Unter uns

Wir kannten die Legenden von Christusträgern – Christo-phoren – Riesen mit starken Schultern, die Gott und die ganze Welt zu tragen vermochten und über Wasser hielten. Wir hörten die dummen Geschichtchen, wir vergaßen sie, wie man all den Pfaffen- und Ammenkram zu vergessen hatte, wenn man im Kampf mit den Wellen der Welt nicht völlig untergehen wollte. Und dann erlebten wir die Geschichte selbst und neu, wir standen als Kinder, verhinderte Sünder am Fluss, darin viel Menschen umkamen, so sie hinüber wollten fahren, und es kam aus dem Nichts in der Tat so ein Nothelfer, der uns trug und über Wasser hielt, wenn wir auch keine Schwerstgewichte und Weltenschöpfer waren, Gesalbte und Gottessöhne, für die sich der Einsatz womöglich gelohnt hätte, gelohnt in Form von Gedenktagen und Heiligenscheinen. Einem Sankt Poietophorus aber malte man keine Fresken und weihte man keine Tempel, man betete ihn nicht an, aber als Getragener wunderte man sich doch, und man konnte nicht aufhören, sich zu wundern.

Ja, es gab Menschen unter uns, die man in frühesten Zeiten womöglich als Heilige erkannt hätte. Wir Nachweltler erkannten sie kaum mehr, weil sie nicht unseren verkitschten Vorstellungen von Heiligkeit entsprachen, weil sie keine Imitatio Christi für uns aufführten, sich nicht „Heiliger Vater“ oder „Mutter Sonstwie“ nennen ließen, sich nicht anbeten ließen vom gefühligen Pöbel, der sich so gern niederwarf vor der Pracht und schluchzte vor den Stellvertretern alter Allmacht. Es gab Menschen unter uns, die sich ganz anders zu erkennen gaben, die sich … nun ja … eigentlich gar nicht zu erkennen gaben, die rätselhaft blieben in ihrer schwierigen Ehrwürdigkeit, man hielt sie für Schrate und romantische Unikate, sie schreckten uns durch ihre Schroffheit und ihre zudringliche Offenheit, befremdeten uns durch ihre moralische Autarkie und einen Extremismus der Güte, der unsere zwischenmenschlichen Gewohnheiten ins Leere laufen ließ.

Gut, sie waren natürlich keine richtigen Heiligen, dazu waren sie irgendwie doch noch zu diesseitig, zu cool mitunter, dafür fuhren sie zu rasant in ihren Oberklasse-Geschossen über die deutschen Autobahnen, immer schön konstant überm Limit, beständig geblitzt, hier zehn Euro, da zwanzig Euro, gähnend bezahlten sie den strafenden Staat, mit derselben großzügigen Apathie, mit der sie dem Bettler ein Bündel bunter Scheine in die Hand drückten. Vielmehr: Nicht sie taten es, etwas in ihnen tat es, und zwar so, wie es im Buche stand, jenem Buche, das sie auch nicht sonderlich interessierte, und doch folgten sie seinen Geboten besser als alles amtliche Gelichter, das sich Paläste bauen ließ und sich ernsthaft anmaßte, Seelen zu retten und Sünden zu vergeben.
Es gab Menschen unter uns, deren Linke wirklich kaum wusste, was die Rechte tat. Und das beeindruckte uns umso mehr, je ehrlicher wir uns selbst besahen und uns gestanden, was wir ja eh schon wussten: dass wir wohl nicht so sein konnten in unserer konditionierten Kleinlichkeit – noch nicht zumindest –, dass wir ängstlich besorgt bleiben würden um unsere Zukunft, selbst wenn wir irgendwann ausgesorgt hätten, dass wir weiter rechnen würden und Bedingungen stellen, und kaum je darauf bauen könnten, dass die Energie ihren Weg schon fände, geräte sie erst in die richtigen Hände. Ja, wir waren anders als diese lässigen Spender und Vermögensverschwender, die irgendwann mit leeren Taschen dastehen würden, wenn sie so weiter machten, wenn sie meinten, sich nicht um Kapitalerträge und Zinseinkünfte scheren zu müssen, nur weil sie partout nicht opfern wollten den Göttern, die von Menschenhänden gemacht waren, Neinsager sein wollten, und dem Staate lustig verweigerten, was angeblich des Staates war. Sie sollten schon sehen, was sie davon haben würden, von ihrer Ungebärdigkeit, ihrer Unbürgerlichkeit, ihrer Respektlosigkeit gegen das Zeug, das die Welt doch schließlich im Innersten zusammenzwang.

Was würden sie haben davon? Würden sie nicht vor allem freier gelebt haben, und höher gewissermaßen? Und in die Nähe von Kräften gelangt sein, die mit Geld nicht zu beschwören waren, Kräften, die wir wohl auch kannten, aber nur aus zweiter Hand, nur im Medium der Musik, der Artistenmetaphysik, nur aus der Versenkung und Zentrierung, die gewiss auch ihr Recht hatte, aber etwas anderes war als das Öffnen und Ausgreifen nach oben, nach ganz oben. Sie boten sich dar, nackt in der Natur, eins mit den Elementen, seliges Fädchen des großen Myzeliums. Wir schlossen lieber die Augen, wir näherten uns nur auf Umwegen den Mysterien, statt gerade dort hin zu sehen, wo es hell wird und grell vor Gefühlen.
Es gab Menschen unter uns, die Gott geschaut haben wollten in den Augen eines Wickelkinds, und warum hätten wir das nicht glauben sollen, nur weil wir vielleicht schon wussten, dass es einen Gott gar nicht gibt?

Es gab Menschen unter uns, die das ganz Andere verkörperten, ein Gegenbild, das uns anstrengende Rätsel aufgab … seltsame Menschen, deren Verrichtungen uns seltsam blieben, unverständlich in den Vertiefungen des Tages, den Routinen und Askesen des Lebens. Wir errieten nicht, was sie an uns fanden, was sie in uns sahen, sie stellten keine Fragen und wollten nichts erfahren. Doch sie lösten uns die Zungen, störten die Quieta in uns auf, sie lockten uns in Kavernen der Seele und schockten uns mit uralten Ängsten, sie hackten mit Äxten am Hause des Seins, sie zerrten uns zu sich, sie drückten uns an sich und rissen uns mit – wohin? Wohinauf?

Es gab Menschen unter uns – Menschen? Lebende Metaphern? Gestalt und Gleichnis zugleich –, die uns den Weg nach oben leuchteten und uns Mut zulachten, wo wir zauderten und nicht die Traute fanden, uns über die kleinlichen Regeln der Turmwächter hinwegzusetzen, um endlich freier zu sehen. – Was sahen wir? Monde und Spiegel sahen wir, Moon Mirrors, Highways of Hope, Memory Ghosts, Menschen an Ufern, hinüber in neue Regionen, in denen die Seelen sich anders verbanden als durch Neid und Misstrauen, Kalkül und Wertschätzung. Kalte Winde sahen wir, ehrliche Winde, ungeschönte Lüfte, Altes und Neues zu Zeiten zusammen gebunden, Fallhöhen und Missgriffe, Möglichkeiten, die wir vermeiden wollten, doch jetzt standen wir hier, hier oben, und es gab nur zwei Wege zurück. Alleine fliegen oder gemeinsam klettern.

Es gab Menschen unter uns, Meta-phoren, Träger, Begleiter ins Anderswohin, Zugefallene und Ungerufene, die auftauchten, wenn Not am Mann war, um Energien zu spenden und Nöte zu wenden. Einen solchen Menschen durfte ich kennenlernen. Dafür bin ich dankbar.

 

 

 

© Marcus J. Ludwig 2025
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