Wagenknecht und der Antiveganismus

Das hier wird jetzt keine Rezension, nur ein kleiner Korrekturhinweis. Sahra Wagenknechts Buch über die selbstgerechten illiberalen Lifestyle-Linken wurde vielfach positiv besprochen und ist in der Tat im Großen und Ganzen höchst lesenswert. Vor allem für all jene, die böse, rechtsverdächtige Bücher und Blogs ansonsten nicht mit der Kneifzange anfassen würden. Die notorisch feige, auf ihre Unanstößigkeit und ihren guten Ruf bedachte Mitte der Gesellschaft lässt sich unbequeme Wahrheiten nun mal lieber von einer beglaubigten Linken überbringen als von Faschos wie Sieferle, Sarrazin oder den Hammerskins von der Jungen Freiheit.

Für geistige Herumtreiber und Neugiernasen allerdings, die weniger Berührungsängste vor dem genderallergischen, islamophoben, nationalistischen, misogynen, flüchtlingsfeindlichen, migrationskritischen, anti-antirassistischen, anti-antifantischen Rand der Publizistik haben, sind viele der Wagenknecht‘schen Einsichten so wahnsinnig neu nicht. Sie sind, offen gesagt, eher reichlich verspätet. Aber egal, das Ganze ist fluffig-kompakt zusammengestellt, der Kulturkampfkundige genießt ein kurzweiliges, gut lesbares Repetitorium und freut sich, dass die derart dargereichte und mit dem vertrauenswürdigen Gesicht der gepflegten Kommunistin verzierte Botschaft nun endlich auch da gehört wird, wo man sie jahrelang als dumpfe Hatespeech abtun wollte. Es kommt halt – wie vor Gericht oder im Bewerbungsgespräch – immer noch sehr darauf an, wer etwas sagt.

Gestört hat mich bei der Lektüre nur eine Kleinigkeit, und zwar bei dem Rundumschlag gegen die Identitätspolitik (Kapitel 5), wo die Autorin den gleichen, offenbar unvermeidlichen Fehler begeht wie alle Rechten. Ich weiß gar nicht, ob es die Fehlerhaftigkeit der Sache ist, die mich stört, oder einfach die Frechheit, die gedankenfaule Dreistigkeit, mit der sie mich, mich als Mitglied einer angeblichen Opfergruppe, in eine Reihe stellt mit all den moralistischen Mimöschen, die ich doch schließlich selber regelmäßig mit den schmalen Hass- und Hetz-Kräften, die mir zu Gebote stehen, durch den kritischen Fleischwolf drehe.
„Fleischwolf“ – es ist doch immer wieder interessant, dem Unbewussten beim Verfertigen seiner Apropos zuzusehen … es geht nämlich um den Veganismus. Ich bilde mir ein, dass ich hinreichend kritikfähig bin, mich auf blinde Flecken und eigene moralpsychologische Deformationen hinweisen zu lassen, aber im Falle des Veganismus stimmt der Wagenknecht’sche Hinweis einfach hinten und vorne nicht. Es mag wohl sein, dass die vegane Lebensweise als praktische Umsetzung einer konsequenten Rechtsphilosophie häufig mit einem linken Lifestyle einhergeht – meiner Wahrnehmung nach übrigens wesentlich häufiger mit einem radikalen und halbanarchischen als mit dem grün-pseudoliberal-urban-akademischen Lifestyle, auf den die Autorin es abgesehen hat. Es sind ja eher Zecken und Straightedger als verwöhnte Klimakinder und Nachhaltigkeits-Professor*innen, die sich dem Kampf gegen den zigmillionenfachen täglichen Tiermord verschreiben. Die linke Grundierung des Veganismus verleitet jedenfalls regelmäßig die konservative Kritik von Achse des Guten über Tichy’s Einblick bis Wagenknecht dazu, diesen lebensfreundlichen Konsequentialismus kurzerhand auch den ganzen Wirrheiten der Identitätspolitik zuzuschlagen. Was total ungerecht ist, mich aber im Grunde kein bisschen verwundert. Denn in meinen zweieinhalb Jahrzehnten als Veganer habe ich wahrlich zur Genüge erlebt, wie auch bei den intelligentesten und gebildetsten Zeitgenossen die Rationalität komplett aussetzt, wenn es um die Wurst geht.

Frau Wagenknecht ist – so vermute ich – keine glühende Pflanzenfresserhasserin, ihr Antiveganismus begnügt sich mit pauschaler Ridikülisierung: „Die Identitätspolitik läuft darauf hinaus, das Augenmerk auf immer kleinere und immer skurrilere Minderheiten zu richten, die ihre Identität jeweils in irgendeiner Marotte finden, durch die sie sich von der Mehrheitsgesellschaft unterscheiden und daraus den Anspruch ableiten, Opfer zu sein.“ So heißt es auf Seite 102. Und weiter: „Sexuelle Orientierung, Hautfarbe und Ethnie […] funktionieren immer. Wer […] weiß und hetero ist, kann es behelfsweise über den Lebensstil versuchen, also etwa als Veganer gegen die Mehrheit der Fleischesser.“
Ernsthaft? Wollen Veganer Opfer sein?

Man vergisst zuweilen bei all den Corona- und Kriegs-Gräueln, die uns täglich als Horrorzahlen und Schreckensbilder ins Gemüt gepresst werden, dass das industrielle Schlachten und Quälen der Kreatur, das Verbluten und Verröcheln, das Verstümmeln, Verätzen, Verbrühen, Vergasen, Vergewaltigen und bei lebendigem Leibe Verfaulenlassen – man vergisst gern, dass all das im Hintergrund munter weitergeht. Veganer sind die unter uns, die das nicht vergessen können. Veganer sind keine selbststilisierten Opfer, die sich an Elite-Unis in Safe Spaces flüchten, weil sie irgendwelche Mikroaggressionen von Frikadellenessern nicht ertragen. Ich habe noch nie einen Veganer getroffen, der sich als Opfer gefühlt hätte und daraus Privilegien hätte ableiten wollen. Das ist ausgemachter Schwachsinn. Veganer sind keine Opfer, sie kämpfen vielmehr für andere, und zwar äußerst reale Opfer, für empfindsame Lebewesen, die aufgrund menschlicher Makroaggressionen durch alle Höllen gehen, durch Höllen, die ihr ganzes kurzes sinnloses Leben lang dauern.

„Marotten“, „Skurrilitäten“, „Bizarrerien“, „Lächerlichkeiten“, „Luxusproblemchen“? – Ich gestehe, dass ich Sahra Wagenknecht solche intellektuellen Niveaulosigkeiten nicht zugetraut hätte. Man kann sich irren, aber das hier ist ja nicht Ausdruck von Denkunfähigkeit, sondern von Denkverweigerung. Der Veganismus ist weder skurril noch eine Marotte, sondern genau das, was echte Linke als Kern echter linker Politik verstanden wissen wollen: Kampf für die Entrechteten, Solidarität mit den Schwachen, Empathie und Schutz für die Verletzlichsten, Berücksichtigung elementarer Interessen derer, die keine Stimme haben. Minderheitenschutz. Verantwortung. Rücksichtnahme.
Wir wollen keine Privilegien für Tiere, wir wollen erst recht keine Privilegien für Veganer, wir wollen nichts weiter als die basalste und banalste moralische Selbstverständlichkeit: dass leidensfähige Mitgeschöpfe nicht gequält und ausgebeutet und getötet werden. Und wir wollen, dass diese moralische Selbstverständlichkeit juristisch kodifiziert und durchgesetzt wird.

Dass die weltweite Fleischindustrie einiges mit ökologischen Problemen zu tun hat (Methanemission, Regenwaldrodung, Gülleüberdüngung, Wasserknappheit etc.), dass Menschen in armen Ländern hungern, weil Unmengen an Futtergetreide für die Fleischgelüste von Menschen in reicheren Ländern gebraucht werden, dass Arbeiter in Schlachthäusern unter kriminellen Bedingungen schuften, um „Fleischbarone“ zu Milliardären zu machen, das alles muss man einer vielseitig informierten Linken nicht groß erzählen (sie erzählt in Kapitel 11 selber davon, Seite 284 ff). Nur sind dies ja gar nicht die eigentlichen Einwände, die der Veganismus vorzutragen hat. Der wesentliche Einwand ist schlichtweg der, dass Fleisch Mord und Mord Unrecht ist. Der Veganismus ist in erster Linie ein Thema für das Justizministerium, nicht für das Umwelt-, nicht für das Wirtschafts-, nicht für das Landwirtschaftsministerium. „Meat is murder.“ Und da kommt man auch mit Bio und Regio und Back to the Fifties nicht drum herum. Die Vorstellung vom fleißigen Arbeiter, der sich und seiner Familie einmal in der Woche den verdienten Sonntagsbraten gönnt, wird den Veganer nicht versöhnlich stimmen. Der fleißige Arbeiter soll auch am Sonntag keine Leichenteile verzehren, er soll gefälligst kein Kalb und kein Lamm erschießen, häuten, zerlegen und braten, einfach nach der gleichen Rechtslogik, nach der er auch kein Menschenkind erschießen, häuten, zerlegen und braten würde (bzw. andere Arbeiter dafür bezahlen würde, dass sie das tun).
Die Diskussion, die sich an dieser Stelle aufdrängt, weil alle Fleischesser schreien: „Ja aber, ja aber Menschenkinder sind ja wohl n bisschen was anderes als Rinderkinder“, werde ich an dieser Stelle nicht führen, sie ist komplex, und es ist hilfreich, vorab ein paar Bücher dazu gelesen zu haben (P. Singer, S. Donaldson/W. Kymlicka, J. S. Foer, R. D. Precht, M. Joy, B. Ladwig, H. Kaplan, U. Wolf, M. Bekoff etc.), was erfahrungsgemäß die wenigsten Omnivoren zu tun gewillt sind. Und es geht hier eh nicht darum, mal eben ein paar Leute zum Veganismus umzustimmen, sondern nur darum, Sahra Wagenknecht und alle, die mit ihr die Tierrechtsphilosophie als Wohlstandsverzärtelung und Lifestyleschrulle zu diskreditieren suchen, dazu aufzufordern, diese irgendwo zwischen Dämlichkeit und Bequemlichkeit angesiedelte Infamie künftig einfach zu unterlassen.


P.S.: Hab ich jetzt genau das getan, was die Autorin Leuten wie mir entlarvungsweise vorwirft?
„Mitglieder einer Opfergruppe zu kritisieren ist ein Tabu und der schlimmste Fauxpas, den Vertreter der Mehrheit begehen können. Das wird damit begründet, dass Mehrheitsmenschen sich per se nicht in das Innenleben und die Weltsicht einer Minderheit hineinversetzen können, weil sie lebenslang ganz andere Erfahrungen gemacht haben und daher zwischen ihrer Gefühlswelt und jener der diversen Minderheiten unüberwindbare Mauern existieren. Der Versuch, solche Mauern einzureißen, gilt nicht nur als aussichtslos, sondern als aggressiver Akt […].“

Also, erstens bin ich – wie oben dargelegt – als Veganer kein Mitglied einer „Opfergruppe“.
Zweitens wäre ich jedem Fleischesser dankbar, der die „Aggressivität“ aufbrächte, sich in einen Veganer hineinzuversetzen. Das sollte eigentlich nicht einmal besonders schwierig sein. Es mag schwierig sein, sich in eine schwule schwarze Jüdin hineinzuversetzen, weil dies Lebenserfahrungen erfordert, die man durch Lektüre und guten Willen nur unzureichend nachholen kann. Um sich aber in einen Veganer hineinzuversetzen, muss man nur aufhören, Tierprodukte zu konsumieren – damit kann man problemlos sofort beginnen –, und man muss ein paar horizonterweiternde Schriftlichkeiten zu sich nehmen und die Bereitschaft aufbringen, Gewohnheiten auf den Prüfstand zu stellen.
Enorm beschleunigen lässt sich die Veganisierung, indem man eine Beziehung zu einem Tier aufbaut. Denn darum geht es ja vor allem: sich in leidensfähige Lebewesen einzufühlen. Ich glaube, ein psychisch gesunder Mensch, der sich in einen Hund oder eine Katze einfühlen kann, der kann das prinzipiell auch bei einem Schwein oder einem Schaf. Wenn diese emotionale Mauer zwischen den Spezies fällt, kommt der Kotelettverzicht und die Sympathie für die Animal Liberation Front quasi von selbst.
Drittens: Man kann meinetwegen gern den Veganismus kritisieren (wenngleich es argumentativ aussichtslos ist), aber ihn in eine Reihe mit woken Identitätsprojekten zu stellen, ist in jeder Hinsicht unredlich.

Ich halte Sarah Wagenknecht für intelligent genug und reflektiert genug, das einzusehen und die antiveganistische Passage in den kommenden Auflagen ihres ansonsten sehr empfehlenswerten Buches „Die Selbstgerechten“ zu korrigieren. Ich bin sicher, sie findet andere linksliberale Skurrilitäten und Marotten, über die sie sich ersatzweise lustig machen kann.



 

Wenn Ihnen dieser Text gefällt oder sonstwie lesenswert und diskussionswürdig erscheint, können Sie ihn gern online teilen und verbreiten. Wenn Sie möchten, dass dieser Blog als kostenloses und werbefreies Angebot weiter existiert, dann empfehlen Sie die Seite weiter. Und gönnen Sie sich hin und wieder ein Buch aus dem Hause Flügel und Pranke.

 

© Marcus J. Ludwig 2022
Alle Rechte vorbehalten