gewisse argumentative Kraft, könnte man meinen, und die Frage wäre nun: Woraus genau lassen sich (im Idealfall quantifizierbare) Etabliertenrechte ableiten, und wie, wodurch, in welcher Zeit, kraft welcher Assimilationsprozesse wird ein Zugewanderter zu einem Etablierten?

Wir können jetzt natürlich tausend Beispiele konstruieren, aus denen sonnenklar die intuitive Rechtsüberlegenheit der Eingeborenen gegenüber den Eingewanderten und erst recht gegenüber den Eindringlingen hervorgeht. Das Problem wird immer auf die Frage hinauslaufen: Wer ist Deutscher? Denn Deutschland ist eben mitnichten das Land seiner Einwohner, sondern das Land der Deutschen. Die entscheidende Frage ist dann wiederum, was man mit „Land“ meint. Den Staat? Das Territorium? Die Nation? Die Kultur? Die Gesellschaft? Aus Frau Foroutans Text geht hervor, dass sie wohl irgendwie „die Demokratie“ meint.
Da könnten wir uns schnell einigen. Klar, jeder, der den deutschen Pass hat, hat das gleiche Recht, an der deutschen Demokratie teilzunehmen. Aber Deutschland ist mehr als seine Demokratie. Jeder, der den deutschen Pass hat, ist berechtigt, die Politik dieses Landes, seine Steuergesetze und seine Auslandseinsätze mitzubestimmen. Aber nicht alles, was von Bedeutung ist, kann durch Berechtigungen erzwungen werden. Schon gar nicht die Kultur. Schon gar nicht die Nationalität. Deutschland ist keine Willensnation. Sondern eine Natur- und Kultur-Nation. Abstammung und Gedächtnis. Genetische und geschichtliche Kontinuität. Tradition, Erbe, Dankbarkeit, Stolz, Scham.

An keinem Beispiel lässt sich dieser Sachverhalt besser demonstrieren als am transgenerationalen Trauma der Höllenfahrt mit Hitler. Was sollen Menschen, die vor ein paar Jahren nach Deutschland eingewandert sind und jetzt den deutschen Pass ausgehändigt bekommen, anfangen mit dieser Sache, die für das Selbstverständnis der Deutschen so elementar wichtig ist? Was hat ein Iraner, ein Kenianer, ein Kolumbianer mit Hitler, den Juden, den Gaskammern, der SS, den Leichenbergen zu tun? Wie kann er sich dafür schämen? Wie kann irgendein Mensch, der keinen einzigen Vorfahren hat, der während der Nazizeit Deutscher war, jemals Deutscher werden? Er kann es nicht. Er kann es so wenig, wie ein Deutscher, der nach Israel auswandert, sagen kann, sein Volk habe die Shoa überlebt, und er sei Angehöriger des Opfervolks, oder dergleichen. Das wäre wirklich mal ein Fall von illegitimer „kultureller Aneignung“.

Natürlich ist der Holocaust nicht alles am Deutschsein. Ich nehme dieses Beispiel, weil es das derzeit stärkste nicht-biologische Element deutscher Identität darstellt, und geeignet ist, selbst „einem Esel von Ausländer“ (Thomas Mann) begreiflich zu machen, dass man nicht einfach so, per Sprechakt und Stempel Deutscher werden kann.
Wie kann man es werden? Erstens durch Sex, und zweitens durch Liebe.

1. Migranten können dafür sorgen, dass ihre Kinder Deutsche werden, indem sie sich per Gattenwahl „einmischen“. Wenn der Achmed das Lieschen heiratet und deren Nachnamen annimmt, und wenn deren gemeinsamer Sohn dann Fritzchen Müller heißt, dann müssen wir über diese ganze bekloppte Frage, wem das Land gehört, gar nicht mehr reden. Dann müssen wir auch nichts mehr aushandeln. Und Fritzchen kann sich ganz natürlich, ohne Fantasieverrenkungen, für Hitler schämen.
Wenn der Achmed aber die Yasmine heiratet, und deren Kinder und Kindeskinder in alle Ewigkeit weiter „unter sich“ bleiben wollen und sich vorsätzlich nicht einmischen und assimilieren wollen, dann bekommen wir die Probleme, die wir heute schon haben. Und ich sehe schlichtweg keinen guten Grund, warum ich mit denen, die mir durch ihre Parallel-Lebensweise derart klar zu verstehen geben, dass sie keine Deutschen sein wollen, irgendetwas, was dieses Land betrifft, neu aushandeln sollte. Am besten noch mit Hilfe eines Übersetzers …

2. Das mit der Liebe erlaube ich mir mittels eines Selbstzitats aus einem demnächst erscheinenden Buch zu illustrieren. Dort sagt eine Figur: „Wenn man mich bäte, einen Einwanderungstest zu designen, so würde er ungefähr folgendermaßen aussehen: Beweisen Sie uns, dass Sie Deutschland lieben! Irgendwie. Lassen Sie sich was einfallen. Beweisen Sie, dass Sie das deutsche 19. Jahrhundert lieben, beweisen Sie, dass Sie den Wald lieben, beweisen Sie, dass Sie zumindest rudimentär romantisch veranlagt sind … Sprache, Bildung, Hautfarbe, Religion, Qualifikation, politische, sexuelle, weltanschauliche Orientierung: Ist uns alles scheißegal. Aber echte Liebe wollen wir sehen. 30 Minuten, ab jetzt. Uuuund los!

Ja, das ist ein wenig albern. Aber es ist auch todernst. Wie das mit dem Wunder der Liebe nun mal so ist. Und es ist der Grund dafür, warum jemand wie beispielsweise Imad Karim ohne jeden Zweifel ein Deutscher ist, und warum diesbezüglich bei sehr sehr vielen, die so ähnlich heißen, vielleicht doch gewisse Zweifel angebracht sind.


Dienstag, 05. September 2023

Hielt des Nachts eine Rede vor Studenten der Eibl-Eibesfeldt-Akademie, Weimar, Park an der Ilm. Spätsommerliches Flanieren unter Sternbildern und Lampions. Gläsergeklirr, Feuerschalen, Stelzenläufer und Stehgeiger in klassizistischer Kledage, ferne Karussellmusik.

Liebe Kommilitonen – Sie gestatten diese Anrede, denn auch ohne immatrikuliert zu sein, betrachte ich mich alten Studiumsabbrecher doch als jemanden, der eben zur Kompensation seiner schmachvollen Zertifikatslosigkeit zum lebenslänglichen Studieren geradezu gezwungen, ja verdammt ist –, liebe Mitstudenten also, werte Studis aller Geschlechter, aller Couleur und Abstammung: Der Asta Ihrer kleinen feinen Hochschule bat mich, im Rahmen einer Vortragsreihe zur schöngeistigen Untermalung des Ethologischen Sommer-Symposiums ein paar sachdienliche Bekenntnisse und Geständnisse zu einem Thema meiner Wahl beizusteuern. Nun, dem will ich gern nachkommen, so gut ich kann. 

Man versicherte mir, das hier sei ein Ort der offenen Aussprache, ein Ort gelassener Toleranz … wissen Sie, beim Stichwort Toleranz denkt man ja gemeinhin an den alten Preußen-Fritz und den Spruch vom Seligwerden nach der eigenen Fasson … mir gefällt aber – ohne mich jetzt hier über Gebühr einschleimen zu wollen – die Weimarer Toleranz noch viel besser als die von Sanssouci … Sie kennen doch diesen Brief Goethes, wo er Schillern zum ersten Mal zu sich nach Weimar einlädt? Nein? Dann hören Sie mal:

Blabla „[…] hätte ich Ihnen einen Vorschlag zu thun: Nächste Woche geht der Hof nach Eisenach, und ich werde vierzehn Tage so allein und unabhängig seyn, als ich sobald nicht wieder vor mir sehe. Wollten Sie mich nicht in dieser Zeit besuchen? bey mir wohnen und bleiben? Sie würden jede Art von Arbeit ruhig vornehmen können. Wir besprächen uns in bequemen Stunden, sähen Freunde die uns am ähnlichsten gesinnt wären und würden nicht ohne Nutzen scheiden. Sie sollten ganz nach Ihrer Art und Weise leben und Sich wie zu Hause möglichst einrichten. […] Vom vierzehnten an würden Sie mich zu Ihrer Aufnahme bereit und ledig finden. Biß dahin verspare ich so manches das ich zu sagen habe und wünsche indessen recht wohl zu leben.“

Und Schiller antwortet:
„Mit Freuden nehme ich Ihre gütige Einladung nach W. an, doch mit der ernstlichen Bitte, daß Sie in keinem einzigen Stück Ihrer häußlichen Ordnung auf mich rechnen mögen, denn leider nöthigen mich meine Krämpfe gewöhnlich, den ganzen Morgen dem Schlaf zu widmen, weil sie mir des Nachts keine Ruhe laßen, und überhaupt wird es mir nie so gut, auch den Tag über auf eine bestimmte Stunde sicher zählen zu dürfen. Sie werden mir also erlauben, mich in Ihrem Hause als einen völlig Fremden zu betrachten, auf den nicht geachtet wird, und dadurch, daß ich mich ganz isoliere, der Verlegenheit zu entgehen, jemand andres von meinem Befinden abhängen zu laßen. Die Ordnung, die jedem andern Menschen wohl macht, ist mein gefährlichster Feind, denn ich darf nur in einer bestimmten Zeit etwas bestimmtes vornehmen müssen, so bin ich sicher, daß es mir nicht möglich seyn wird.
Entschuldigen Sie diese Präliminarien, die ich nothwendiger weise vorhergehen laßen mußte, um meine Existenz bey Ihnen auch nur möglich zu machen. Ich bitte bloß um die leidige Freyheit, bey Ihnen krank seyn zu dürfen.“

Und Goethe so mit einer Selbstverständlichkeit, die begütigend versichert, dass hier jedes weitere Wort ganz überflüssig ist:
„Haben Sie Danck für die Zusage kommen zu wollen. Eine völlige Freyheit nach Ihrer Weise zu leben werden Sie finden. Haben Sie die Güte mir den Tag anzuzeigen wenn Sie kommen, damit ich mich einrichte.“

Na? Und? Was sagen Sie? Ist das der Hammer? Oder ist das der Hammer? – Nun gut, wahrscheinlich muss man ein wenig Erfahrung haben im Kranksein, um sich davon derart angesprochen zu fühlen – was von jungen Menschen vielleicht zu viel verlangt ist –, aber ich für meinen Teil finde, Toleranz heißt nicht nur, jeden nach seiner Fasson glücklich werden zu lassen, sondern mehr noch: jeden nach seiner Fasson krank sein zu lassen. Krank in jedem metaphorischen Sinne des Wortes: leidend und unglücklich und existenziell unordentlich. Anders und merkwürdig.
Aber das nur vorab und zum Aufwärmen. Nicht über Toleranz will ich hier sprechen, sondern über …

Und wie immer klingelt der Wecker, wenn es gerade interessant wird.

* * *

„Der Mensch ist nur da ganz Mensch, wo er spielt.“
(Schiller)

„Der Mensch ist vielleicht da am ganzesten Mensch, wo er mit einem Tier spielt.“
(Ludwig)

„Der Mensch ist auf jeden Fall da am unsympathischsten, wo er ein Wesen, das spielen und sich des Lebens freuen könnte, aufspießt und auffrisst.“
(Noch mal Ludwig)

Man soll Tiere nicht zu sehr vermenschlichen, heißt es. Einverstanden. Aber dann sollte man auch den Menschen nicht zu sehr vermenschlichen. Alles, was spielt, Füchse, Schweine, Murmeltiere, Bären, etc. kann der Mensch problemlos verstehen. „Verstehen“ im Sinne von: sich einfühlen in die grundlegenden Befindlichkeiten und Aggregatzustände der Seele. Spielen ist Individuation. Du-Evidenz und Ich-Differenz. Es ist überhaupt nicht einzusehen, warum in diesen Tieren etwas prinzipiell anderes vor sich gehen sollte als in spielenden Kindern. Man sollte Tiere nicht vermenschlichen, man sollte sie verkindlichen.

Spielen Igel? Spielt das Schnabeltier? Keine Ahnung. Krokodile spielen nicht, würde ich sagen, Amseln spielen nicht, Karpfen, Unken, Wanzen, Spinnen, Zecken spielen – soweit ich weiß – nicht. Spielen Antifanten? Spielen Politiker? Spielen all diese Aktivisten, Wokisten, Polit-Pietisten? Die einen spielen noch nicht, die anderen spielen nicht mehr. Sicherheitshalber sollte man einfach weder Schnabeltiere noch Klimakleber essen.

* * *

Alles deutsche Denken nach 1945 ist ein Denken im Schatten von Auschwitz, im Ascheregen, im Durcheinander des Schreiens und Schweigens, im Feuerschein all der Fragen, auf die es keine Antworten gibt, die uns Ruhe finden ließen.
Ich bin der Letzte, der für einen Schlussstrich plädiert, aber ich plädiere für einen Trennstrich. Zwei Sphären, zwei mentale Modi, zwei Hälften des moralischen Daseins: das Hiersein und das Dortsein. Das eine ist das eine, das andere ist das andere, um es mal sehr verständlich auszudrücken.

Wir haben das Holocaust- und Auschwitzgedenken zu einer zivilen Gespensterreligion ausarten lassen. Ich will das an dieser Stelle nicht groß analysieren. Es ist so passiert, und vielleicht war es eben unter diesen entgeisterten deutschen Zeitumständen und angesichts dieser entleerten deutschen Seelen nicht anders möglich. Und wenn die Anbetung des Spuks das einzige ist, was uns hindert, wieder Leichenberge zu produzieren, dann nur her mit all den tumben Tabus und den Salbadereien und den betroffenen Präsidentenmienen. Gehen wir in unsere Holocaustkirchen, erheben wir die Herzen und versenken wir uns ins Unsägliche.
Aber wenn wir hinausschreiten aus der Kirchenkühle in den sonnigen Sonntagvormittag, ins klare weltliche Leben, dann müssen wir die Schatten abschütteln, müssen mit magischer Kreide die magische Trennlinie zwischen uns und das Totenreich aufs Pflaster ziehen und in der Welt leben. – Der Mensch soll um des Klarblicks für den wirklichen Antisemitismus willen den Gespenstern keine Herrschaft einräumen über seine Gedanken.


Mittwoch, 06. September 2023

Auf dem Rad.
Was sehe ich? Ich sehe einen Menschen, der zur Wahrheit vordringen will. Jeder Ort des Universums ist der richtige dafür, jeder Ort hebt sich in die Höhe, wenn er erkannt und zur Gänze ausgesprochen wird. Zur Gänze oder wenigstens zu Tiefe. Zur Schönheit. Zu jener Form der Schönheit, die eine Erscheinungsform der Wahrheit ist. Es gibt diese Form der Schönheit, die im Moment ihres Aufscheinens die Richtigkeit des Universums beweist. Und es gibt sie überall in der Welt. Sogar hier, in mir und meiner Heimat.

Was sehe ich? Ich sehe dich mit deinem graubraunen Fell, deiner feuchten Nase und deinem verpennten Blick, wie du halb und zum ersten Mal wohl aus deinem Stall in die Welt hinausblickst. Ein bisschen dumm siehst du aus, wie du da blinzelst und nichts verstehst von den menschengemachten Merkwürdigkeiten, in die du hineingestellt bist. Weil du nun mal kein Menschenkind bist, sondern ein Kälbchen. Und ich, als wäre ich das erste fremde Wesen, das du siehst nach der Mutter, ich sause vorbei als schwarzer und weißer Fremdling, Feirefiz und fliegender Pfeil.

Was sehe ich? Ich sehe die langsamsten Stunden, trocken und raschelnd und tausendfach gelb, die Pracht vor dem Sterben, alternder Sommer vor nahendem Winterschlafsgrau. Welten im Wunder, das Leben will leuchten, zur Reife sich welken die Sterne des Waldes, als tanzende Stämme und spielende Schatten. Gegenlichter, luftige Linien, zitternde Spinnfäden träg in die Tage gehängt. Hüglige Lande, heimliches Relief für Träumer und trunkene Todesbesinger. Steilhang zum Scheine, klettern und rollen, summen und schreien, so hätte sie sollen, die elende sehnende Seele, und mindestens singen und mindestens klingen nach Stimmen des Waldes, nach Stille der Welt.

Ach, dieses Land. Dieses schöne, wunderschöne Land. Wenn man nur drin leben könnte.

* * *

Die Idee einer „Akrotopie“ verfolge ich seit etwa vier Jahren, seit ich diesen Begriff für eine Passage meines Stauffenberg-Buchs erfand, das heißt: ich schrieb ihn nieder in der Annahme, dass es das Wort bereits gebe, dass ich wohl kaum der Erste sein konnte, dem einfiel, damit einen Idealort zu beschreiben, der nicht nur irgendwie fern und unerreichbar und irreal ist, dessen Idealität und Sagenhaftigkeit vielmehr in seiner Höhenlage zum Ausdruck kommt, „Höhenlage“ in jeder Bedeutung des Wortes.

Das zu schreibende Buch hatte in meinen Notizen und Hinterkopfgedanken bis vor Kurzem den Titel „Akrotopia – Ein Gedicht“, es sollte etwas Hölderlin-mäßig Hymnisches werden, ich wollte versuchen, den höchsten und heiligsten Ton, der mir möglich war, zu treffen und zu halten über hundert Seiten, um irgendwie das Abendland, das achtlos dem Absterben überlassene Kulturwunder, in einem letzten großen Gebet zu beschwören. Seht, so hätte es sein können, und ihr werft es weg!

Bis mir neulich dann aufging, dass sich hinter dem Titel keine visionäre Kunst-Demonstration, kein lyrischer Fluch, kein Gebetbuch verbirgt, sondern: ein Heimatbuch. Etwas ganz Einfaches und Erdiges, etwas ganz Irdisch-Topographisches. Beim Radfahren ging es mir auf: Ich bin doch gar kein Visionär, ich hab doch gar keine Gesichte. Bin kein Hexameter-Prophet und schon gar kein Hölderlin. Aber eine Art kritisch-kreativer Seher bin ich vielleicht doch, einer, der bei seinen Radwanderungen die Wahrheiten – das heißt: die einstigen Schönheiten – in die Orte und Dinge hineinsieht. Akrotopia – das ist das Land, jene Ecke des Erdkreises, die ich wirklich, körperlich, als zivilisierter Zellhaufen, der sich über den Erdboden bewegt, kenne; das Land, das ich mir erfahren habe über viele Jahre, ein Stück Welt, das ich handhaben kann, durch die Zeit bewegen und mit Geschichten und Gedichten besingen, beleuchten, beleben kann. Aber das klingt schon wieder zu ambitioniert … nein, eine Reportage soll es bloß werden, eine psycho-lyrische Reportage, eine Reise durch meine Landschaft, meine Lebensradien und eine Bestandsaufnahme meiner Möglichkeiten, Fühlung zu nehmen mit den hohen Zeiten und den hohen Orten des südlichen Ruhrlands. Denn dort lebe ich. – Äh, nein, leben tu ich leider woanders, und zwar im endgültigsten Brachland, in bröckelnder Agglomeration, unter grauen, prosaischen Millionen, zwischen Abraumhalden und Jahrhunderthallen, alles hier ist Autobahn und Weltkulturwahn, Strukturwandel und Resteverwertung, Gewerbegebiet und Grünanlage. Alles angelegt, nichts gewachsen. Alles gemacht, nichts geworden. Alles im Sterben und totgeboren. Zutraulich-trostloser Menschenschlag, herzlich und offen, offen wie eine Not-OP und ein frisches Grab mit Blick aufs Kirchhofsklo. Pulsschlag aus Schlacke, polyzentrischer Zusammenhang, West-Ost-Ausdehnung ohne erkennbare Grenzen. Siedlungszone, Metropole und transitorischer Ballungsraum. Flyover-Germany. Da lebe ich. Aber ich muss zum Glück nur einen Hügel rauf und einen Berg runter fliegen und über den Fluss rollen, dann bin ich woanders, ganz woanders, im Süden, da wo ich hingehöre und doch wohl niemals sesshaft werden soll. Ich wandere nur flüchtig und fahrig hindurch.

Was sehe ich, wenn ich den Königsplatz im Gethmannschen Garten sehe? Was sehe ich, wenn ich die Liebesgeschichte Hoffmanns von Fallersleben auf Haus Hove sehe? Was sehe ich, wenn ich unter dem Erker der Kinderwohnung Ernst Noltes stehe und die Hattinger Hitleristen über die fackelflackernde Bahnhofstraße paradieren sehe? Was sehe ich, wenn ich den jungen Nietzsche mit Freund Deussen in den roten Bergen von Schwelm spazieren sehe? Was sehe ich, wenn ich den heiligen Spring im Halbmond glitzern sehe, den Isenstein glänzend vom Blute schreiender Lämmer und Jungfrauen? Was sehe ich, wenn ich Henry van de Velde und den armen Karl-Ernst Osthaus über das damals schon schäbige und heute zur finstersten Vorhölle verlotterte Hagen verzweifeln sehe? Was sehe ich, wenn sich mein Vorfahr aus dem südlichen Bergland dort hinunter gesellt, ein paar Jahre später, wie er Brote backt und Brautbriefe schreibt und nachts die Kakerlaken trapsen hört? Sein Weg sich kreuzt mit Heines Kutsche und Nenas Dreirad, ein paar Weiler weiter, vor dem Blindschleichenwald ankert ein Schiff, Felsenmeer und Waldkathedrale, Kreuzweg und Zonengrenze hoch auf dem Grat, my private Zauberberg, Liegehalle, Lourdes und Abtsküchenkrater, träge Mäander, Sumpfbiber-Delta, wo alles sich durchwälzen muss, um in mein eigenes seltsames, nicht von der Stelle seiner Geburt wegzubewegendes Leben zu münden. Was sehe ich, wenn ich durch Langenberg fliege, durch den Tunnel ins Tessin, durch das Koettgen-Porträt in den Kunstpalast und das Barmen des jungen Engels? Die Colsman-Villen und der Georgekreis, die Wesendonck-Lieder und der Goldzug der Nazis, alles ist hier, hier oben in meinem Land, meinem Hochland und Zwischenreich, zwischen mir und dem Land meiner Väter und Mütter. Das Leben hat mich verschlagen, und für Menschen wie mich gibt es nur den Weg nach oben, nach Süden, nach Westen, nach Abend und Mittag, in ein neues Gestern, wo alles noch da ist und wieder werden kann, was sterben musste gegen seinen Willen und gegen den meinen. Ausschnitte und Mediane. Ich bin ein Mensch des Mittelgebirges, der Überfahrt durch die Halbhöhe der Hügel. Eisgipfel und Hochplateaus werde ich nicht finden, aber vielleicht ein paar feierliche Aussichten aufs Abendland. Das Äußerste der Gegenwart. Heimat und Ekstase. – Wo ich bin, ist Akrotopia.

Tja, das kommt dabei raus, wenn man auf dem Fahrrad textet …


Donnerstag, 07. September 2023

Gestern ausgiebig Shoppen bei Koppen*. Laut Tagesschau & Co. steht der Weltuntergang unmittelbar bevor. Da gilt es, schnell noch den Prepperkeller mit Dosenbrot und Notstrom aufzufüllen. Später dann nach Rezept aus einem alten Vegan-Kochbuch von Attila Hildmann eine Ananas-Yofu-Amaranth-Torte für meine gefräßige Gemahlin gezaubert. Extrem schmackhaft, beinahe schon extremistisch schmackhaft, höhö. Erinnere mich, dass eine Freundin vor circa zwei Jahren allen Ernstes ihre A.H.-Bücher sämtlich in die Tonne geschmissen hat, nachdem der so abgespaced ist. Und die hatte alle sechs oder sieben … Vegan for Fun, Vegan for Future, Vegan for Schießmichtot. Da ich was gegen das Wegschmeißen von Wertgegenständen im Allgemeinen und gegen Biblioklasmus im Besonderen habe, versuchte ich seinerzeit zu bedenken zu geben, dass man doch zwischen Person und Werk unterscheiden müsse.
Beim Tennis vielleicht, aber nicht beim Essen, erwiderte sie. Sie könne ihren Kindern doch kein Halfmoon-Saté servieren, bei dem man immer an einen Typen in Jogginghose denken müsse, der durch sein Megaphon schreit „ich bin ultrarechts!“
Das hat er geschrien?, fragte ich.
Irgendwie so was halt, gab sie zurück, und dann noch was mit Bill Gates und Merkel und KZs auf dem Mars … Mann, sie schreibe sich doch nicht auf, was irgendein Nazi-Clown für Sprüche klopfe.
Darauf entspann sich dann noch ein Hin-und-Her, wo genau denn eigentlich „ultrarechts“ anzusiedeln sei. Das Ergebnis war folgende Reihe, die übrigens weitgehend identisch sein müsste mit dem Crescendo der politischen Bekämpfungswürdigkeit im Gefühlshaushalt deutscher Journalisten: Liberalkonservativ – konservativ – ultrakonservativ – rechts – ultrarechts – rechtsradikal – Satan – rechtsextrem – rechtsextremistisch – Fascho – Nazi – AfD.

Das mit dem Koppversand muss ich bei der Gelegenheit vielleicht kurz für unsere Zuschauer einordnen. Vor einiger Zeit hab ich mein erstes Buch aus dem sagenumwobenen Verlag erstanden. Ich las und wunderte mich. Bei jedem Umblättern dachte ich: „Jetzt muss doch mal irgendwas mit Ufos kommen, oder über Babys, die mit Leguanblut gestillt werden. Oder wenigstens ein Foto von Eva Hermann, der legendären Tagesschausprecherin, die den Dienst quittierte, um zur Grande Dame der kryptorechten Verschwörungsesoterik zu mutieren.“ Aber dann kam immer nur Luhmann’sche Systemtheorie und so seriöses Zeug. – Egal, das Buch war sehr lesenswert, aber noch viel interessanter und amüsanter war der Katalog, den man mir mitgesandt hatte. Ein Druckwerk von allererlesenster Unterhaltsamkeit. Stundenlang kann man dadrin rumschmökern und die abenteuerlichsten Sachen finden, die es noch nicht mal auf irgendwelchen Special-Interest-Verkaufssendern auf Kanalplatz 274 zu bestellen gibt. Ich mein jetzt nicht primär die „Bücher, die Ihnen die Augen öffnen“, sondern das Selbstversorger- und Survival-Segment.

Ich muss erklärend vorausschicken, dass ich massiv vorbelastet bin, was diese Art von Galanteriewaren betrifft. In meiner Jugend gab es eine Phase, die man vielleicht am ehesten mit dem Etikett Military-Zünftigkeit kennzeichnen könnte. Ich vermute, wir waren etwa fünfzehn … wir waren eine Band und machten außer Musik all den Schwachsinn, den man halt macht, wenn man zu fünft den ganzen Tag rumhängt und noch nicht weiß, dass es irgendwann mal ein Internet geben wird, mit dem man die Zeit rumkriegen und seine Jugend verplempern kann. Wir guckten Konzertvideos von Iron Maiden, den Scorpions und U2, rauchten stangenweise Dunhill von der praktischerweise häufig abwesenden Mutter unseres Keyboarders, die uns – wenn sie mal nach Hause kam – gern behilflich war, an Ü18-Filme aus dem Videoland 2000 zu gelangen, die für unsere zarten Gemüter deutlich zu blutrünstig und zu beeindruckend waren, kurz: Wir machten so dies und das.

Einmal hatten wir eine Phase, in der wir jeden Tag „Das Boot“ guckten, aber nicht den Film, sondern den Sechsteiler, so oft und so lange, bis wir alles mitsprechen konnten. Und irgendwoher fiel uns dann zeitgleich so ein Mini-Katalog von so einem Outdoor-Army-Laden in die Hände, und darin gab es so Seemannspullis wie der KaLeu und der LI sie trugen. Am nächsten Tag musste Schwester Kirsten uns alle in ihrem Passat in die Nachbarstadt kutschieren, und in dem abgefahrenen, irgendwie halblegal anmutenden Laden kauften wir dann nicht nur für jeden einen dunkelblauen Reißverschluss- und Rollkragen-Troyer aus knisterndem Polyester, sondern auch noch Bundeswehrrucksäcke, Multifunktionstaschenmesser, Sturmfeuerzeuge und Feldgeschirr. Was man halt so braucht im Proberaum und auf dem Schulklo. 

Ein paar Tage später zog dann unser Bassist statt seines Samson-Drehtabaks eine Herbert-Wehner-mäßige Pfeife aus der Tasche, die er sich beim Lottomann um die Ecke gekauft hatte, was allgemein für hochgradig krass und cool befunden wurde, sodass wir umgehend loszogen, um für alle Mann Pfeifen nebst Zubehör und natürlich Tabake in allen Aromarichtungen zu erwerben. Und dann saßen wir ein paar Wochen lang wie eine U-Bootbesatzung geisteskranker Kindersoldaten vor der Glotze, rauchten und schmauchten und guckten zu, wie Semmelrogge von den kreisenden Tommys und den Quetschkräften des Wasserdrucks näselte, oder wie Bono Sunday Bloody Sunday sang und mit großen Gesten die Welt erlöste. 

Die Pfeifenphase endete, als einer von uns eine Dose Schnupftabak anschleppte und uns glaubhaft machte, dass das jetzt echt die absolute Krönung der Zünftigkeit sei. Danach komme nur noch Schützengraben. Also schnupften wir ein paar Tage lang, und liefen mit schwarzen Nasen und tränenden Augen rum, bis wir merkten, dass das echt eine Spur zu bescheuert war. Mann, wir waren fünfzehn, wir waren doch keine vierzigjährigen Oppas!

Aber bevor ich jetzt hier meine sündige Jugendzeit komplett ausrolle und mir dabei noch irgendwelche Aiwanger-Pamphlete aus dem Ranzen fallen, komm ich jetzt doch lieber mal endlich zum Kopp-Katalog, denn um den ging’s doch eigentlich. Wenn ich den so durchblättere, fühl ich mich nämlich quasi zeitmaschinenmäßig an diese Glory Days erinnert. Ist heute alles ein bisschen moderner und technischer, aber spricht irgendwie dieselben Hirnareale an. Und zwar nicht die, wo das rationale Denken sitzt. Nein, Sir, definitiv nicht. Kopp-Katalog ist nix fürs Großhirn. Kopp-Katalog ist Soulfood für den Hippocampus.

Was gibt es da für herrliches Überlebensequipment! Sturmlaternen und Wachsfackeln, Suchscheinwerfer und Raketenöfen, Allesbrenner und Lichtbogenanzünder. Muss ich alles haben, gar keine Frage. Wenn die Welt untergeht, werde ich noch tagelang überm Raketenofen Panzerplatten rösten, denn, yes Ma‘am, die gibt’s da auch. Panzerplatten nennt der Wehrdienst-Veteran die von der Zahnarztlobby gesponserten Hartkekse, die fester Bestandteil des Notrationspäckchens waren, welches man auf 36-Stunden-Übungen mit sich führte, um … keine Ahnung warum … um den Rucksack schwerer zu machen, nehm ich an, denn essen konnte man die Dinger nicht. Aber man konnte sie einweichen, um mit dem so entstandenen Kleister Transport-Hubschrauber am Abheben zu hindern oder zwei schlafende Unteroffiziere an den Köpfen zusammenzukleben.

(Fortsetzung morgen …)

* Da man heute an deutschen Schulen und Unis vermutlich keine Texte aus toxischen Jahrhunderten mehr liest: „Koppen“ ist der alte Dativ von „Kopp“. Und da man zu historischen Grammatikfragen im angeblich so allwissenden Internet erst nach langer Recherche etwas Belastbares findet, füge ich hier zur zeitlichen Entlastung meiner morphologisch interessierten Leserschaft ein amtliches Belegstück an:
„Bei der Declination der Eigennamen, die keinen Artikel vor sich haben, ist zu bemerken, daß die männlichen die auf eine Vocal ausgehen, im Genitiv ein s mit einem Apostroph und im Dativ und Accusativ en haben; diejenigen aber, die mit einem Consonanten endigen, im Genitiv ein s und im Dativ und Accusativ oft en oder n annehmen […]“
Aus Heinrich Brentanos „Deutsche Grammatik und Stilübungen, zunächst für Gewerb- und Realschulen“, Fürth 1852, §55

Deklinationsbeispiel:
Nominativ: Goethe bzw. Schiller
Genitiv: Goethe‘s bzw. Schillers
Dativ: Goethen bzw. Schillern
Akkusativ: Goethen bzw. Schiller(n)

Praktisches Anwendungsbeispiel: „Goethe kaufte Schillern bei Koppen den Outdoor-Schlafsack Arctic Extreme 225.“


Freitag, 08. September 2023

* * *

 

Samstag, 09. September 2023

(Fortsetzung von vorgestern)

Also, den Ofen und die Kekse nehm ich schon mal auf jeden Fall. Allerdings scheint es ratsam, vor der Bestellung erst mal das Budget ein wenig aufzubessern. Und da mein Publikum mehrheitlich offenbar nicht gesonnen ist, seine Millionen in die Fortexistenz von Ludwig’s Luxusbloggerei zu investieren, werd ich es behelfsweise mit den bewährten Allgäuer Wunscherfüllungskräuterkerzen versuchen. Ich denke, ich sollte direkt einen Zehnerpack des Modells „Wohlstand und Reichtum“ bestellen, und weil ich im Grunde keinerlei Zweifel an der Wirksamkeit des zaubrischen Stearins hege, schreibe ich mir quasi virtuell und provisorisch schon mal eine mittelhohe fünfstellige Summe gut, worauf ich den Bestellvorgang frohen Mutes und finanziell gefestigt fortsetze.

So, was nehm ich denn jetzt noch alles … ?
Absolutes Must-Have: der Selbstverteidigungsschirm. Ich hab mir zwar kürzlich erst einen riesigen Golf- oder Portiersschirm gekauft, aber der ist irgendwie nicht stabil genug, nicht schwer genug, wenn es gilt, im Nahkampf lästige Spitzbuben zu vertreiben oder ins Koma zu prügeln. Ich hatte erwogen, den bestehenden Schirm mit einem schwereren Knauf auszustatten, hatte mir dazu auch schon verschiedenfarbige Plutonium-Kugeln zur Ansicht kommen lassen, aber wenn die von Kopp das fertige Wehrgerät liefern, dann kann ich mir die Bastelei ja sparen. Etwas irritieren tut mich nur das Szenenbild zum Produkt, also das, was bei Lebensmittelillustrationen „Serviervorschlag“ heißt. Da sieht man, wie ein rüstiger Senior (könnte Wolfgang Bosbach sein) vor Tiefgaragenkulisse dem finsteren Angreifer die Schirmspitze in den Solarplexus rammt. Das krieg ich mit meinem Riesenknirps zur Not auch noch hin, ich will aber keinen aufspießen – das gibt ja voll die eklige Sauerei –, ich will sehen, wie der Bosbach dem Räuber den Kugelknauf über die Glocke haut, und ob das abwehrtechnisch funktioniert, ohne dass dem das Gehirn aus dem Schädel splasht und einem am Ende noch den graumelierten CDU-Anzug versaut. Ich mein, bevor ich meinen guten Westbury-Dreiteiler blutbesprenkelt in die Altkleidertonne schmeiße, kann ich dem mazedonischen Hotzenplotz auch gleich mein Kleingeld aushändigen. – Egal, Schirm in den Warenkorb und weitershoppen.

Auch wichtig, in unseren bunten Zeiten, wo den Fußgängerzonis und den Party People das Obstmesser schon mal etwas lockerer sitzt: das Schnittschutz-Halstuch! Es wurde entwickelt, „um die wichtigen Arterien am Hals zu schützen“, erklärt das Kopp-Erklärexpertenteam. Und wenn es um Arterienschutz geht, bin ich – wie wohl niemand ernsthaft bezweifeln wird – ganz vorn mit dabei. Arterienschutz kommt für mich gleich nach Artenschutz – also direkt drei von den „MTP-X-Protection®-Faser“-Lappen in den Einkaufswagen, würd ich vorschlagen.

Im Vorbeigehen packen wir schlankerhand noch den „taktischen Kugelschreiber“ ein, der nicht nur als Schraubendreher, Notfallhammer und Zeichenstift dienlich ist, sondern auch im Ernst- und Verteidigungsfall seinen Einsatz findet. Einfach dem Angreifenden in den Solarplexus rammen und die LED einschalten! Vampire zerfallen zu Staub, Werwölfe, Clowns und Orks zerfließen zu Schleim, Zombies sollten sich dreimal um die eigene Achse drehen, unter Gurgeln und Zischen aufblähen und dann effektvoll in Super-SloMo explodieren. Wohl dem, der einen taktischen Schirm dabei hat …

Überhaupt scheint mir der Begriff des „Taktischen“ in den letzten Jahren eine erhebliche Bedeutungserweiterung erfahren zu haben und den Begriff des „Praktischen“ immer mehr ersetzen zu wollen. Mir begegneten jüngst nicht nur taktische Handschuhe, taktische Hosen, taktische Gürtel und taktische Taschen, sondern auch taktische Sonnenliegen und taktische Kaffeekannen. Letztere allerdings nicht beim Kopp-Versand, obwohl es da auch eine große Abteilung für intergalaktische und parafaktische Porzellanwaren gibt, ich meine jetzt den UFO-Sektor. Den gab es – soweit ich mich erinnere – damals in unserem Army-Laden noch nicht, heute aber scheint eine Kundschaft herangewachsen zu sein, die die diversesten Ideenwelten problemlos in sich koexistieren zu lassen versteht. Okay: UFO-Bücher und Pfefferspraypistole mit Laserzielhilfe krieg ich thematisch noch halbwegs zusammen, aber wie passt der Infrarot-Dörrautomat dazu? Den kenn ich eher aus der Rohköstler- und Entsafterszene. Das Fermentierglas und die Hummelpension, das basische Badesalz und die ayurvedische Xylit-Zahnpasta würde ich jetzt auch eher weniger im Rucksack der Navy-Seals oder in den Forschungskatakomben unter Area 51 vermuten. Im Kopp-Kosmos aber geht das alles schönstens zusammen. Gelebter Pluralismus, wie er im Kataloge steht.

Beliebt scheinen bei der Kopp-Community außerdem Produkte mit Großmuttergarantie zu sein, es gibt da Omas großes Gesundheitsbuch, Einmachrezepte aus Omas Küche und Omi’s klassische Eintöpfe in den Varianten Erbsen, Hühner, Linsen (nur echt mit dem Deppen‘apostroph). 

Da so eine grundgütige Omi als Testimonial immer zieht, vor allem bei Wellness- und Survivalartikeln, schlage ich den Kopp-Strategen hiermit ganz pro bono vor, noch weitere Produkte dergestalt zu bewerben. Denkbar und naheliegend wären etwa Omi’s Weithalsfässer, Omi’s Powerstation oder Omi’s Antitracking-Handyhülle. Reißenden Absatz sehe ich auch bei Omi’s Zirbeldrüsen-Ratgeber und Omi’s Spermidin voraus – Wohlbefinden wie zu Rotkäppchens Zeiten.

Aber ich schweife ab … ich suchte doch eigentlich vor allem nach U-Boot-Zubehör, denn das ist ja letztlich meine ureigenste Themenwelt, auf die ich geprägt und konditioniert bin. Wolfgang Petersen und Jürgen Prochnow sind meine Krafttiere, da hilft jetzt kein Großmutter-Schröpfkopfset und keine Schweizer Armeedecke mehr, ich brauche Tools fürs Überleben unter Wasser, und davon gibt es zum Glück reichlich bei Kopp: 

Zunächst mal muss natürlich die mentale Verfassung gewährleistet sein. Ohne das Edelstein-Set „Zuversicht und Lebensfreude“ funktioniert in 280 m Tiefe gar nichts, so viel ist sicher. Also, her damit, eine Palette an Bord, und die Feindfahrt wird zum Detox-Weekend. Die Dinger schwingen nämlich in den wissenschaftlich erwiesensten Frequenzen und verbreiten bei Kontakt mit Wasser Gelassenheit, Energie und die richtigen Lottozahlen. Wie die Bergkristallspitzen auf Meerwasser reagieren, steht da leider nicht, deshalb nimmt man zur Sicherheit am besten gleich noch die mobile Osmoseanlage von Smardy dazu. Ich mein, wenn die Leitungswasser in ein leckeres Lebensmittel verwandeln kann, dann wird die auch die Fluten des Nordatlantiks zu entsalzen wissen. Das Teil arbeitet nach den bewährten Rezepten von Mutter Natur und ist nicht nur in der Lage, Babynahrung für eine ganze U96-Crew zuzubereiten, sondern auch britische Funksprüche zu dechiffrieren. Die neueste Generation soll sogar schon erste Erfolge bei Robert Habecks Metaphern verzeichnen.

Und wie serviert man dem Kommandanten nun das aufbereitete Wässerchen? Am besten doch wohl in einer Vitalkaraffe mit Zirbeldrüsendeckel, äh pardon: Zirbenholzdeckel natürlich. Die Zirbe ist der zeitgenössische Powerbaum schlechthin, wie wir Kopp-Kunden wissen, aber die Karaffenkraft kommt in diesem Fall nicht aus dem Holz, sondern aus dem Glas, welches von Fengshui-Spezialisten nach allen Regeln des goldenen Schnitts dahingehend designt wurde, dass es dem Wasser eine Vitalkraft ähnlich derjenigen aus der Quelle von Lourdes verleiht. Tja, da können Oldschool-Druiden wie Miraculix und Konsorten einpacken. Und mag der Smutje auch sonstwas für Aas auftischen – solange die Mannschaft den Fraß mit solchem Weihwasser runterspült, kann der Krieg nicht verloren gehen.

Was gibt’s noch? – Gut, die Sandsäcke für den Hochwasserschutz packen wir jetzt eher mit humoristischem Augenzwinkern in den Warenkorb, aber hey, man will auf wochenlanger ereignisloser Schleichfahrt doch auch mal was zu lachen haben.

Definitiv und allen Ernstes unentbehrlich scheint mir hingegen die Gewichtsdecke. Das Produkt meiner Träume! Mein Leben lang musste ich mir mit Röntgenschürzen, Turnhallenmatten und reichlich unkomfortablen Eigenkonstruktionen aus Terracottafliesen behelfen. Jetzt aber sehe ich: Für schlappe 39,99 gibt es das Ganze auch in bequem – eine 7,5 Kilogramm schwere Decke, die per Glasperlenfüllung eine Drucksituation simuliert „wie eine Umarmung“. Ich bestelle drei davon, nein fünf! Und dann (ab hier bitte Klaus Doldingers Boot-Titelmusik im Hintergrund imaginieren), dann baue ich mir die Original-Koje von Leutnant Werner nach, hol den alten Polyester-Troyer aus dem Keller, stell den Luftbefeuchter auf 300 Prozent, und schlafe unter den zünftigsten denkbaren Druckbedingungen wie ein Fünfzehnjähriger auf dem Meeresgrund, ein von gütigen Schwerkräften Umarmter, der im Traum nicht ahnt, was mit der Welt außerhalb seiner Hier-und-Jetzt-Behaglichkeit, seiner unterseeischen, herrlich unterkomplexen Lebensenge einmal passieren wird. Ich schlafe und träume von einer Welt ohne Internet, einer Welt ohne Medien-„Realität“, einer Welt ohne Windräder, ohne E-Scooter, ohne die Grünen, ohne Corona, ohne Gender-Schwachsinn, ohne Botox-Fratzen, ohne diese ganze Entartung, gegen deren Normalisierung aufzubegehren ich mich immer weniger aufraffen kann, ich träume von einer Welt, die einfach 1985 oder 1995 eingeschlafen und liegengeblieben wäre … ich träume von einem Kopp-Katalog, in dem endlich mal eine funktionierende Zeitmaschine angeboten wird.

Genug geblättert. Jetzt noch ein Pfeifchen, ein paar Panzerkekse, und dann Gut’s Nächtle.


Sonntag, 10. September 2023

Beim Musikhören – Mein Verhältnis zur Politik ist dasselbe wie das zum Puppenspiel, zur Börse, zur Modebranche, zur Betonindustrie, zur mexikanischen Wrestling-Liga: Es ist nicht vorhanden. Oder, mit den Worten eines anderen Unverhältnismäßigen und Desinteressierten gesprochen: Was geht Herrn Nietzsche das Theater an?

Es bleibt dabei: Die Welt ist nur als ästhetisches Phänomen gerechtfertigt. Und die Länder, die Staaten, Völker, Kulturen sind erst recht nur als ästhetische Phänomene zu rechtfertigen. Als Produzenten von Schönheit und Sinn. Eine Kultur, die nichts hervorbringt, die sich nicht überbietet durch Werke von lebensaufrührerischer Ungekanntheit, ein Volk, das sich nicht am Projekt der Menschwerdung von Homo Sapiens beteiligt, ein Land, das nur als Selbsterhaltungsgewese vor sich hinsumpft, ist … nun ja, vielleicht verzeihlich, aber für die Karriere des Universums eben nicht sonderlich gedeihlich. 

Ich sage das, weil ich mich hin und wieder dafür rechtfertigen muss, dass ich Amerika besser finde als ein paar andere Länder.
Ich bin kein Transatlantiker. Ich weiß gar nicht, was das sein soll. Dieses ganze Denken in politischen, gar geopolitischen, geostrategischen Kategorien und Zusammenhängen ist mir zutiefst wesensfremd. Und so soll das auch bleiben. Man kann gegen Amerika alles Mögliche vorbringen. Ein Schurkenstaat durch und durch. Aber irgendwas haben die Schurken halt richtig gemacht. Aus Amerika kommen Nada Surf, Fugazi, REM, Aimee Mann, die Strokes, die Pixies, die Foo Fighters, die Beastie Boys, die Carpenters, die Ramones, die Long Winters, die Lemonheads, Boston, Blink, RATM, Juliana Hatfield, Springsteen. Von Elvis, James Brown, Nirvana, Metallica und tausend weiteren lebenssteigernden, lebenserleichternden, lebensbereichernden Musikanten mal eben abgesehen.
Aus Amerika kommen die Coen-Brüder, Tarantino, Alan Ball, David Lynch, Terrence Malick, Walt Disney, Jim Henson. Von Spielberg, Scorcese, Scott, Stone, Cameron, Coppola, Eastwood, Kubrick und tausend weiteren unterhaltlichen, erquicklichen, erschütterlichen und tröstlichen Traumfabrikanten mal kurz abgesehen.
Wer oder was, zum Teufel, kommt aus Russland? Aus China, aus Japan, aus Indien, Brasilien, Afrika? Ich wünsche den Völkern der Welt nichts Böses, aber wenn morgen ein Meteoritenschwarm durchs Sonnensystem fegte und von unserm verkorksten Planeten blieben nur Europa und Amerika stehen – mir persönlich würde absolut nichts fehlen.

* * *

Spiele mit dem Gedanken, vielleicht doch noch irgendwo eine Doktorarbeit einzureichen … Themen hätte ich genug, zum Beispiel das hier:

Sachen, die immer falsch gesagt werden
(mit leicht verfremdeten Beispielen aus dem realen Mediendeutsch)

1. Falscher Satzanschluss
„Der Präsident der Bundesvereinigung der deutschen Korbflechterverbände, Berthold Graf von Schleckstett, hat die Parteien zu Kompromissen aufgefordert, um eine stabile Regierung zustande zu bringen.“
Dieser Satz besagt, dass Herr von Schleckstett eine stabile Regierung zustande bringen will. Ausgedrückt soll aber doch wohl werden, dass es die Parteien sind, die eine stabile Regierung zustande bringen sollen.
Eine korrekte Formulierung wäre demnach:
„Der Präsident der Bundesvereinigung der deutschen Korbflechterverbände, Berthold Graf von Schleckstett, hat die Parteien zu Kompromissen aufgefordert, damit sie eine stabile Regierung zustande bringen.“
Oder noch korrekter: „ … auf dass sie eine stabile Regierung zustande bringen mögen.“

2. Kongruenz im Relativsatz
„Dem sächsischen Ministerpräsidenten ist es gelungen, seiner Partei den Wahlsieg zu sichern. Nun will Kretschmer Gespräche mit AfD und Linken führen – und er ist einer der wenigen, der ein solches Bündnis überhaupt zusammenhalten könnte.“
Grammatisch korrekt lautet der Satz:
„Dem sächsischen Ministerpräsidenten ist es gelungen, seiner Partei den Wahlsieg zu sichern. Nun will Kretschmer Gespräche mit AfD und Linken führen – und er ist einer der wenigen, die ein solches Bündnis überhaupt zusammenhalten könnten.“

3. „sich generieren“
Es heißt „sich gerieren“. Nicht „generieren“.
Doktor Michel Friedmann sagte die Tage im Radio gefühlt fünfmal (gezählt dreimal), der Aiwanger würde „sich als Opfer generieren“. Dafür, dass er sich selber gern ungeniert als Philosoph geriert, könnte er ruhig hin und wieder mal sein Vokabular zur Inspektion in die Werkstatt bringen.

4. „rechtschaffend“
Es heißt „rechtschaffen“. Nicht „rechtschaffend“.
Und wieso? Weil „rechtschaffen“ von „recht beschaffen“ kommt und nicht von „Recht schaffen“. Ist halt so. Ich erlaube mir regelmäßig diese sprachpflegerische Belehrung, weil ich weiß, dass sehr viele Menschen – ich schätze mal, etwa die Hälfte all derer, die das Wort überhaupt kennen und es hin und wieder benutzen –, dass also eine bedenklich große Anzahl derer, die „rechtschaffen“ meinen – und ich selber gehörte etwa für die Hälfte meines Lebens zu ihnen –, denken, es heiße „rechtschaffend“.

Gut, ob so was jetzt für nen Doktortitel reicht, weiß ich nicht, sicherheitshalber müsste ich wohl noch ein paar Schaubilder dazu malen. Aber ist ja erstmal nur ein Entwurf. Vielleicht lass ich das auch bleiben mit dem Doktor und gründe lieber mein eigenes Sprachinstitut, so mit selbstausgedachtem akademischen Grad. „Koryphaĩos“ vielleicht, oder „Crack“.
„Koryphaĩos Ludwig, Präsident des Deutschen Instituts für Schwere Sprache“. Gefällt mir. Klingt viel besser als Doktor.
„Crack Jay, Chief-Instructor vom paralinguistischen Oberkolleg Bad Schlund am Schlenzersee“. Auch schön.
Ich lass mir mal probehalber Kärtchen drucken.

* * *

Auf „schwere Sprache“ kam ich jetzt, weil ich kürzlich im Radio die „Nachrichten in leichter Sprache“ mitanzuhören Gelegenheit hatte. Das ist so ähnlich wie Gendersprache, nur viel lustiger. Der Satz: Der Präsident der USA sagte dies und das …, lautet in diese Sprache übersetzt (ungelogen) so: Der Präsident von der USA hatte dies und das gesagt.
Da hatte ich als Hörer von der Sendung vom Radio sehr laut lachen müssen gehabt.

 

Liebe Freunde, verehrte Milliardärinnen, geschätzte Besitzer von bewegungsbedürftigen Bankkonten! 

Das Gehirn, welches all diese Glanzstücke der Geistesgegenwart ersinnt, braucht Treibstoff, es muss Tag für Tag obszöne Mengen an Kaffee, Feingebäck und Confiserieerzeugnissen metabolisieren, je nach Mondphase und Serotoninspiegel können zudem umfangreiche Volumina an Knabberoni, Vini und Tabacchi erforderlich werden, alles natürlich biovegan, demeter und mit Blattgoldbröseln obendrauf. Die wenigen Pausen, die dem Inhaber dieses zerebralen Kreativreaktors vergönnt sind, gehen für luxuriöse Recherchereisen zu literarisch-philosophischen Brennpunkten wie Sils-Maria oder Pacific Palisades drauf. Muss ich meinen kosmopolitischen Lesern vorrechnen, was eine mittelklassige Präsidenten-Suite in Minas Tirith kostet? Und, ach, all die Physios, Privatsekretärinnen und Piloten wollen schließlich auch irgendwie bezahlt sein. Sie verstehen … so ein Märtyrer-Leben im Dienste unentgeltlichen Erkenntnis-Entertainments bedarf hin und wieder des Dispo-Ausgleichs. Wenn Sie also das nächste Mal einen Ihrer Rüstungskonzerne verkaufen oder Ihr taz-Abo kündigen und nicht wissen, wohin mit den Unsummen hinterm Komma, können Sie sie bequem auf folgendem Konto unterbringen:

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