Aus der beliebten Rubrik: „Briefentwürfe, die sich beim Wiederlesen nach mehrwöchiger Vergessenheit irgendwie doch als im Grunde fertige Briefe entpuppen, die man eigentlich, fast so wie sie sind, abschicken könnte, die nur leider das Abschickverfallsdatum gefühlt schon so weit überschritten haben, dass man sie bloß noch als kleines Bloghäppchen verwerten kann, was man aber auch ruhig ohne Skrupel tun sollte, da sie sich als Begleitlektüre zum zweiten Frühstück bei Morgensonne und Meisengezwitscher als recht bekömmlich erwiesen haben“
Briefentwurf zu S.s Überlegung, das Potenzial der esoterisch-universalistischen Coronaprotestler für die Kulturrevolution von rechts, die „Reconquista”-Strategie etc. zu gewinnen … Sehr geehrter Herr S., ich lese regelmäßig Ihre Beiträge, mit einer gewissen reservierten Faszination, ich finde da viel Bebrütenswertes, auch viel Befremdliches, auf jeden Fall rechnen Sie auf der rechten Seite zu den Stimmen, mit denen man sich auseinandersetzen muss, ich wenigstens muss es. Die Reserve und das Befremden kommen wohl daher, dass mir bei Ihren strategischen Überlegungen oft nicht ganz klar werden will, worauf dieselben konkret hinauslaufen würden, wenn jemand die Macht gewönne, sie in Anwendung zu bringen. Ihre Texte scheinen mir immer etwas Wesentliches zu verbergen oder hintanzuhalten, und das ist – je nachdem – schade oder beunruhigend. Aber vielleicht bin ich auch einfach nicht Stratege und Metapolitiker genug, um diesen tarnfarben-suhrkampoiden Theoriesound so richtig in mir resonieren zu lassen.
Was ich Ihnen aber konkret mitteilen und kritisch anraten wollte, ist folgendes: Wenn es Ihnen darum geht, ungenutzte Potenziale für eine substanzielle politische Wende zu aktivieren, dann müssen Sie die Vokabeln „Bevölkerungsaustausch“ oder „Großer Austausch“ ganz schnell in den Shredder schmeißen. Das ist semantischer Sondermüll, den Sie den zu umwerbenden Alliierten niemals werden schmackhaft machen können. Es gibt, soweit ich sehe, in der Tat ein großes „unbewusst rechtes“ Reservoir, einen diffus migrationskritischen, irgendwie islamskeptischen und … sagen wir: kulturpatriotischen Bevölkerungsanteil, dem man seine nebulös-unartikulierten Gefühle, Aversionen, Verlustempfindungen und Zukunftsbefürchtungen durch ein paar griffige Begriffe bewusstmachen könnte, um diesem Bewusstsein dann Tatkraft und Richtung zu verleihen. Aber vom „Großen Austausch“ wollen diese Leute ganz sicher nichts hören. Ich übrigens auch nicht. Ich weiß nicht, ob ich bei der ganzen Angelegenheit etwas grundsätzlich nicht verstehe, oder ob nicht vielmehr Sie und Ihre rechtsintellektuellen Mitstreiter da einfach mit den Jahren etwas betriebsblind geworden sind. Ich kann Ihnen nur als jemand, der einigen Ihrer Anliegen kleingläubig-neugierig gegenübersteht (und sich berufsbiographisch ein wenig mit Marketing auskennt), zu bedenken geben, dass das aus der Distanz komplett nach Aluhelm und Yetis vom Mars klingt.
Ich bin kein waschechter (oder gar behördlich beglaubigter) Rechter, ich neige lediglich temporär, ausgleichs- und gegengewichtsweise – etwa nach Art des notorischen Underdog-Sympathisanten Golo Mann –, gerade ein wenig mehr zur Seite der konservativen Realisten, und wenn die gesellschaftlichen Gewichte sich verlagern sollten, würde ich wohl auch wieder weiter auf die linke Seite der Waage wandern … was allerdings angesichts der derzeitigen Entwicklungen zu meinen Lebzeiten vermutlich nicht mehr passieren wird, aber ich lass mich da gern überraschen. Jedenfalls – ich bin auch kein altgrüner Esoteriker, unter meinen Lesern hingegen gibt es – den Zuschriften nach zu urteilen – einen nennenswerten Anteil von … sagen wir: „metaphysisch aufgeschlossenen“ Dr.-Hauschka-Kunden und Drewermann-Fans, Menschen, die mir auch al natura, ich meine: in natura auf den Demo-Spaziergängen begegnen, Menschen etwa aus heilenden, helfenden, lehrenden, künstlernden Berufen, denen durch Corona endgültig aufgegangen ist, dass unsere Gegenwart Anstalten macht, in eine kaum für möglich gehaltene Dystopie abzugleiten. Das sind Leute, die kritisch gegenüber dem zeitgenössischen Konsumismus sind, gegenüber dem digitalen Technizismus, gegenüber fortschreitender Denaturierung und Globalisierung, allgemeiner Verblödung und Verpöbelung, Leute, denen die ganzen Entartungen der Spätmoderne allmählich – oder durch Corona eben sehr abrupt – auffallen als das, was sie sind: Das Ende des Lebens, wie sie es kannten und wie sie es – trotz aller Einwände – mochten und schätzten in seiner deutsch-mitteleuropäisch-abendländischen Grundierung. Das Problem der Überfremdung, Entdeutschung, Dschalalabadisierung ist für sie eines unter diesen anderen, sie zögern noch, sich hier ganz offen zu empören, aber nahezu alle, mit denen ich privatim rede, sind zunehmend genervt, enttäuscht, entsetzt darüber, was aus den Städten und Dörfern ihrer Kindheit mittlerweile geworden ist.
Und glauben Sie mir: Diese enttäuschte kritische Masse gewinnen Sie nicht mit Erzählungen von einem „Austausch“. Weil es keinen Austausch gibt, zumindest gibt es in der Lebenswirklichkeit der Menschen keinen zu sehen. Unterschätzen Sie nicht die affektiv-aversiven Kräfte der Semantik. Es gibt vielleicht so was wie eine „Ersetzungsmigration“ – auch kein besonders treffender Begriff –, aber dass im „Austausch“ für die afghanische Familie, die in Siegen eine Wohnung bezieht, eine deutsche Familie in Kabul ausgesetzt würde, hört man eher selten. Im Ernst: Die Siegener Grundschullehrerin sieht sehr wohl: Es gibt Orientalisierung, Segregation, Entbürgerlichung, Verelendung, Identitätsschwund, es gibt den konkret sichtbaren Untergang des Abendlandes, es gibt illegale Migration und Staatsversagen, es gibt Multi-Kulti-Wahn und Nationalmasochismus, und all das sehen auch die Spaziergänger, die Bioladenkunden und Heilpraktiker, die Alchemisten und Globulisten, die Antikapitalisten und Antitechnokraten, die Selbstversorger und Selbstdenker. Aber all die Entfremdung und Entheimatung lässt sich nicht „werbewirksam“ unter dem Label „Bevölkerungsaustausch“ kommunizieren.
Es wird in Ihren Kreisen gern auf den Politikwissenschaftler Yascha Mounk verwiesen, der sich einmal in den Tagesthemen dahingehend äußerte, „… dass wir hier ein historisch einzigartiges Experiment wagen, und zwar eine monoethnische, monokulturelle Demokratie in eine multiethnische zu verwandeln.“
Solches angebliches „Verplappern“ eines Establishment-Vertreters als Bestätigung für einen geplanten, gesteuerten, experimentell projektierten „Austausch“, pardon: „Großen Austausch“ herzunehmen, scheint mir doch etwas billig. Und selbst wenn es so wäre, dass Leute wie der Herr Mounk irgendein Hintergrundwissen über geheime Planungen besäßen, wäre es immer noch nicht sinnvoll von einem „Großen Austausch“ zu reden, es wäre doch – sofern das geschriebene oder gesprochene Wort etwas gilt – wohl eher eine „Große Verwandlung“. Eine Verwandlung ist etwas anderes als ein Austausch, nicht wahr? Und wenn man dann noch das Attribut „groß“ weglassen wollte – denn der „große“ Wasauchimmer („groß“ immer Groß-geschrieben, oder besser noch GROSS-geschrieben) ist geradezu das Hauptkennzeichen der allgemeinen Verschwörungstheorie –, dann reden wir also einfach von einer Verwandlung. Was die Sache nicht besser macht, aber es beschreibt sie besser.
Wenn Sie jetzt meinen, Gottchen, das sei doch inhaltlich das Gleiche: Austausch, Verwandlung, Verdrängung, Ersetzung, Transformation, aber „Austausch“ sei halt das griffigste Wort für diesen Prozess, dann muss ich Ihnen sagen, dass Sie sich da in einem Irrtum befinden. Austausch ist das dümmste Wort für diesen Prozess. Und „Großer Austausch“ das allerdümmste. Sie sehen darin einen „klingenden Begriff für ein klares Feindbild“, so las ich irgendwo. Leute wie ich, die zwar Europa lieben und es verteidigen wollen, aber dafür nicht unbedingt ein Lambda-Shirt anziehen würden, sehen darin einen hohlen Begriff für eine Idee an der Grenze zum Wahn.
Wenn Sie also über strategische Bündnisse mit kulturkonservativen Corona-Demonstranten nachdenken, dann müssen Sie schleunigst Ihr „Wording“ ändern. Und außerdem nochmal sehr gründlich überlegen, ob der reale, für jedermann sichtbar stattfindende Prozess der De-Europäisierung und Kulturverfremdung im Kern eine geplante und gesteuerte Transformation ist oder nicht doch eher mit einer fatal-autodestruktiven Deformation des Gesellschaftscharakters zu erklären wäre. Ob Sie also nicht vielleicht mit Erich Fromm wesentlich realistischer und anschlussfähiger argumentieren könnten als mit Renaud Camus.
Sie wollen „Begriffe enttabuisieren“ und „ins Zentrum der Debatte“ bringen: „Statt die sekundären Folgen des Großen Austauschs (Islamisierung, Kriminalität, Sozialmißbrauch, Überfremdung) zu skandalisieren, wie es das liberalkonservative Lager, von BILD über ‚Achse des Guten‘ bis zur CSU zur Genüge tut, wäre es Aufgabe der echten Rechten, die Fakten schonungslos anzusprechen: Wir sind ein sterbendes, verschwindendes Volk, das durch ständige ‚Demographiebooster‘ rasant ausgetauscht wird.“
Vielleicht sagt es Ihnen keiner von Ihren echten rechten Freunden und Gesprächspartnern, deshalb sag ich es Ihnen einfach mal: Sie werden Ihren „Großen Austausch“ niemals ins Zentrum der Debatte bringen. Wir sind kein Volk, das ausgetauscht wird. Treten Sie ein paar Schritte zurück und hören Sie sich einmal ganz in Ruhe an, wie perryrhodanesk das klingt. Alle, die Sie außerhalb Ihrer Sphäre damit ansprechen zu können glauben, sind weg, sobald sie dergleichen Steilheiten zu hören kriegen. – Alle, außer dem so leicht nicht zu verschreckenden Steilheitsinteressenten, der Ihnen dies Obige ganz ungebetenerweise zu bedenken gab, um sich nun mit freundlichen Grüßen zu verabschieden.
Shalömle,
Ihr MJL
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© Marcus J. Ludwig 2022
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