Deutscher Wahn (1)

Nationalpathologische Erkundungen  

 
Das deutsche Volk ragt unter allen kollektivseelischen Großgebilden des Westens zweifellos als das gestörteste heraus. – Deutschland? Nicht die Amerikaner? Nun, die Amerikaner mögen als Typus und Nationalcharakter infantiler, clownesker, auch brutaler und hysterischer sein, in sich verlogener mit ihrer artifiziellen Show- und Business- und Gotteskindschafts-Mentalität. Filmreifer, gewissermaßen. Aber so weit weg von der Wirklichkeit, so unerreichbar in Phantasiegespinste und Wahnwelten abgedriftet wie die Deutschen sind sie nicht. Amerikaner und außerdeutsche Europäer haben wohl alle ihre Kaputtheiten, ihre Spleens und spezifischen Perversitäten – aber sie haben irgendwo ein Restbewusstsein, eine Restahnung davon, dass sie ein bisschen irre sind. Die Deutschen – vor subjektiver Gewissheit und Ich-Syntonie strotzend wie der überzeugteste Zwangsjacken-Christus – ahnen nichts von ihrem Wahnsinn, sie wähnen sich in vollständiger Übereinstimmung mit den Weltgesetzen und den Gegebenheiten der Realität.

Das Menschenbild der Psychoanalyse – und letztlich jede tiefenpsychologische Auffassung vom Homo Sapiens, diesem von der Evolution in die Instinktfreiheit entlassenen und folglich für allerlei Verirrungen höchst anfälligen Primaten – gründet in der Einsicht, dass Störungen der Realitätsanpassung nicht einfach durch falsches Lernen, durch Konditionierung und Angewöhnung zustande kommen. Gewiss kann man Menschenmassen durch Indoktrination, propagandistische Dauerbeschallung, Gruppendruck und dergleichen „abrichten“, aber solche Dressuren bauen schon auf einem Fundament auf, einer Bereitschaft, dergleichen mit sich machen zu lassen. Sie rechnen schon mit einer Beeinträchtigung der psychischen Gesundheit, mit einer ethisch-ästhetischen Immunschwäche gewissermaßen. Das Empfinden für das „Normale“, Menschengemäße, Natürlich-Zukömmliche muss bereits stark herabgesetzt sein, damit man den Leuten Ideen einpflanzen kann, die sie in gesunder Kondition einfach für irrational, lächerlich, abwegig, übergriffig, hässlich und dumm halten würden.

Es gibt in der Regel irgendein Bedürfnis im psychisch-emotionalen Haushalt, das die Disposition für den Wahn begünstigt, ein Ungleichgewicht, das kompensiert werden muss. Die Symptome einer psychischen Erkrankung sind – abgesehen von rein traumainduzierten oder gewaltsam andressierten Reflexen – nicht sinnlos, sie ergeben Sinn aus Sicht des stabilisierungsbedürftigen Menschen, der, von Einseitigkeiten vorgeschädigt, anfällig wird für suboptimale Lösungen, wie die Umwelt sie ihm eben bietet, wie sie „in der Luft liegen“, sozusagen.

Unser Körper baut aus den Baustoffen, die wir ihm per Nahrungsaufnahme zur Verfügung stellen, unablässig neue Generationen von Zellen auf (die Leber beispielsweise wird im Zweijahres-Rhythmus komplett ausgetauscht), und er muss dabei mit dem arbeiten, was er kriegt. Wenn er Müll kriegt, baut er mit Müll. Deshalb unter anderem sehen Industriemenschen anders aus als Naturmenschen.

Mit der Psyche verhält es sich ähnlich. Ein Geist, der mit geistigem Junkfood gefüttert wird, sieht irgendwann dementsprechend aus. Er findet wohl zu irgendeiner Homöostase, aber es ist die Homöostase des Adipösen, der eine Zeitlang einigermaßen im Gleichgewicht zu stehen oder auch ein paar Schritte zu gehen vermag, aber anspruchsvolle Bergtouren oder grazile Tanzdarbietungen wird man von ihm eher nicht erwarten dürfen.

Der Organismus, der als Entität, als komplexes lebendes System, nach Stabilität und Ausgeglichenheit sucht, findet früher oder später etwas, das ihm halbwegs dazu verhilft. Ob es ein Element der natürlichen Realität ist oder ein wahnhaftes Gebilde, eine rational erdachte und geprüfte Hypothese oder ein „Convenience-Produkt“ der Bewusstseinsindustrie, das ist eine Frage, die je nach Dringlichkeit, je nach Bedrohlichkeit seines Zustandes, zweitrangig wird. In der Not frisst der Teufel bekanntlich Fliegen – und der Mensch glaubt Lügen. Vor allem seine eigenen Lebenslügen. Welche letztlich immer Notlügen sind. Sie sind nötig zum psychischen Überleben.

Die Frage stellt sich also, ob man in der Lüge leben will. Sie stellt sich allerdings erfahrungsgemäß nur dem, der sie ohnehin mit „nein!“ beantworten wird.


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„Was verlangt ein Philosoph am ersten und letzten von sich?“, fragt Nietzsche im Vorwort zu „Der Fall Wagner“, und antwortet: „Seine Zeit in sich zu überwinden […]. Ich bin so gut wie Wagner das Kind dieser Zeit, will sagen ein décadent: nur dass ich das begriff, nur dass ich mich dagegen wehrte. Der Philosoph in mir wehrte sich dagegen.“

Ich habe mich von jeher zutiefst angesprochen gefühlt von diesem Geständnis Nietzsches: ein Mitleidender zu sein, ein Mitpatient, befallen von derselben Zeitkrankheit wie alle andern auch. Der Kulturarzt ist ja nicht unbedingt gesünder als die Masse, der Unterschied ist lediglich, dass er – durch unverdient-unverschuldete Lebensgeschicke sensibilisiert für allerlei Symptome und Syndrome – sich der Gestörtheit, eben auch der eigenen Gestörtheit, bewusst ist und dagegen ankämpft.

Nietzsche, auch als Epidemiologe und Vivisekteur der Epoche immer noch exemplarisches Geschöpf von 1800 Jahren abendländischem Christentum, ja, all seinen grellen Verwünschungen und Antichristlichkeiten zum Trotz auf wundersame Weise doch Prophet und Heiliger im Rückblick –, er wirft den Menschen nicht primär vor, dass sie sind, wie sie sind, sondern vor allem, dass sie zu feige, zu verlogen, zu selbstgefällig sind, um zu sehen, wie sie sind. Er lastet ihnen an, dass sie sich lieber in vorsätzlicher Selbstverblendung alles Mögliche vormachen und zurechtlügen, statt schonungslos in den Spiegel zu blicken.

Ohne mich mit Nietzsche, diesem psychologisch-lyrischen Wundertier und Veranstalter des wohl erbarmungswürdigst-ehrfurchtgebietendsten Lebens, das je aus unserer Mitte kam, irgendwie vergleichen zu wollen, so hoffe ich doch immerhin reklamieren zu dürfen, dass ich mich mit einigem Recht angesprochen fühle von der zitierten Selbstbezichtigung, gibt sie doch recht eigentlich die Grundhaltung wieder, aus der heraus ich schreibe, seit ich schreibe, das Bewusstsein, dass eben auch ich die ganze Misere meiner Zeit mit mir herumtrage, all die Missbildungen und Entstellungen am eigenen Leibe beziehungsweise: am eigenen Geiste zu spüren bekomme, und vor dem dick überschminkten Durchschnittspatienten lediglich eines vielleicht voraushabe: die Unfähigkeit, mir meine Krankheit schönzureden.

Wenn ich also über die Deutschen und ihre mentalen Gebrechen schreibe, dann schreibe ich immer auch über mich selbst. Ich schreibe als „teilnehmender Beobachter“ und Selbstanalytiker. Die Seelenseuche der Epoche treibt auch in mir ihr Unwesen, nur deshalb traue ich mir ja überhaupt zu, den Sachverständigen und Sittenrichter zu spielen und gelegentlich mit Entschiedenheit ein paar Urteile zu fällen. Wenn ich an meinen Landsleuten verzweifle, wenn ich sie kritisiere, verspotte, beschimpfe, verfluche, dann gilt all das also nicht zuletzt mir selbst.

Philosophieren im Sinne Nietzsches – des Aufklärers Nietzsche – heißt vor allem: sich mit den Mitteln des Verstandes zu wehren gegen die Lüge, gegen all die unbewussten kulturklimatischen Prägungen, Deformationen, Vergiftungen, denen man ausgesetzt war – und ausgesetzt bleibt – als werdendes Ich. Anzudenken gegen die Gewissheiten, in die man hineingewoben wurde – und weiterhin wird. Frei zu werden von aller Fremdherrschaft, aller Schwarmmoral, allem „man“. Distanz zu gewinnen gegen den Zeitgeist. Macht zu gewinnen über sich selbst.

Das ist und bleibt – es tut mir leid – auch eine Willenssache, ich kann es einfach nicht anders empfinden. Und ich kann den Zorn in mir weder verhehlen noch tadeln, den Zorn auf all jene, die den Willen einfach nicht aufbringen. Denn dieser Wille zur Macht ist letztlich der Wille zur Menschwerdung.
Und die Masse will offenbar Tier bleiben. Irgendetwas zwischen Hausschwein und Rhönschaf, Sardine und Hyäne. Womit nichts gegen diese respektablen Mitgeschöpfe gesagt sein soll …


Fortsetzung folgt.


 

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