Deutscher Wahn (2)

Fortsetzung der nationalpathologischen Erkundungen  

 

Was für eine Krankheit ist das nun, an der wir leiden? Worin sind wir „Kinder unserer Zeit“? Was ist „unsere décadence“?

Es ist wohl so etwas wie eine moralistische Apophänie. Oder ein projektiver Fiktionismus. Man könnte es auch den narzisstisch-humanitaristischen Andichtungszwang nennen oder die thymasthenische Mythopathie – wir werden im Laufe dieser Erkundungen sehen, welche Begriffe das Phänomen am treffendsten zu beschreiben vermögen. Vorderhand sehen wir jedenfalls Zeichen und Indikatoren, wir sehen vor allem einen bemerkenswerten Unwillen zur Wirklichkeit. Eine umfassende, allgegenwärtige Realitätsverzerrung durch selektive Wahrnehmung, Ausblendung von problematisch-verkomplizierenden, gleichwohl doch zum Gesamtbild gehörigen Gesichtspunkten, Umgehung von elementaren Geboten der Logik. Die Realitätsverzerrung steigert sich nicht selten zur Realitätsleugnung, ja zur Nebenrealitäts-Neukonstruktion. – Zur „Wahnvorstellung“? So könnte man meinen … aber wir wissen noch nicht, ob dieser Begriff in seiner streng klinischen Bedeutung hier angemessen ist.

Die „Wirklichkeits“-Konstrukte geben dem Konstrukteur Antwort auf die Frage: Wie ist die Welt? Ihn treibt aber noch eine andere Frage um, eine weit wichtigere: Wie sollte die Welt eigentlich sein? Sie ist auch für unsere Erkundungen die wichtigere Frage, denn aus der Antwort erklärt sich zum großen Teil schon der Drang, ja der Zwang zum Aufbau einer realitätsfernen Wunschwelt. Einer Wunschwelt, die keineswegs einem Idyll und Paradies ähnelt, sondern eher einer moralischen Dystopie: Sie ist voll von Feinden, Katastrophen, Horrorszenarien und bösen Menschen. Und sie muss so sein, denn nur so erfüllt sie das Bedürfnis nach Sinn, nur so gibt sie dem „Wähnenden“ (wir wollen vorerst noch nicht von Wahnkranken reden) das, was ihm das Wichtigste ist auf der Welt: Sicherheit.

Sicherheit liegt für den sozialen Primaten Homo Sapiens zunächst einmal in der Zugehörigkeit zur Gruppe. Die Grenze zwischen In-Group und Out-Group ist die wesentliche Scheidelinie im Seelenleben des Hordenwesens, das wir immer noch sind. Sicherheit und Lebensruhe findet der von der Evolution zum existenziellen Unbehagen verurteilte Ex-Affe in der Übereinstimmung mit den Anderen, den Nächsten. Mit ihren Normen, ihren Werten und vor allem ihrer Wirklichkeit. Diese Übereinstimmung gibt dem Einzelnen das Gefühl moralischer Richtigkeit. Er fühlt sich „gut“. Das heißt: nicht nur gut im Sinne von „wohl“, sondern „moralisch gut“. Er ist richtig so, wie er ist. Es ist alles in Ordnung mit ihm. Er steht nicht in der Gefahr, aus der Gruppe verstoßen zu werden. Er befindet sich in Einklang mit ihren grundsätzlichen Gesinnungen und somit in Sicherheit. Er kann ruhig schlafen.

Diese Sicherheit verbürgende moralische Richtigkeit findet permanente Bestätigung im Kontrast zu den fremden, andersartigen, abweichenden Vorstellungen, Weltauffassungen und Lebenspraktiken der Out-Group. Also des Nachbarstamms, des Nachbarlandes, der gegnerischen Partei, der Coronaleugner, der Alternativmedien, der Rechten, der Menschenfeinde, der Unmenschen.

Mit dieser Reihung sind wir aber schon beim Problem des modernen, zeitgenössischen Menschen, insbesondere des Homo Sapiens germanicus. Denn der hat ja gar keine Horde mehr. Der natürliche Personenverband von etwa hundertfünfzig Nächsten, für den er über Jahrhunderttausende genetisch entwickelt wurde, also der Clan, der Stamm, das Dorf, die Gemeinde, wurde ihm weitgehend wegmodernisiert. Er ist allein, er ist reduziert auf eine Kernfamilie und ein paar Freunde. Aber das reicht ihm nicht, kann ihm nicht reichen, denn so ist der Mensch nicht. Er braucht eine neue In-Group. Er braucht Übereinstimmung mit anderen, mit so vielen anderen, dass seine Weltsicht, sein Weltgefühl hinreichend abgesichert wird. Er brauch Gleichgesinnte, Gleichgestimmte, mit denen er dieselbe Welt bewohnt, sonst dreht er durch vor Angst, Unsicherheit, Verwirrung, geistig-seelischer Vereinsamung.

Beinahe unser ganzes Reden im Alltag – über das Wetter, über die Nachrichten, den Urlaub, die Kinder, den Hund, die Benzinpreise, die Baustellen, die Lage des Landes, den Zustand der Welt – dient in erster Linie dem Wahrnehmungs- und Bewertungs-Abgleich mit den relevanten Anderen zum Zwecke der Beruhigung unserer Unsicherheit: Leben wir in derselben Welt? Gehöre ich noch zur Gruppe? Sehen die Anderen das, was ich sehe? Bin ich richtig so, wie ich bin?

Wer von seinem Urlaub auf Usedom erzählt, tut das nicht, um seinem Nachbarn landeskundliche Sachinformationen zu übermitteln, sondern weil er eine affirmative Reaktion erwartet wie etwa: „Ach schön, da war meine Schwester auch schon mal, soll ganz herrlich da sein, da muss ich auch unbedingt mal hin“. Er erwartet nicht: „Das ist ja entsetzlich! Bist du verrückt geworden? Da kann man doch nicht hinfahren, jeder weiß doch, dass das total hässlich da ist, und von der widerwärtigen Meeresluft kriegt man Pickel, und dann die Leute da, ein furchtbarer Menschenschlag, Idioten und Barbaren. Da machst du Urlaub? Und dann die lange Autofahrt. Klimawandel? Schon mal gehört? – Alter, was stimmt nicht mit dir?!“

Wenn ein Einzelner so reagieren würde, einer, den man vielleicht eh immer etwas seltsam fand, würde man sich wahrscheinlich nur wundern. Wenn aber sämtliche Nachbarn zusammenströmen, um derart auf den abweichenden Urlaubsreisenden einzureden, Leute, die man für „normal“ und sozial unverzichtbar hält, wäre wohl eine große Verunsicherung des Lebensgefühls und eine starke Motivation zum Überdenken der eigenen Einstellungen die Folge.
Man erzählt von sich und seinem Alltag und seinem Leben in der Hoffnung, dass die Anderen „Ja“ zu einem sagen. Ja. Alles okay. Du gehörst weiterhin zu uns. Du bist hier sicher. Du musst nicht hinaus in den Wald, zum Nachbarstamm, wo man dich vielleicht töten wird. Du musst nicht hinaus in die Welt, dir eine neue Gruppe suchen.

Die Sicherheit, die die Zugehörigkeit zur sozialen Gruppe gewährt, ist die Grundbedingung für alles Weitere. Wird sie nicht gewährt, tun sich existenzielle Probleme auf, die nur durch Akte der Anpassung oder durch Auswanderung in neue Realitäten zu bewältigen sind.
Aber auch für den, dem die Integration in die Gruppe gelingt und dem die Geborgenheit im Großen und Ganzen gewährt wird, tut sich sofort die nächste Verunsicherung auf. Die Gruppengeborgenheit beruhigt das Tier, das wir immer noch sind, den Homo. Für den Sapiens aber stellt sich die Frage nach dem Sinn.

 

Und für den Homo Scribens …
… stellt sich dauernd die Frage, wie er sein Treiben und Schreiben finanzieren soll. Wenn Sie eine Antwort haben, richten Sie sie einfach an diese Adresse:

Marcus J. Ludwig
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WELADEDBOC1

Danke!

 

Die Suche nach Sinn und der Drang zur aktiven Fingierung von existenziellen Zwecken und Zusammenhängen, wird angetrieben – so meine vorläufige Haupthypothese – von der fortschreitenden Haltlosigkeit des Lebens in einer entgötterten Welt. Sachlich und emotionslos dargelegt, läse sich der Befund folgendermaßen:

Der Mensch ist das existenziell verunsicherte Tier. Als einziges Tier lebt er nicht nur in seiner Umwelt, sondern ist darüberhinaus mit der Welt konfrontiert, und diese Welt wirft unlösbare Fragen auf. Ob er die Fragen durchdenkt oder verdrängt – sie verunsichern ihn. Er versucht, seine Unsicherheit durch Sinnfindung zu beruhigen. Sinn ist allerdings nirgends zu finden, er muss gemacht werden. Sinn wird erzeugt durch geordnete Zusammenhänge, durch eine runde, in sich stimmige Erzählung, in der sich alles möglichst restlos und einleuchtend zusammenfügt. Solch eine Erzählung lieferte dem europäischen Menschen bislang das Christentum. Das Christentum geht ersichtlich seinem Ende entgegen. Vor allem in Deutschland glaubt fast niemand mehr im Ernst an die voraufklärerischen Sinngebungsnarrative der Bibel und der Kirche. Niemandes Unsicherheit findet mehr Beruhigung im Gebet zu einem überirdischen Wesen und im Glauben an ein ewiges Leben im Himmel. Das Sinnfindungsbedürfnis und der Sinngebungszwang sind jedoch ungebrochen, sie können von kindlich strukturierten Psychen prinzipiell nicht aufgegeben werden, und diese richten ihre Energien nunmehr auf Gegenstände abseits traditioneller Jenseits- und Göttervorstellungen.

Oder, so kurz wie möglich gesagt: Unreife Erwachsene – infantile Psychen in adulten Körpern – machen sich die Welt, wie sie ihnen … nein, nicht wie sie ihnen gefällt, sondern wie sie ihnen am sinnvollsten erscheint. Alles, was sie geistig berühren, soll, ja muss die Idealgestalt einer Kugel, mindestens eines Kreises bekommen, muss ums Verrecken sich runden. Was der Rundung entgegensteht, was ragt und eckt und zackt und franst und wölkt, was also irgendwie der Kreisförmigkeit widerspricht, wird abgetragen, weggeschliffen, abgeschmolzen, eingeebnet, oder einfach abgedeckt, übermalt und überstrahlt. Was nicht passt, wird passend gemacht – auf dass Sinn entstehe! Ein rundes Narrativ, das einen ruhig schlafen lässt. Eine Lüge, mit der sich leben lässt.

So lange, bis die Ecken und Zacken der Welt, also die Abweichungen der Wirklichkeit zu offensichtlich werden und einen eben nicht mehr ruhig schlafen lassen. Die Geschichte der wissenschaftlichen Entdeckungen lehrt uns allerdings, dass es immer nur wenige Einzelne sind, die sich die Seelenruhe stören lassen, die Masse ist Meister im Verdrängen, Verdunkeln und Übersehen.

 

* * *

 

Die zwanghafte Tendenz zur Abrundung, man könnte sie auch kognitionspsychologisch als Arrondierungsfehler, Arrondation bias, bezeichnen, ist gewissermaßen die maximal potenzierte Version des sogenannten Rhyme-as-reason-Effektes. Menschen tendieren spontan dazu, Aussagen für zutreffender zu halten, wenn sie gereimt sind. Sprichwörter, Aphorismen, Lebensweisheiten. Ebenso halten sie Weltbilder, Narrative über komplexe Vorgänge, Gegenwartsdeutungen und Großerzählungen, die ihre Verarbeitungskapazitäten und ihr Urteilsvermögen bei Weitem übersteigen, für realistisch, wenn sie in sich stimmig und rund sind. Wenn sie ohne „Ungereimtheiten“ daherkommen. Dieser Reflex zur Komplexitätsreduktion ist erkennbar ein Reflex zur Angstvermeidung, jener Angst des geistbegabten Lebewesens, dessen Geist nicht ausreicht, die Realität – vor allem die soziale Realität – wirklich zu bewältigen. Das Phänomen scheint ein relativ junges zu sein. Es geht ohne Zweifel mit der Rationalisierung, der Verwissenschaftlichung und Entzauberung der Welt seit gut 200 Jahren einher. Unser Anspruch an Logik und innere Widerspruchsfreiheit wird zum Beispiel auf harte Proben der Langmut gestellt, wenn wir mal wieder Grimms Märchen zur Hand nehmen oder uns an einem Kunstmärchen der Romantik versuchen. Man bekommt richtiggehend schlechte Laune davon, denn diese planlos und rein additiv zusammengestümperten Erzählungen sind dermaßen frustrierend für das Stimmigkeitsbedürfnis heutiger Rezipienten, dass man sie im Grunde nur noch wissenschaftlich lesen kann, eben als Zeugnisse vormoderner Geisteszustände und halbarchaischer kognitiver Entwicklungsstufen.

Die Menschen, die Märchen erzählen und genießen konnten, hatten offenbar noch kein Problem mit der mangelnden Rundheit, mit der Willkürlichkeit und Zufälligkeit von Handlungsverläufen. Brüche und logische Fehler konnten durch Zauberworte, magische Eingriffe von irgendwoher befriedigend überspielt werden, man bemerkte dergleichen nicht oder man hielt es aus, ohne größere Missempfindungen. Aber das genau scheint der Punkt zu sein: Der prälogische Mensch, der ungebrochen religiöse Mensch, der einen Großteil seines geistigen Lebens in einer magischen Welt verbrachte, hielt den Unsinn des Alltags, den Unsinn, der sich etwa in den Märchen offenbart, aus. Er hielt ihn aus, weil er überwölbt war von dem großen fraglosen Sinn, den die Religion bereitstellte. Wenn das große Ganze sinnvoll war, wenn die Bibel, die Kirche, der organisch eingeborene Kinderglaube vollständige und zweifelsfreie Geborgenheit in einem lückenlos sinnvollen Weltbild und Weltgefühl boten, dann konnten darunter die verrücktesten Widersprüche koexistieren.

Heute können nur noch Kinder die Grimmschen Märchen – welche ursprünglich ja keineswegs Erzählungen für Kinder waren – ohne innere Widerstände annehmen. Ihre paradiesische Einfalt, ihre vorrationale Großzügigkeit lässt das Disparateste zaubrisch neben- und durcheinander bestehen. Die Bausteine ihres kleinen Weltraumes, die Bilder, Klänge, Figuren, die fluktuierenden Objekte und bunten Sensationen bleiben träumerisch in der Schwebe, ohne zu kollidieren, ein sensomotorisch-präoperationales Mobile im Luftzug der Stammesgeschichte. Erst wenn sie erwachsen werden, zu modernen Menschen mit formal-logischen, geistig-ästhetischen Ansprüchen, müssen die Elemente sich fügen, ordnen und runden. Das ist es, was Menschen, die von der kulturellen Evolution am weitesten auf diesem Kurs vorangeweht wurden, seit jeher als Vertreibung aus dem Paradies empfanden.

 

Fortsetzung folgt

 

© Marcus J. Ludwig 2024
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