Es ist echt zum Wokewerden

Ein Antwortschreiben vor allem an Norbert Bolz, aber eigentlich an die gesamte alternativmediale Publizistenschaft und ihr Publikum     

 

 

Leute, ihr macht mich allmählich echt fertig. Ihr beklagt einerseits, dass alles Mögliche, was früher mal vernünftig, realistisch, links, kritisch, mittig, konservativ, liberal war, heute als rechtsextrem gilt, gebt euch aber andersherum unentwegt der gleichen Denkfaulheit, den gleichen tumben Abwehrreflexen hin. Und der gleichen Diffamierlust. Zum Beispiel, wenn ihr den Veganismus immer und immer wieder dem woken Wahnsystem und dem linkshysterischen Zeitgeist zurechnet. Das nervt kolossal, und es ist auch … wie soll ich sagen … hochachtungstechnisch nicht gerade förderlich. Dieses ewige anlasslos-unreflektierte Veganer-Bashing wirkt auf die Dauer dümmlich und senil. Könntet ihr also bitte einfach damit aufhören?
Ihr? Zu wem spreche ich hier?
Ich spreche zu denen, die ich gegenwärtig für halbwegs intellektuell ansprechbar, für im Großen und Ganzen einer rationalen Argumentation zugänglich halte – ich meine die zahlreichen medialen Akteure, die gerade während der vergangenen Corona-Jahre in den sogenannten alternativen Medien bewiesen haben, dass sie prinzipiell in der Lage sind, klare Gedanken zu fassen und zu formulieren, differenzierte Kritik zu äußern, epistemische Schwebezustände zu ertragen, Hypothesen auszuhalten und Selbstkorrekturen vorzunehmen.
Man konnte während dieser Elendszeit ja immerhin die erbauliche Erfahrung machen, dass selbst im irrsinnigsten Gesellschaftsklima noch eine gewisse intellektuelle Redlichkeit überleben kann. Sie überlebte, sie erblühte geradezu in publizistischen Biotopen, in Öffentlichkeits-Nischen, von denen ich mal ganz spontan und wahllos-exemplarisch die Achse des Guten, Multipolar, Tichys Einblick, die NachDenkSeiten, den Kontrafunk, die Junge Freiheit, Rubikon, Telepolis, NZZ, Sezession, ServusTV nenne. Ich bin weit davon entfernt, diese mediale Parallelszene irgendwie zu verherrlichen, ich bin mit allem Möglichen, was da so ventiliert wird, nicht einverstanden, aber ich habe doch einigermaßen das Gefühl, dass dort noch ein halbwegs unideologischer Realismus zu Wort kommt, so als Grundstimmung und gute Absicht. Und deshalb ist es mir nicht egal, was dort gesagt, geschrieben und gedacht wird. Das merke ich daran, dass ich mich noch aufrege, wenn da einer Mist erzählt. Bei den Mainstreammedien rege ich mich immer weniger auf, ich erwarte dort einfach schon keine Vernunft mehr, keine Intelligenz, keinen intellektuellen Geschmack, keine Fairness. Ich habe für Leute, die da mitmachen, nur noch Spott und, wenn es hochkommt, Verachtung übrig.
Wenn aber Norbert Bolz im Kontrafunk Mist erzählt, dann rege ich mich auf und verspüre den Impuls, ihm seinen Mist mit guten, klaren, überzeugenden Argumenten auszureden. Warum Norbert Bolz? Weil er jetzt gerade ganz aktuell nun mal der ist, der mit einem Beitrag namens „Die Tyrannei der Wehleidigen“[1] meinen Widerspruch herausfordert, und weil er schließlich nicht irgendein brabbelnder Stammtischgreis ist, sondern ein Denker von beträchtlichem Format, und da scheint mir eine Reaktion denn doch mal geboten. Im Grunde aber sollen sich ruhig alle angesprochen fühlen, die in den letzten Jahren die Begriffe „woke“ und „vegan“ in einem Atemzug genannt oder gedacht haben.

Offen gestanden, ich habe momentan wenig Lust, mich mit dem Thema zu befassen, aber da ich in dieser alternativen Medienszene, in der ich – warum auch immer – mittlerweile wohl mit mindestens einem Bein stehe, anscheinend der einzige Veganer und Fürsprecher angewandter Tierrechtsphilosophie bin, fühle ich eine gewisse Verpflichtung, hin und wieder Sichtweisen zur Geltung zu bringen, die den „Gewohnheitsrealisten“ und den „Lobrednern des Normalen“ offenbar zutiefst fremd sind.
Und da ich annehme, dass die wenigen Leser, die bis hierhin durchgehalten haben, noch weniger Lust haben, sich mit dem Thema zu befassen als ich, fasse ich mich jetzt möglichst kurz und thesenhaft:

 

 

1.

Ich will hier niemanden auf die Schnelle vom Veganismus überzeugen, aber ich will klarstellen, dass der Veganismus hochgradig rational, realitätsadäquat und ethisch zwingend ist. Er hat nichts mit den Grünen, den Greta-Kids und dem ganzen Genderscheiß zu tun.
Ich hätte Verständnis für Norbert Bolz, wenn er sagen würde: „Ich verstehe den Veganismus, ich anerkenne die unausweichliche Logik seiner Argumentation, ich sehe ein, dass dies konsequenterweise die gebotene Lebensweise des modernen Menschen sein müsste, aber ich schaffe es auf meine alten Tage nicht mehr, mich umzustellen.“
Ich habe dagegen wenig Verständnis, wenn er sagt: „Man denke nur an die Tabus und Verbote der politischen Korrektheit. An die gepflegte Hysterie in allen Umweltfragen. An die Überempfindlichkeit der Schneeflockengeneration und an den parareligiösen Greta-Kult. Dass bei den Veganern Essen zur Religion geworden ist […], erstaunt heute kaum mehr jemanden. Im Klartext bedeutet das, dass Hysteriker nicht mehr psychoanalytisch behandelt, sondern politisch geadelt werden. […] So hat sich eine Tyrannei der Wehleidigen etabliert, die ihre Aggressivität als Notwehr verkaufen wollen.“

[…]

Veganismus hat mit woken Wehwehchen exakt nichts zu tun. Im Gegensatz zum Moralismus der Erwachten, die aus ihren diversen Opferkulten und ideologischen Achtsamkeiten Distinktionsgewinne erzielen wollen, man könnte auch sagen: „sich wichtig machen“ wollen – denn darum geht es im Kern: um die Selbstaufwertung leerer Seelen, es geht um junge Menschen, die in eine Zeit totaler Sinnentleertheit hineingewachsen sind und dort nun händeringend nach Bedeutung suchen, nach Identität, nach Stabilisatoren für die Nichtigkeit ihrer Existenz – im Gegensatz also zu diesem quasireligiösen Moralismus, geht es beim Tierrechts-Veganismus um echte ethische Probleme.
Wer diese echten Probleme nicht sehen kann, nicht sehen will; wer meint, sich dieser Menschheitsverpflichtung entledigen zu können, indem er die Tierrechte einfach so in einem Abwasch mit dem ganzen woken Mumpitz entsorgt, der verspielt jede intellektuelle Bonität.

[…]

Den vollständigen Text finden Sie im Buch >> Bin ich rechts? – Und wenn doch, geht das wieder weg?

 

 

 

© Marcus J. Ludwig 2022
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