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Oder: Warum die Clowns den Kulturkampf gewinnen 

 

Seit ich hier zuletzt die Lage des Landes begutachtet habe, ist einiges passiert. Rein formal gesehen. Es gibt neue Regierungen in drei ostdeutschen Bundesländern. Es gibt einen neuen Bundestag, einen neuen Kanzler, ein neues Kabinett. Aber nichts hat sich geändert. Und nichts wird sich ändern. Deutschland geht weiter den Weg der Selbstabschaffung. Exemplarisch, idealtypisch, ikonisch für die deutsche Misere: das Scheitern Sahra Wagenknechts. Woran ist sie gescheitert? Sie war zu dumm – sagen wir: kleingeistig – oder zu feige – sagen wir: kleinmütig – , sich konsequent gegen das herrschende Kartell zu stellen. Die historische Chance zur Querfront ließ sie sausen für die Hoffnung auf einen warmen Platz im Stall, für eine schöne Stellung im System, die Position der unbequemen Besserwisserin, der überlegenen Kritikerin, des rational-konservativen Korrektivs. Für das richtige politische Leben im falschen. Was sie nicht kapiert hat, ist, dass es in diesem falschen, verfälschten, tiefenverhunzten System keinen Platz gibt für Konservative, auch nicht für Linkskonservative. Und für Rationalisten schon mal gar nicht. Dieses System ist ein zivilreligiöses Wahnsystem, eine Glaubensgemeinschaft mit heiligen Wahrheiten und eiserner Moral, unempfänglich für Denkanstöße und Reformimpulse, phobisch gegen Kritik und Argumente.

Ohne ihre Distanzeritis gegen die AfD, ohne ihre Konformierung mit „unseren demokratischen“ Parteien, unseren demokratischen Medien, unseren demokratischen Experten, unseren demokratischen Gegen-Rechts-Kämpfern, unseren demokratischen Brandmaurern in den Bekenntnis-Shows unserer Fernsehdemokratie, hätte ich sie vielleicht gewählt, ich und ein paar tausend andere, deren Stimmen ihr am Ende gefehlt haben. Sie hätte sagen können: „Klar werde ich mit der AfD zusammenarbeiten und wenn möglich koalieren. Nicht weil ich die so toll finde, sondern weil es keine andere Möglichkeit gibt, das Land zu retten. Das Problem heißt ja nicht AfD, das Problem heißt CDU, SPD, Grüne etc., das Problem heißt Georg Restle, Dunya Hayali, Nikolaus Blome, Jessy Wellmer etcetc., das Problem heißt Verfassungsschutz, Verfassungsgericht, politische Polizei, Medienaufsicht, politisierte Banken, politisierte Supermärkte, politisierte Schulen, politisierte Verlage, das Problem heißt NGO-Komplex, ideologischer Lobbyismus, Faktenchecker, Sprachreiniger, Gehirnwäscher, Weltverdreher etc. Das Problem ist die herrschende Machtelite. Und diese Leute müssen alle weg. Also weg aus ihren Machtpositionen. Kein Haar soll ihnen gekrümmt werden, sie sollen sich weiterhin bester Gesundheit erfreuen und ihre wahnhafte Weltsicht öffentlich äußern dürfen – nur eben nicht aus Ämtern oder gutbezahlten Komfortzonen heraus. Die Richter vom Verfassungsgericht können eine Punk-Band gründen und ihre schrägen Rechtsauffassungen auf allen Bühnen der Republik zum Vortrag bringen. Die Faktenselektierer können weiter ihrem inneren Auftrag folgen und zusehen, ob ihnen auf den Marktplätzen unseres Landes jemand Geld für ihre Produktionen zu zahlen gewillt ist. Die Omas gegen Rechts können weiterhin unbehelligt ihren Lebensabend mit politreligiöser Selbstbefriedigung verbringen. Jeder, der heute was zu sagen hat, kann es weiterhin sagen, er wird halt nur nicht mehr dafür bezahlt werden, er wird auf keine Fördertöpfe zugreifen können, er wird kein öffentlich-rechtliches Mikro zur Verfügung gestellt bekommen und erst recht nicht in ein hohes Amt berufen werden, für das er nicht die charakterliche Eignung vorweisen kann.“

Dergleichen hat sie aber nicht gesagt. Sondern andere Sachen, Sachen, aus denen hervorging, dass sie lediglich eine Alternative im System, nicht aber zum System verkörperte. Der entscheidende Schritt, der radikale Elitenwechsel, war mit ihr nicht zu machen. Deshalb ist sie jetzt weg vom Fenster.
Wär ich eigentlich auch gern. Klappt nur irgendwie nicht. Aber ich arbeite dran.

*

„Ich schreibe keine Dichtung mehr, ich schreibe nur noch Bekenntnis“, bekennt Hermann Hesse in mehreren Briefen der Steppenwolfzeit. An einem ähnlichen Wendepunkt steh ich mittlerweile auch. Es mag vielleicht genau andersherum aussehen, da ich ja erst eine Roman-„Dichtung“ veröffentlicht habe, dafür aber sieben oder acht Essaybände und einen mehrjährigen Blog, wo ich doch ständig von mir geredet hab, mich als Ich zu erkennen gab und kaum verhohlen Profess tat vor aller Welt, Zeugnis ablegte meines Meinens und Denkens. Aber in einem gewissen Sinne, mit einer Stilisierung und Selbstüberformung, die nur ich ermessen und beurteilen kann, war vielleicht gerade das ein eher literarisches, wenn nicht gar belletristisches Meinen und Denken, und das Bekennen war eher ein Erkennen, mehr Analyse als Beichte, mehr Argument als Aussprache, mehr Umschreibung als Aussage. Ich allein weiß ja, was ich alles nicht sagte.
Die Zeit des Schönschreibens und Argumentierens ist vorbei. Ich spreche zu niemandem mehr. Ich spreche aus dem Nichts ins Nichts. Ich spreche zu mir, ex cathedra, intra muros, ins Geheime, allein unter nächtiger Vierungskuppel. Hochgotische Echokammer, leere Dämmerung, graue Jahrhunderte, die Orgel hängt und schweigt, ich liege nach Osten, ich knie nach Westen. Ich bete nach innen, ich murmle, ich stammle und lalle, ich halle hinaus in die Nachwelt. Mich ekelt die Mitwelt. Mich ekelt die Sonne, mich ekelt der Anblick der Zeit und der Sound all der Abgerichteten, mich ekelt das Tagesgelichter, mich widern die Lügengesichter, politpornographische Clowns und Cretins, alles Lüge (Rio Reiser), alles Scheiße (Pankow), aber alles ganz offen, aufrichtig falsch, faktischste Hirnfickerei und Fiktion, linkischste scripted Reality-Show.
Kulturideologen, Chefkommentatoren, Gedankeninterpretatoren, Einheitspropagandisten, Konsensapologeten, Verdachtsandichter. Revenants, Archetypen, Planstellengespenster, wohin man auch sieht. Goebbels, Mielke, Freisler, Schnitzler, Rosenberg, Hager. Anklänge, Anrüche, Anscheine. Altbekannte Typologie. Alles nochmal: Seelenzüchter, Lebensordner, Faktenchecker, Volksverpetzer, Weltveredler, Fahnenschwenker, Gleichschrittsdenker, Zeitgeistlenker, Durchschnittshenker.
Ich sehe nur noch Lüge und Schamlosigkeit. Ich fühle nur noch Hass und Ekel. Ich will wieder leer werden. Ich will diese Welt wieder loswerden. Ich bete um die Herabkunft irgendeines gewissenlosen Gottes, ich flehe nach dem großen Unversöhnlichen, Deus Ultionis und Jahwe Zebaoth, der diesem gomorrhanischen Gesinnungszirkus den Schwefelregen sendet.

Ich bekenne. Ich bekenne mich zu den Alten Testamenten. Ich verfluche die Neuen Lehren, die uns die Lüge gebracht haben, die scheinheilige Liebe, die Duldsamkeit, die Versöhnlichkeit, die Vergeberei, die Vertrösterei auf Transzendenzen und wolkige Himmelsgewölbe, höhere Nonnenklöster, ätherisches Biedermeier über den Stratosphären. Gotteslob und Langweile. Ich löse die neuen Bünde und Bande, die uns verstrickt haben in den guten Glauben, die Heulsusen-Hoffnung, den falschen Frieden, das schlechte Gewissen, die Schuld an der Welt, die Schuld an der Lust, die Schuld am Leben, die Schuld an den Leiden der andern, die Schuld an der Tragik unserer Tierhaftigkeit. God made me an animal! Und dann meinte er, mir seinen Sohn schicken zu müssen, schickte einen Paulus hinterher, einen Augustinus, einen Antonius, und noch einen, ein Heer von Heiligen, eine Kirche von Wärtern und Kerkermeistern, einen Pastor Schwiese, eine Tante Josepha, einen Kaplan Knecht, ein Völkchen, eine Familie, eine Firma von Kreuzlebauern und Herrgottsschnitzern, von Aufpassern und Vorbetern. And now all the world is jails and churches.
Ich bekenne mich zum Geist der Rache, der Richtigstellung, der Rekonstruktion des Menschengemäßen und Menschenmöglichen. Ich scheiße auf dieses bescheuerte ewige Leben in diesem verlogenen Jenseits. Und auf die ganzen zivilreligiösen Ersatzprodukte erst recht.
Außerdem würden mir die 969 echten und irdischen Jahre, die die Genesis dem Urmenschen zumisst, eh reichen. Eigentlich wären auch 500 schon völlig okay.

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Wenn ich von Hass und Ekel rede, dann meine ich übrigens nicht nur Tagesschau, Verfassungsschutz, Kulturzeit oder die Werbung, die uns in diversen bunten Bildern ihre bunte, diverse Gesellschaft eintrichtern will, sondern auch und vor allem so was hier (da ich jetzt nicht hinter jedes Wort, jeden Namen und jeden Praktikantenfehler ein sic! oder wot?! oder wtf?! setzen kann, machen Sie das bitte beim Lesen selber in der gebotenen Lautstärke):

Thomas Mann International: Das globale Netzwerk für Thomas Mann. Das Projekt MANN 2025: 150 JAHRE THOMAS MANN ist eine Initiative von Thomas Mann International, einem 2017 gegründeten Netzwerk der Mann-Häuser an Thomas Manns Lebensstationen. […] Im Jahr 2025 feiern wir den 150. Geburtstag von Thomas Mann, einem der prägendsten deutschen Schriftsteller des 20. Jahrhunderts. […] Diese Formate beleuchten Manns Werk in einem modernen Kontext und schaffen Anknüpfungspunkte für ein breites Publikum – von jungen Literaturinteressierten bis hin zu Forschenden und Kulturjournalist:innen.

Fr. 06.06.2025: In einem großen, zweiteiligen Festakt begeht das Buddenbrookhaus Thomas Manns 150. Geburtstag und eröffnet zugleich die Sonderausstellung „Meine Zeit. Thomas Mann und die Demokratie“. Als Festrednerin und Festredner geladen sind Bundespräsident Dr. Frank-Walter Steinmeier, der Ministerpräsident Schleswig-Holsteins, Daniel Günther, und die Menschenrechtsaktivistin Düzen Tekkal.

Sa. 07.06.2025: „Fabeln, Wahnbilder, Hirngespinste“ – Verschwörungserzählungen und ihre Gefahr für die Demokratie. Im Fokus steht dies mal „Doktor Faustus“ und die Gefahren von Verschwörungserzählungen für das politische wie gesellschaftliche Miteinander. Auf dem Podium diskutieren die Journalistin Annika Brockschmidt und der Volksverpetzer-Gründer Thomas Laschyk die heutige Relevanz des Textes und verknüpft ihn mit der Gegenwart.

Di. 01.07.2025: Wie viel Fun steckt in Thomas Mann?

Lesezirkel „150. Geburtstag Thomas Mann“ […] Mitmachen können alle, egal ob Thomas Mann-Expert*in oder Neuling.

Re-Read Thomas Mann: Identität im Dazwischen. […] beschäftigt sich das Podium mit „Tonio Kröger“. Themen werden hybride Identität, Othering sowie Fremdheit und Integration sein.

Re-Read Thomas Mann: Stalking tötet. […] beschäftigt sich das Podium mit „Der Tod in Venedig“. Themen werden das ,Nachstellen‘ als Verharmlosung von Belästigung in Kunst, Literatur und Rechtsprechung sowie Genderspezifische Gewalt sein.

Soviel zum Thema Ekel. Trauer hingegen, wirkliche Bestürzung überkommt einen, wenn man lesen muss, dass Thomas Manns letzter Statthalter auf Erden, sein Enkel Frido Mann, bei diesen Umdeutungs-Festspielen des neudemokratischen Schundbürgertums auch noch mitmacht.
Nun, vielleicht nutzt er seine Redezeit ja, um den versammelten Würdenträgern und Re-Readern ein kleines Medley aus seines Großvaters Radioansprachen („Deutsche Hörer!“) um die Ohren zu hauen, jenen Hatespeeches, die der Exilierte seinem zu bösartigster Verblödung entschlossenen Heimatland zwischen 1940 und 1945 allmonatlich über den Atlantik sandte, um es zur Räson zu bringen.

Ich wähne jedoch, dass der gute „Professor Parsifal“ keinen Schimmer hat, in welchem Personal sich Bösartigkeit und Verblödung gegenwärtig inkarniert haben. Möge er sich sein Publikum genau ansehen. Möge er seinen Vorrednern gut zuhören. Möge der Geist seines Vorfahren über ihn kommen am Abend des 6. Juni und ihm flüstern, dass das mit der Demokratie und dem Sozialismus ein wenig anders gemeint war, als das, was heute Realität geworden ist. Oder möge er sich einfach krankmelden und wen anders reden lassen. Zum Beispiel … zum Beispiel … – – – Hm, jetzt hab ich etwa eine Stunde lang überlegt, von wem ich gern eine Rede über Thomas Mann und den gegenwärtigen Zustand der deutschen Demokratie hören würde, aber bei allen, die mir einfallen, denke ich nach zehnsekündigem Durchfantasieren: Och nee, lass mal lieber.

Und das ist wohl das eigentliche deutsche Problem: Es fehlt eine echte Gegenelite. Eine alternative geistige Führung, der man zutraut, den Laden wirklich übernehmen zu können, ohne dass man ständig vor Peinlichkeit vergehen müsste. Wenn ich die Wahl hätte, an Ekel oder an Scham zu krepieren, ich wüsste spontan nicht, was ich bevorzugen sollte.

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In welchem Tempo die Zeiten sich und mich ändern, erkenne ich daran, wie ich noch vor etwa einem Jahr zu diesem Thema schreiben konnte, grundiert offenbar von dem Glauben, ich hätte es letztlich zu tun mit einer Minderheit von verschrobenen Moralisten, gegen die man mit der nötigen Anstrengung eine Mehrheit der Vernünftigen, vor allem der ausgewiesenen Kenner und zur Bewahrung Berufenen mobilisieren könnte. Ich plante ein kleines Thomas-Mann-Büchlein und notierte ein paar Vorbemerkungen:

Zweifellos gibt es in der TM-Industrie bessere Kenner, Spezialisten, Experten, Exegeten – aber gewiss nur wenige, die berechtigter wären als ich, den Schöpfer des Tonio Kröger, des Faustus, des Erwählten mit Du anzureden. Nicht, dass ich solche Werke schreiben könnte … aber ich kenne die Dämmerungen und Zwischenreiche, die verwinkelten Seelenwelten, aus denen sie stammen. Ich kenne die spezifischen Uteri und Inkubatoren von innen, die untertägigen Spiegelkabinette aus Traum und Rechenschaft, den Klang der Kavernen, der verwunschenen Kindheitskeller, in denen wir Fünfjährigen flüstern und singen und die Augen nach dem Restlicht aufsperren, die Märchentiefen, in denen wir unsere Schritte zu setzen lernen und ahnen, dass wir einmal anders durchs Leben werden gehen müssen als all die Unverwunschenen, die oben in der Sonne ihren ordentlichen Spielen nachgehen. Die Thomas-Mann-Kenner kennen den Vollendeten, den Gefeierten, den Repräsentanten. Die Gesamtexistenz dieses sonderbarsten Großschriftstellers aller Zeiten. Ich kenne das Würmchen in der Dunkelheit. Wir sind zusammen aufgewachsen, wenn auch zeitlich leicht versetzt. Aber was sind hundert Jahre für die Seele, für die Liebe […] Ich verspüre zunehmend das Bedürfnis, Thomas Mann in Schutz zu nehmen gegen einen woken, pseudodemokratischen Zeitgeist, der sich anschickt, die Deutungshoheit über das politische Vermächtnis des Dichter-Philosophen zu usurpieren. Haben die Schriften des grübelnden Zeitbegleiters, haben die Betrachtungen eines Unpolitischen, der Bruder Hitler und all die Reden an oder über die Deutschen uns heute etwas Substanzielles zu sagen? TM wird gegenwärtig (unter befremdlicher Mitwirkung seines Enkels Frido) als Gewährsmann für ein gefährlich verzerrtes Demokratieverständnis in Stellung gebracht. Solchen Fälschungen im Dienste der herrschenden Ideologie gilt es entschieden zu widersprechen. Gewiss, Thomas Mann rang sich einmal zu der Feststellung durch, dass „der Platz des deutschen Bürgertums heute an der Seite der Sozialdemokratie“ sei. Dieses „Heute“ war allerdings 1930, und in unserem Heute wäre es schlicht unvorstellbar, dass TM Werbung für Nancy Faesers und Olaf Scholzens gesinnungsstaatliche Projekte machen würde. Oder dass er sein Haus in Pacific Palisades in die Hände dubioser Gendersprachaktivist:innen geben würde. „Thomas Mann würde heute …“ – nun ja, alles Konjunktiv und Spekulation. Aber wer hätte nicht seinen Spaß an ein paar gut gemachten Spekulationen?

Dieser Sound kommt mir heute lasch und naiv vor. Dieses Festhalten an den alten Spielregeln: „Wir führen eine gesellschaftliche Debatte, und früher oder später werden die guten Argumente schon zu den Richtigen durchdringen und den Zeitgeist wieder in die richtige Spur bringen …“ – das funktioniert erwiesenermaßen nicht mehr. Wir sind im Krieg, und der Gegner kämpft nicht nach Regeln. Wir versuchen, einen Gegner zum Gespräch zu bewegen, der uns zum Schweigen bringen will. Wir versuchen, einen Gegner zu überzeugen, der uns vernichten will. Wir versuchen, einen Gegner zur Fairness zu überreden, der uns auslöschen will. Der Gegner ist durchglüht von dem Glauben, er kämpfe gegen die Hölle. Die Gewalt, die er selbst ausübt, sei die der himmlischen Heerscharen und der heiligen Drachentöter.

Solchen Leuten kommt man nicht bei mit Ermahnungen, Beweisführungen und Appellen an die Vernunft. Ich weiß auch nicht, wie man ihnen beikommt. Sicher weiß ich mittlerweile nur, dass dieses System (wenn ich „System“ sage, dann meine ich das Herrschaftssystem des Politisch-medial-akademisch-kulturellen Komplexes und sein zivilreligiös-halbpsychotisches belief system) nicht von innen reformierbar ist. Es muss von außen entmachtet werden. Entweder durch die vereinten fundamentaloppositionellen Kräfte, oder (wenn das nicht funktioniert, und es ist sehr wahrscheinlich, dass es nicht funktioniert, denn ich sehe außer einer Partei und ein paar Publizisten nicht die geringste oppositionelle Regung in der Bevölkerung; wo bitte waren die Millionen, die gegen den grundgesetzverhöhnenden Schuldencoup von Merz und Genossenschaft auf die Straße hätten gehen müssen?) – oder es wird irgendwann wirklich von außen entmachtet. Meine Hoffnungen jedenfalls richten sich eher auf Amerika als auf die Mistgabeln und Megaphone des deutschen Bürgertums.

Nicht auf das aktuelle Bräunungscreme- und Mar-a-Lago-Amerika, sondern das, welches gerade in Vorbereitung ist und sich mit dem Namen JD Vance verbindet. Wenn Deutschland noch einmal gerettet und befreit werden kann, dann vielleicht am ehesten von dort her, von einem amerikanischen Träumer, der bewiesen hat, dass er Träume in Taten und echtes Leben umzusetzen versteht.
Hoffen wir, dass diesmal keine Bombergeschwader und Landungstruppen vonnöten sein werden, hoffen wir, dass eine digitale Invasion und Transformation der ideologischen Herrschaftszentralen ausreicht. Eine bloße Re-Education wird allerdings definitiv nicht ausreichen. Wir brauchen eine echte, intensive, tiefenwirksame Therapie. Und danach – statt eines Wirtschaftswunders – ein Mentalitätswunder.

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Aus einer Rede eines Ministers bei der Jahrestagung der Bundeskulturkammer (zu lesen mit leicht niederrheinischem Zungenschlag) – „Der früher oft vorgebrachte Einwand, es gäbe keine Möglichkeit, Vernunft, Logik, Wahrhaftigkeit, Rationalität dauerhaft aus dem Leben der Menschen zu beseitigen, weil die Wirklichkeit sich doch früher oder später durchsetzen würde, ist glänzend widerlegt worden!“

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Berühmte Menschen haben meist ihre Attribute, ihre unverwechselbaren Erkennungszeichen und Epitheta ornantia. Wenn man irgendwem was erzählt und irgendwem dann nicht klar ist, von wem die Rede ist, klärt man ihn kurzerhand auf, indem man sagt: „Das ist doch der mit dem Dings.“
Wolfgang Petry etwa ist der mit diesen schmuddeligen Freundschaftsbändchen, Einstein ist der mit der rausgestreckten Zunge, Angela Merkel ist die mit der Raute, Linus ist der mit dem Schnuffeltuch, Svenja Flaßpöhler ist die mit der Frisur, Alexander Gauland ist der mit dem Fliegenschiss, Zeus ist der mit den Blitzen, Nelson Müller ist der, der immer sagt: „Ciaociao und immer schön aufessen“, Ski Aggu ist der mit der Skibrille, und unser Schlagzeuger ist der mit die viele Kopfhörers.

Wenn einer fragt: „Wer ist nochmal Joachim Fest?“, dann sagt man: „Joachim Fest ist der, der in seinem Portemonnaie immer einen Zettel seines Vaters mit sich herumschleppte, auf dem dieser folgendes Konzentrat seiner Lebensweisheit verewigt hatte: Ertrage die Clowns.“
Joachim Fest hat in seinem Schriftstellerleben extrem viele schöne, wahre und kluge Sachen gesagt, der wichtigste Satz aber, der sich für mich mit seiner geistigen Gestalt und seinem halbadelig-spätbürgerlich-melancholisch-pessimistischen Gestus verbindet, ist dieses ererbte, überaus fatale Lebensmotto.

Wir ertragen die Clowns nunmehr seit Jahrzehnten, und es wäre allmählich an der Zeit, sich klarzumachen, dass bloßes Ertragen der katastrophalen Situation nicht länger angemessen ist. Dass die noble Passivität, das Rechtbehalten vom Spielfeldrand aus, dass das geistreiche Trauern und Haltungbewahren im herbstlichen Gegenlicht nicht nur nicht ausreichen, sondern sich geradezu verbieten angesichts der Spezies von Clowns, mit der wir es heute zu tun haben.
Solange die Clowns nur bescheuert aussahen, nur lächerlich durch die Manege hopsten und dumme Spontisprüche klopften, konnte man sie vielleicht noch ignorieren. Aber wenn sie zu Horror-Clowns mutieren, den Zirkus übernehmen, an den Schalthebeln des Regieraums sitzen, das Programm bestimmen, drauf und dran sind, den ganzen Laden in die Luft zu jagen – dann ist Schluss mit lustig, dann reicht es nicht mehr, zu ertragen, zu dulden, auf bessere Zeiten zu warten, dann wird bildungsbürgerliche Passivität zu genau jenem hochmütig-schuldhaften Unterlassungsdelikt, das wir früheren Generationen so gerne vorwerfen, die sich die Clowns ihrer Zeit auch nur angeguckt haben. Bis die Zeit in Trümmern lag.

In seiner Dankesrede zur Verleihung des Thomas-Mann-Preises der Stadt Lübeck dachte Joachim Fest im Jahre 1981 darüber nach, „woran eigentlich Reiche, Kulturen und Lebensformen zerbrachen, weshalb sie verspielt werden und untergehen.“
Er beginnt mit seinen frühen Leseerfahrungen, mit den Buddenbrooks und dem elegischen Blick auf die entkräftete bürgerliche Welt, dieses pessimistische Grundgefühl, das sich verdichtet in der Szene, in der der junge Hanno im Familienbuch einen Doppelstrich unter seinen Namen zieht und zur Rede gestellt antwortet: „Ich dachte, es käme nichts mehr.“
Er endet mit der vorsichtigen Hoffnung, dass „die gegenwärtig so verschreckt wirkenden Bürger sich ihrer Werte wieder bewußt werden und aus dem Schweigen treten. […] Möglicherweise entschlüsselte sich damit die subjektive Wahrheit Hannos ein weiteres Mal als objektiver Irrtum über die Zukunft der bürgerlichen Welt, und der Besorgnis wäre einiges genommen, es käme nichts mehr.“

Ja, es wäre viel gewonnen, wenn die Bürger „aus dem Schweigen träten“. Warum tun sie es nicht? Nach vierzig weiteren Jahren, in denen ihre Kultur – nebst ihrer Zivilisation – weiter untergegangen ist, immer noch nicht? Weil sie sich ihrer Werte nicht bewusst sind, oder schon gar keine mehr haben? Weil sie auf einer Stufe des Pessimismus angelangt sind, auf der sie einfach nicht mehr glauben können, dass vielleicht doch noch etwas kommen könnte? Weil sie selbst als Bürger eigentlich gar nicht mehr existieren? Weil sie eh nur noch Konsumenten und Staatsmitglieder sind?
Vielleicht schweigen sie einfach, weil genug andere für sie reden. Leute wie Joachim Fest und seine publizistischen Nachfahren. Das Problem mit all diesen klugen Beobachtern, diesen feinsinnigen Zeitgeistdiagnostikern und Mentalitätsanalytikern ist, dass sie bislang absolut nichts geändert haben am historischen Kurs Richtung Irrationalismus, Dekadenz, Verpöbelung, Enteuropäisierung, etc. Dass sie das Elend vielleicht sogar verschlimmern, indem sie ihrem Publikum das entlastende Gefühl geben: Ach, da ist ja einer, der die Missstände genau so sieht wie wir, und der sagt das alles öffentlich in wohlgesetzten Worten, dann wird das bei den Mächtigen und bei den Massen auch schon irgendwie ankommen und die zum Nachdenken bringen … Nein, wird es offenbar nicht.

Ich frage mich in letzter Zeit immer bei der Lektüre all der klugen Bücher von bedeutenden Leuten vergangener Jahre und Jahrzehnte: Und? Was haben sie bewirkt? Und die Antwort, angesichts der Realität mit der wir uns heute konfrontiert sehen, lautet: Offenbar nichts. Offenbar haben sie nicht die Misere, die geistig-moralische Katastrophe verhindert, in der wir jetzt leben. Joachim Fest, Irenäus Eibl-Eibesfeldt, Golo Mann, etc., Männer, die schon vor dreißig, vierzig Jahren genau gesehen haben, wohin die Reise geht (auch wenn sie den Beschleunigungsfaktor Internet noch nicht ahnen konnten). Aber das schöne und vernünftige und realistische Reden vom Spielfeldrand aus hat keinerlei Wirkung gehabt, und man muss sich als jemand, der in der heutigen Zeit Ähnliches unternimmt, fragen, ob man sich nicht einer Unterlassung schuldig macht, wenn man seine Energien derart sinnlos verpulvert. Darf der Intellektuelle sich noch damit begnügen, nur geistreich daher zu reden? Muss er nicht Kämpfer werden, Politiker werden, „Wanderprediger“ wenigstens wie Thomas Mann in der Hitlerzeit? Es reicht doch nicht, recht zu haben oder irgendwann rückblickend recht gehabt zu haben.

Oder ist eh alles verloren, und der Rückzug ins Private, ins Autobiographische, in Waldgang und Weltabschiedszauberei wäre der gebotene Weg? Wenn nicht geboten, so doch zumindest nicht verboten? Zumindest verständlich? Verzeihlich?

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Während Fest nachdachte, Reden hielt und die FAZ herausgab, lebte ich das vorbewusste Leben eines Zehnjährigen, der sich – wie sich das gehört für einen Zehnjährigen – von so Sachen wie Staat und Bürgertum keine Vorstellung machte, der aber, wie ich im Nachhinein feststelle, doch schon ein Gefühl hatte von dem, was Staatlichkeit und Bürgerlichkeit ausmacht. Ich hätte bestimmt auch damals schon einen Essay schreiben können mit dem Titel: „Die Ordnung der Bläschen – Über den Staat als ästhetisches Phänomen“ oder so, mir fehlten eigentlich nur ein paar Vokabeln und die Fähigkeit, ein paar Tage lang wie klinisch tot vor einem Bildschirm zu sitzen und eine Tastatur zu bedienen. Ich hatte aber auch echt Besseres zu tun. Ich musste meinen Big-Jim-Jeep durch Schluchten manövrieren, ich musste Kaulquappen zu Fröschen metamorphosieren, ich musste auf Dash-Trommeln und Kochtöpfen Songs von The Teens mitspielen und meine Eltern in den Wahnsinn treiben.
Ich musste Kind sein, und ich konnte Kind sein, weil der Staat halbwegs funktionierte. Heute kann ich nicht mehr Kind sein, heute kann ich kaum mehr ein kindischer Erwachsener, vulgo Künstler, sein. Weil der Staat kaputt ist, von Clowns gekapert und zu einem Horrorzirkus umfunktioniert.

Der intakte Staat ist Ermöglicher und Garant „machtgeschützter Innerlichkeit“. Der ideale Staat ist, ganz wie in Thomas Manns Erzählung vom Eisenbahnunglück, ein Schaffner mit Mütze und wachsamem Blick, der dafür sorgt, dass alles seine Ordnung hat und die Fahrgäste ruhig schlafen können. Als erwachsener Geistesmensch muss man so einem dienstbeflissenen Uniformierten wohl mit einer gewissen Ironie, mit respektvollem Spott begegnen, aber im Grunde ist man eben doch heilfroh, dass es ihn gibt, diesen Vater mit dem gewaltigen Schnauzbart, der weiß, wie die Dinge laufen und zu laufen haben. Man weiß, dass der Staat letztlich in seinem Personal lebendig sein muss. Wenn der Staat sich nur in seinen Institutionen verkörpert, ist das zu wenig. Er muss in den Menschen sein. Egal ob sie ihn von Amts wegen personifizieren oder ihn durch innere Zustimmung und Dankbarkeit gutheißen, sich seiner Ordnungsmacht anvertrauen. Und Menschen, in denen der Staat lebt, heißen Bürger.

Die Zeit meiner Kindheit, die 70er Jahre, die frühen 80er, waren in dieser Hinsicht noch näher an Thomas Manns Kaiserreich als an den heutigen Zuständen. Der Staat als Ordnungshüter und Schlafgarant war überall. Er konnte ziemlich nervig sein, wenn er uns in Gestalt eines krächzenden Krückstockrentners anherrschte, es sei 14:30 Uhr, es sei noch Mittagsruhe und die Garagentore seien sowieso nicht zum Fußballspielen da, das scheppere ja wie Stalingrad, und so weiter.
Dass der Staat untrennbar mit der anderen großen Ordnungsmacht des Lebensgefühls amalgamiert war, der Kirche, bekam ich immer zu spüren, wenn wir zu unserer Verwandtschaft ins Sauerland fuhren. Großvater Johann Ludwig war als Schulrektor nicht nur der Staat in Person, als Organist und Chorleiter war er auch die Kirche in Person. Das eigentliche religiöse Oberhaupt der Familie war jedoch Großtante Josepha, „die Äbtissin“. In ihrer Wohnung gab es nicht nur Weihwasserbecken an den Wänden wie nebenan in Sankt Agatha, auf dem Küchentisch stand ebenfalls ein ganz besonderes Wasser: Staatlich Fachingen. Dunkelgrüne Flaschen, mit Kronkorken, nicht mit Drehverschluss wie bei unserm profanen Dingenssteiner zu Hause. Das Staatswasser schmeckte streng, nach Eisen, fast schon nach Blut, nach täglicher Frühmesse und gottgefälligen Lebensrhythmen. Die Kohlensäure-Bläschen kamen mir nicht nur wesentlich mehr vor, sie waren auch strenger geordnet. Und sie kribbelten in der Nase, kurz vor der Schmerzgrenze. Man trank, man trank mit gerümpftem Kindergesicht und Tränen in den Augen und lernte, dass das Leben nicht nur Capri-Sonne und River-Cola sein konnte.

Wie auch immer … die Welt war anders damals, für alles in dieser Welt war jemand zuständig. Wenn man mir auf dem Minigolfplatz einen Schläger vor den Kopf knallte – unter „man“ muss man sich eine sportlich gebaute, aber fürs Golfen etwas zu grobmotorisch veranlagte Cousine vorstellen –, dann kam innerhalb von Sekunden jemand von irgendwoher mit einem Pflaster. Es gab ein geheimes Fürsorgewesen, das in Aktion trat, wenn irgendwas falsch lief. Der Wunsch nach Ordnung, nach Instandsetzung des Beschädigten, nach Korrektur des Chaos, der Wunsch nach einem Pflaster über dem Loch im Kopf war allgegenwärtig. Es war ein unglaublich beruhigendes Gefühl, zu ahnen, zu wissen sogar, dass es wundersame Kräfte und Mächte gab hinter den Alltäglichkeiten, hinter der kleinen Welt, die man selbst erlebte, mächtige, verlässliche Einrichtungen, weitsichtige, tatkräftige Menschen, Verwaltungsfachleute, Regierungsräte, Staatsmänner und Minigolfplatzwarte, die genau wussten, was sie taten, und immer wussten, was zu tun war. Zu wissen, dass es eine Welt hinter der Welt gab, in der Dinge geschahen, die man selbst nicht wissen und verstehen musste, und die man selbst bestimmt nicht besser machen konnte, als all diese Staatsdiener – dies Wissen war der banale Grund für die ferienhafte Naivität, die selige Lebensblödigkeit dieser Ära. Trotz aller Missstände dieser Zeit hatte die Staatlichkeit sich auf ein gewisses Optimum eingependelt.
Es wird für diese Eindrücke bestimmt auch eine Rolle gespielt haben, dass ich ein Kind war damals, aber ich weiß genau, dass die meisten Erwachsenen die Welt seinerzeit genauso empfanden. Wenn Helmut Schmidt die Terroristen bekämpfte oder der Eisverkäufer einem ein Eis aus der Langnese-Truhe holte, dann dachte man nicht: Das weiß ich aber alles besser, wie man Terroristen bekämpft, oder wie man Eis verkauft. Nein, man respektierte die Könnerschaft des Staates.
Heute dagegen weiß man selbstverständlich alles besser als irgendein unfähiger Politiker, und dass der Eisfritze eine ungelernte Arbeitskraft ist, die kein Deutsch kann und ausgebeutet wird, und dass das Eis ein gefrorener Klumpen Chemie-Dreck ist, das weiß man auch.

Aber im Ernst, ich frage mich das immer wieder: War die Welt damals wirklich so viel anders als heute? Oder war ich nur anders? Natürlich war ich anders, aber ich war auch derselbe, ich war wohl kleiner, argloser, unmittelbarer zum Leben, unbewusster inmitten der Welt, aber auch näher an ihrem Wesen, ich habe mich mit den Jahren herausgedacht, herausgeredet in endlos aufsteigenden inneren Monologen aus der Wehrlosigkeit und Betroffenheit, aus der natürlichen Gravitation, die Welt und Zeit und Fleisch und Blut ausüben auf den Kinderkörper und die Kinderseele, aber – immer dieses Aber, hinter jedem Aber ein neues Aber, und die Unds und Oders und Außerdems noch dazu – ich habe das Gefühl, als wäre es doch irgendwie möglich und legitim, die ganzen Jahrzehnte des Wachstums, der Vergeistigung, der Gewinnung von Abstand und Überblick herauszurechnen aus meinem Ich und dem Blick, dem Gefühl, dem Gespür des Jungen, der ich war und bin, mindestens genauso viel glauben zu dürfen, wie dem erklügelten Urteil des Realitätssüchtigen, der ich werden musste.
„Bildung ist das, was übrigbleibt, wenn man alles Gelernte vergessen hat“, meinte Adolf von Harnack.
Das Ich – meine ich – ist das, was übrigbleibt, wenn man sich wieder an alles Verdrängte erinnert. Also, sofern man das überlebt …

Sah ich, fühlte ich denn nicht damals schon, wie falsch alles war? Wie notdürftig und unzureichend? Es fällt mir nicht schwer, diese Irritation des Kindes in mir wiederzufinden, diese frühe Enttäuschung: Hier könnte gerade etwas schön sein, hier müsste gerade die große Seligkeit sich einstellen. Aber etwas fehlt, etwas ist falsch. Es ist doch Sommer, es sind doch Ferien, die Erde ist warm und trocken, die Bahngleise liegen verheißungsvoll unter dem großen, blauen Mittag, die Büsche blühen und duften und summen, alles ist interessant und lockt zu Abenteuer und Erforschung. Woher die Schwermut und das Ungenügen, woher der Schmerz, das Ziehen, das Gezogenwerden in alle Richtungen … Etwas in diesem Leben, etwas in dieser Welt stimmt von Grund auf nicht … das Kind grübelt und kommt nicht dahinter.
Es ist die Zeit selbst, das Zeitalter, die Kaputtheit und Verlogenheit der Zeit, die das Kind spürt … diese Welt, die da aufgeht vor mir und ganz langsam auch in mir, diese Welt sollte anders sein, sie war anders gedacht, sie weicht im Wesentlichen ab von ihrem Ideal, und als Kind verlangt man gefälligst nach dem Ideal, man lässt sich nicht abspeisen mit weniger als einem Ideal. Und das ist auch richtig so. Als Kind spürt man noch ganz unverfälscht, dass jeder Kompromiss faul ist und falsch. Ich will die richtige Welt, warum – zum Teufel – sollte ich weniger wollen?

Ich hätte ewig so weiterleben können, als enttäuschtes, melancholisches, grübelndes, wütendes Kind. Als Künstler. Ich hätte mich in Ewigkeit nicht um irgendwelchen Politscheiß geschert. Wenn der verdammte Staat einfach auf seinem Optimum geblieben wäre. Wenn die verdammten Bürger bei ihren Werten geblieben wären, in ihre verdammten Kirchen gegangen wären und ihr Eisenwasser getrunken hätten. Wenn Joachim Fest ein wenig mehr Wanderprediger und Aktivist gewesen wäre, den Zettel seines Vaters öffentlich verbrannt hätte und die schweigenden Rektoren und Äbtissinen mobilisiert hätte, den gottverdammten Clowns mit Entschiedenheit und Tatkraft entgegenzutreten, statt sie zu ertragen.

 

© Marcus J. Ludwig 2025
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