Die Coronamaßnahmenkritiker führen vermehrt das Argument der fehlenden Verhältnismäßigkeit ins Feld. Die Verhältnismäßigkeit von Anticoronamaßnahmen und ihren Kollateraleffekten aber bemisst sich an der realen Gefährlichkeit des Krankheitsgeschehens. Und die kennt nach wie vor niemand wirklich. Fatalerweise. Denn eine gefühlsmäßige Einschätzung der Lage hat eben doch jeder, was dazu führt, dass alle, die überhaupt miteinander reden, aneinander vorbeireden. Ein fruchtbarer Gedankenaustausch würde erfordern, dass Kontroversen auf dem Boden derselben Realität stattfinden. Auf diesen Boden müssten alle gesprächsbereiten Gesprächsteilnehmer erst einmal mühsam geführt werden. Bislang gelingt das kaum. Wenn einer das hinkriegen könnte, dann der, an den sich der folgende etwas abschweifungs-, aber anregungsreiche Brief richtet:
Sehr geehrter Michael Fleischhacker!
Dass Ihr „Talk im Hangar 7“ die einzige Gesprächssendung im deutschsprachigen Fernsehen ist, die anzuschauen sich noch lohnt, ist allen Inhabern intellektueller Selbstachtung seit Langem klar. Und mit der Sendung vom 28. Jänner 2021 haben Sie Ihren Alleinvertretungsanspruch im non-fiktionalen Talk-TV-Segment mal wieder glänzend untermauert. Man braucht nur zehn Sekunden lang die Vorstellung in sich heraufzubeschwören, einem der Illusionskünstler Lanz, Will, Illner, Plasberg oder Maischberger hätte Freitagnacht die Gesprächsleitung oblegen, und man wird diesem österreichischen Milliardär, der Ihren Sender und Ihre Sendung sponsert, ewig dankbar sein müssen. Zugegeben, ich habe das Privatfernsehen als Verpöbelungsmaschine vielfach mit den derbsten Verwünschungen bedacht, aber im Falle von ServusTV muss zur Abwechslung auch mal das Hohelied sinnvoll verprassten Reichtums gesungen werden – selbst wenn dieser Reichtum durch den Verkauf vollständig sinnloser Produkte erwirtschaftet wurde. Egal. Ohne Red Bull kein ServusTV, ohne ServusTV kein „Talk im Hangar 7“. Und ohne den TiH7 hätten Millionen freiheitsfanatischer Resthirnbesitzer in ihrer Verzweiflung wohl längst zu ihren Mistgabeln und Norbert-Bolz-Gesamtausgaben gegriffen, um Lanz, Will und Konsorten aus ihren Quasselbuden zu jagen.*
Aber lassen wir das, ich wollte von Ihnen und Ihrer letzten Sendung sprechen und dankbar feststellen, dass diese ganz eindeutig die bislang beste seit Beginn der neuen Zeitrechnung war.** Noch nie und nirgendwo wurde während des zurückliegenden Jahres auf diesem Niveau gestritten. Drei Professoren, die jede(r) für sich schon in der Lage wären, einem in 75 Minuten die Haare lockig zu labern, wurden souverän über mittlere und höhere Eskalationsstufen geleitet, sodass man als Zuschauer nicht nur eine Vielzahl von Anregungen zum Mitdenken, Nachsinnen und Hinterfragen empfing, sondern auch noch den einen oder andern Kabelbrand im Herzschrittmacher löschen musste, weil es echt ultraspannend und nervenaufreibend war, wie die Kombattanten Ulrike Guérot, Markus Gabriel und Richard Greil sich beharkten. Und dank Ihrer wie immer wohltemperierten Moderation konnten die drei gerade noch von eventuell justiziablem Körpereinsatz abgehalten werden. – Ein Wort übrigens zu den drei Herrschaften, nur ganz kurz: Ich muss gestehen, dass ich vor Corona weder mit Frau Guérot noch mit Herrn Gabriel viel anfangen konnte, aber die Krise hat doch so einige Fronten verschoben und Sympathiepotenziale aktualisiert. Was die Politikprofessorin Guérot etwa zur Zukunft der EU oder einer Europäischen Republik meint, ist mittlerweile relativ nachrangig geworden für die Beurteilung ihrer geistig-moralischen Zurechnungsfähigkeit. Es geht in diesen Zeiten ans Eingemachte, und da hat sie sich nicht zum ersten Mal als mutige Verteidigerin von Freiheit und Menschlichkeit, ja sogar Lebendigkeit erwiesen, und das zählt am Ende, nicht wahr?
In der Krise konturiert sich der politische Charakter, es zeigt sich kristallklar, wer den Verlockungen des Totalitären erliegt und wer sich einen Sinn für Verhältnismäßigkeit bewahrt; wer sich unter Berufung auf realitätsferne Notstände nonchalant über das Gesetz hinwegsetzt und wer das Recht auch unter brenzligen Bedingungen achtet; wer um jeden Preis Leben retten und Zahlen drücken will – auch wenn die Welt darüber zugrunde geht – und wer um die Tragik der menschlichen Existenz weiß und die Redlichkeit aufbringt, das Einzelschicksal vom Gemeinwohl zu trennen.
Wir sehen in der Coronakrise so deutlich wie lange nicht mehr, wie viele Menschen anfällig sind für die Verführungskräfte einer billigen Notstandsethik, für die Dispensierung des Rechts im Dienste einer vermeintlich höheren oder höchsten Sache. Was wiegt denn Freiheit, wenn es um die Gesundheit geht! Wen kümmert noch die Verfassung, wenn Bilder aus Bergamo die Runde machen! Wer wollte da kleinlich auf Grundrechten beharren, wenn es um den Schutz tausender Menschenleben geht!
Dankenswerterweise saß dieser derzeit vorherrschende Charakter in Reinstform zu Ihrer Linken, lieber Herr Fleischhacker, und es war faszinierend, ihn einmal so klar herauspräpariert zu bekommen. Der Professor Greil, ein Salzburger Internist, Infektiologe, Onkologe, dem man eine schulmeisterliche Universalgelehrtheit nicht absprechen kann, verkörpert den Typus der überlegenen Intelligenz, die es nicht gewohnt ist, dass man ihr widerspricht. Eine halbdiktatorische Natur, die Menschen mit leiser Stimme einzuschüchtern weiß, ein Chefarzt, ein Kathederkommandant, ein Jesuit: ein Leo Naphta, wie er im Zauberberg steht.
Seine Hauptwaffe ist das permanente Aussetzen und Neudiktieren der Spielregeln, der Gesprächsregeln. Er bestimmt, ob eine Frage korrekt gestellt wurde, er behält sich vor, wie lange er die Beantwortung der ursprünglichen Frage vorbereitet und hinauszögert, um unter hundert Einschüben seine Argumentationsfäden zu entspinnen, er belehrt die Gegner darüber, was sie eigentlich, ohne es zu merken, gesagt haben, was sie sagen wollten oder hätten sagen müssen, wenn sie intellektuell auf seinem Niveau operieren würden.
Ein ungemütlicher, herausfordernder Diskutant. Ein Exponent der hohen Schule kalter und scharfer Disputation, geistesstrenger, quasikatholischer Kombinatorik. Kein Advocatus Diaboli, eher ein rabulistischer Anwalt Gottes, eines rechthaberischen und despotischen Gottes.
Sie sehen, ich bin abgestoßen, aber auch begeistert, dass es noch Leute von diesem alten Schlage gibt – wenigstens in Österreich. Würde man Herrn Greil in eine deutsche Talkshow setzen, würde die nach fünf Minuten abgebrochen, weil weder Moderatorin noch Mitdiskutanten verstünden, wovon der Mann überhaupt redet.
Sagte ich eben „Naphta“? Könnte sein. Wahrscheinlich weil – Thomas-Mann-Insidern wie Ihnen muss ich das nicht erzählen – wahrscheinlich weil die Figur Leo Naphta dem realen Modell Georg Lukacs‘ nachgebildet ist. Ich weiß nicht, mit welcher Stimme der sprach, habe nie Aufnahmen gehört, aber ich muss annehmen, er sprach genau so wie Richard Greil. Vor allem aber sah er auch so aus.***
Jemand, der Ahnung von Wurmlöchern, Zeitportalen und dergleichen SciFi-Kram hat, sollte mal überprüfen, ob der kommunistische Theoretiker vielleicht in den Zwanzigern des vorigen Jahrhunderts durch einen offenen Salzburger Gullydeckel versehentlich hundert Jahre vorwärts geflutscht ist, um in unseren Zwanzigern als Experte für wissenschaftliche Willkürherrschaft wieder aufzutauchen. – –
So. Jetzt lass ich mich aber nicht mehr ablenken. Ich wollte Ihnen schließlich kein Porträt des diesjährigen Favoriten im Leo-Naphta-Lookalike-Wettbewerb liefern, zumal Sie den Menschen ja schließlich selbst die ganze Zeit vor Augen, sogar direkt vor der Nase hatten – by the way: riecht er eigentlich auch so, wie er redet? Ich vermute eher, er riecht nach gar nichts, erstens weil er gewiss nichts isst außer Graubrot mit Quark und irgendeiner lebensverlängernden Geheimgewürzmischung, und zweitens weil er in der Lage ist, kraft seiner ungeheuren Selbstbeherrschungsvirtuosität sämtliche Sekretionsvorgänge des Körpers willentlich zu steuern – nein, ein Geist wie Richard Greil lässt sich von seinem physischen Substrat ganz sicher nicht vorschreiben, wann er zu schwitzen und biochemische Botenstoffe zu verströmen hat!
Pardon nochmal! Herr Fleischhacker. Michael. Nun im vollen Ernst: Was ich Ihnen sagen wollte, ist, dass ich leider, sorry, trotz allen Lobs und aller Begeisterung für Ihre Gesprächsführungskunst, nun doch ein Versäumnis beklagen muss, dessen Wettmachung ich im gleichen Atemzug vehement einfordern muss. Es handelt sich um den Punkt, den ich in meinen bescheidenen publizistischen Versuchen schon mehrfach umkreiste, ohne ihn vielleicht in der gebotenen Explizitheit zur Geltung zu bringen. Dies will ich nun kurz und bündig nachholen.
Es gibt in der ganzen verworrenen Corona-Situation letztlich nur zwei Fragen. Ich bin der Ansicht, dass diese Fragen in jeder Diskussionsrunde von jedem Teilnehmer beantwortet werden müssen. Das hieße also, Sie müssten sie zunächst mal stellen. Andernfalls dreht sich alles immerfort im Kreise um den heißen Brei herum.
Die erste Frage ist die alles entscheidende Sachfrage, ich formuliere sie mal ganz plakativ: Wie schlimm ist das Virus und die von ihm ausgelöste Krankheit? Diese Frage und ihre Teilaspekte – wie ansteckend ist das Virus, wie hoch ist die Letalität, welche Folgeschäden zieht eine überstandene Erkrankung nach sich – kann immer noch niemand beantworten, aber jeder hat so seine gefühlsmäßige Einschätzung. Und die grundiert alle seine weiteren Argumente.
Wenn etwa Ulrike Guérot auf der Unverfügbarkeit des Menschen beharrt, auf der Notwendigkeit, die Leute mit plausiblen Maßnahmen „mitzunehmen“, wenn sie mahnt, die Intuition der Bevölkerung nicht zu missachten, dann ist das allenfalls einleuchtend, wenn die Krankheit nicht wesentlich schlimmer als die gängige Grippe ist. Wenn Covid so was wie die Pest ist, dann fällt solch ein Argument augenblicklich in sich zusammen.
Das einzige, was uns hier weiterhelfen wird, sind Kohortenstudien, Längsschnittstudien, ein langfristiges Monitoring repräsentativer Bevölkerungsstichproben, auf Basis dessen wir zu einer verlässlichen, realistischen Beurteilung der Sachlage kommen. Eigentlich das kleine Einmaleins der Epidemiologie, wenn nicht des gesunden Menschenverstandes.
Die Forderung nach dieser epidemiologischen Grundlage muss jedes Mal erhoben werden, wenn jemand die Schultern zuckt und zugeben muss, dass er auf die obige Frage nach der „Schlimmheit“, der Gefährlichkeit, der Bedrohlichkeit keine präzise Antwort hat. Er könnte sie haben. Jeder Politiker, jeder Experte, jeder Berater, der zu dem Bekenntnis gezwungen wird – und Sie müssen und können ihn dazu zwingen –, dass er nichts Belastbares weiß, muss sich öffentlich verhalten zu diesem Skandal: dass er und seinesgleichen permanent tiefgreifende, lebensentscheidende, weltverändernde Maßnahmen treffen, für die sie keinerlei Faktenbasis vorweisen können. Jeder weiß (naja, eben nicht jeder), dass von den angeblich 50.000 deutschen Coronatoten nur ein kleiner Teil wirklich „an“ Corona gestorben ist. Jeder weiß, dass die wirkliche Zahl der Virus(fragment)träger viel höher ist als die täglich verkündete Zahl, dass es ein enormes Dunkelfeld gibt, und dass das Gerede von exakter Nachverfolgung von Infektionen völlig abwegig ist. Man könnte Licht in dieses Dunkel bringen. Sehr leicht sogar und zu vergleichsweise geringen Kosten. Dann wüssten wir, womit wir es zu tun haben. Offenbar will der größte Teil der Politiker und Wissenschaftler es nicht wissen. Sie, Herr Fleischhacker, müssen diese Leute damit konfrontieren. Keiner sonst wird es tun.
Die zweite Frage betrifft unser sozialethisches Grundverständnis, unsere bisherige und unsere zukünftige Einstellung zum Tod und zu Lebensrisiken, und sie kann vorerst nur unter hypothetischen Prämissen gestellt und beantwortet werden. Wir können grob etwa vier alternative Vorannahmen formulieren:
1. Corona**** ist so schlimm wie die Grippe (oder anders ausgedrückt: „Corona“ ist „die Grippe“, denn was wir im Volksmund „die Grippe“ nennen, ist ja nicht die reine Influenza, sondern ein phänomenologisch stets recht ähnliches saisonales Krankheitsgeschehen, bedingt durch einen jedes Jahr neu zusammengesetzten Virencocktail, in dem immer schon Coronaviren vertreten waren, mal mehr, mal weniger, mal schlimmer, mal harmloser.)
2. Corona ist nicht so schlimm wie die Grippe.
3. Corona ist schlimmer als die Grippe.
4. Corona ist viel schlimmer als die Grippe.
Aus Prämisse 1 folgt entweder die Einsicht, dass wir ein Jahr lang in einem gigantischen Wahn gefangen waren, dass wir den ganzen Lockdown- und AHA-Nonsens sofort beenden müssen, und dass alle Verantwortlichen, die uns das eingebrockt haben, zur Rechenschaft gezogen werden müssen.
Oder aber es folgt die Einsicht, dass wir einen gigantischen moralischen Paradigmenwechsel vollzogen haben, bzw. einen solchen aufgezwungen bekommen haben, einen Paradigmenwechsel, der vielleicht längst fällig war, der aber in keinster Weise demokratisch legitimiert war. Wir hätten dann eine unter den bislang stillschweigend akzeptierten Public-Health-Gesichtspunkten kaum zu begründende, eher irrationale und gefühlsbasierte Neubewertung von Krankheitsrisiken vorgenommen, welche zum Ergebnis hat: Es war immer schon falsch, jährlich 25.000 Menschen an „der Grippe“ sterben zu lassen, und in diesem Jahr haben wir mit dieser unhaltbaren Gewissenlosigkeit Schluss gemacht, wir haben endlich alles dem einen Ziel untergeordnet, saisonale Atemwegsinfekte zu unterdrücken. Das hätten wir immer schon tun müssen, und wir wollen es von nun an jedes Jahr so halten.
(Ich muss vielleicht betonen: Das mag satirisch klingen, aber so lautet unter der genannten Voraussetzung ungefähr die Verbalisierung dessen, was gerade geschieht, und man muss von den Menschen, den Entscheidern insbesondere, im Grunde aber von allen Menschen, die die Coronamaßnahmen befürworten, verlangen, dass sie ihre neujustierten Moralvorstellungen einmal so offen und explizit aussprechen. Denn dann können wir wenigstens mit offenem Visier miteinander streiten.)
Aus Prämisse 2 folgt dasselbe wie aus 1, nur wäre entweder der Skandal noch viel skandalöser, oder die Entscheider und die Coronamaßnahmenbefürworter müssten moralisch noch überzeugendere Argumente ins Feld führen, warum wir uns mit – sagen wir: 10.000 Grippetoten pro Jahr nicht mehr abfinden dürfen. Ich halte es durchaus für möglich, dass sich starke Argumente anführen lassen. Wir müssen uns ja nicht mit vermeidbaren Toten abfinden, wenn die Verhältnismäßigkeit es gestattet, Menschen vor banalen Krankheiten zu schützen. Aber solch ein Paradigmenwechsel sollte nicht im Panikmodus per Notverordnung dekretiert werden, sondern sorgsam und ausgiebig gesellschaftlich debattiert und dann demokratisch legitimiert werden.
Wenn Prämisse 3 zutreffen sollte, müsste das Argument der Verhältnismäßigkeit – welches bei den Corona-Realisten, die es verwenden, meist impliziert, dass die derzeitigen Maßnahmen eben völlig unverhältnismäßig sind – wesentlich präziser formuliert werden. Wenn zweifelsfrei belegt wäre, dass tatsächlich 50.000 Menschen in Deutschland an dem Virus gestorben sind, die zum Teil mehrere Jahre, zum Teil mehrere Jahrzehnte hätten weiterleben können, dann wird es umso wichtiger, utilitaristische Bewertungen der zu erwartenden Kollateralschäden vorzunehmen, um dann eine mutmaßlich ans Tragische grenzende Abwägung von Interessen und Gütern vorzunehmen. Eine rationale, eben eine verhältnismäßige Balance der Werte zu ermitteln. Das ist das ganz große Einmaleins der praktischen Ethik, und hier müssten dann mal echte Philosophen an den Tisch, die nicht modellieren, sondern abwägen und urteilen. – Haben Sie die Telefonnummer von Peter Singer zur Hand?
Was immer allerdings dabei herauskäme, würde noch nicht festschreiben, was wir konkret zu unternehmen hätten, um die abgewogenen Werte effizient und lebensverträglich zu realisieren. Diese Strategieentwicklung wäre weiter Sache einer verantwortungsvollen und kreativen Politik, die dazu genau jene von Markus Gabriel geforderten Expertenräte einberufen müsste, also Gremien, die außer den üblichen Verdächtigen auch geistes- und sozialwissenschaftliche Expertise vorweisen müssten.
Und sollte Prämisse 4 zutreffen, dann wären sehr viele Argumente der Coronamaßnahmenkritiker im Nu verpufft, und die wären dann sicherlich keine Corona-Realisten mehr, sondern -Verharmloser. Sollte es stimmen, dass wir ohne die Maßnahmen des zurückliegenden Jahres 500.000 Tote zu beklagen gehabt hätten, dann wäre die Politik der Regierungen in Bund und Ländern ein gigantischer Erfolg. Alle, die daran Zweifel hatten und diese Zweifel zuweilen in harschen Tönen vorgetragen haben, müssten dann – einschließlich meiner Person – kleinmütig Abbitte leisten und ihre komplette Inkompetenz eingestehen.
Für mich klingt diese Denkmöglichkeit einigermaßen absurd. Ich schätze aber, für die Herrscher über die öffentliche Meinung entspricht das in etwa der Realität.
Vielleicht können Sie, lieber Herr Fleischhacker, diese kleinen Anregungen ja in Ihren nächsten Sendungen – ich gehe mal davon aus, dass das Corona-Thema weiterhin im Hangar präsent bleibt – zur Ermittlung der verschiedenen Realitäten Ihrer Gäste heranziehen. Ein fruchtbarer Gedankenaustausch erfordert, dass die Gesprächspartner oder -gegner sich auf dem Boden derselben Wirklichkeit begegnen. Dort müssen Sie sie hinführen. Wahrscheinlich moderat hinzwingen, denn von sich aus wollen die Wenigsten dorthin. Ich glaube, dass Sie – vielleicht nur Sie – das können.
Servus, beste Grüße, Ihr MJL
* Unter uns: Man fragt sich ja immer mal wieder, wie es eigentlich passieren konnte, dass solche Figuren (Will, Lanz, etc.) in die Positionen gekommen sind, auf denen sie jetzt sitzen und geduldet werden. Und da man ja unbelehrbarer Pazifist ist und keinem was Böses will, überlegt man sich schon mal gelegentlich und fürsorglicherweise, was diese Leute denn machen könnten, wenn eine glückliche Wendung der Geschichte (gerne auch ohne Mistgabeln) ihre Freisetzung herbeiführen wollte. Nun, in meiner Fantasie werden sie dann wieder das, was sie hätten werden können, wenn die Welt zu Zeiten ihrer Berufswahl weise eingerichtet gewesen wäre, wenn also die zuständigen Selektionsmechanismen des Schul- und Ausbildungswesens gegriffen hätten.
Anne Will hätte von mir nach der mittleren Reife ein paar sportliche Klamotten gekriegt und ein Namensschildchen und wäre auf eine sonnige Balerareninsel verfrachtet worden, um dort zum Beispiel Urlauber herumzuführen und mit gymnastischem Entertainment zu beglücken. Im Ernst: Kann man sich Anne Will als irgendwas anderes vorstellen, denn als Animateurin in einem südlichen Fitness-Ferienpark?
Und kann man sich Markus Lanz als irgendwas anderes vorstellen, denn als Kellner auf einem Kreuzfahrtschiff? Er notiert Bestellungen, schenkt Prosecco nach, filetiert hier einen Seefisch und jongliert dort mit Ananas und Papayas. Applaus. Irgendwann setzt er sich wie zufällig mal ans Piano und man entdeckt, dass er verborgene Talente hat, und dann darf er zuweilen das Captain’s Dinner musikalisch begleiten, ansonsten aber ist er zufrieden damit, die Wünsche begüterter Senioren zu erraten und mit viel Taktgefühl zu erfüllen. Sie stecken ihm großzügige Trinkgelder zu, sagen ihm regelmäßig Nettigkeiten wie „Ach, Herr Markus, Sie sind ein Schatz! Ich mag Sie.“ Und die Welt ist so wie sie sein soll.
** https://www.servustv.com/videos/aa-25tgf1b152112/
*** Naja, Greil sieht nicht ganz so aus wie Lukacs, aber wenn Thomas Mann ein Bild von ihm gehabt hätte, dann hätte er ihn gewiss eher zum Modell für die Naphta-Figur herangezogen als GL.
https://www.leksikon.org/images/lukacs.jpg
**** Mit „Corona“ meine ich die Krankheit COVID-19 (coronavirus disease 2019) ausgelöst durch das Virus SARS-CoV-2 (severe acute respiratory syndrome coronavirus type 2). Hat sich sprachlich nun mal so eingebürgert …
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© Marcus J. Ludwig 2021.
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