Das grammatische Geschlecht, das Genus, bildet im Deutschen drei Nominalklassen, also Klassen von Hauptwörtern, die eben durch ihr Genus Dinge und Wesen klassifizieren. Sehr einfach eigentlich, aber in sich leider total unlogisch. Kompliziert und verwirrend wird es schon dadurch, dass die Rede vom grammatischen „Geschlecht“ den Gedanken an etwas Sexuelles nahelegt, „Genus“ bedeutet aber „Geschlecht“ eher im Sinne von „Gattung“, „Familie“, also etwa so wie beim „Adelsgeschlecht“, womit bekanntlich nicht das Fortpflanzungsorgan irgendeines Grafen gemeint ist.
Gruppen, die durch Verwandtschaftsverhältnisse definiert sind, haben zwar letztlich doch wieder was mit Sexualität zu tun, denn die Verwandtschaft kommt nun mal durch Sex zustande, aber darum geht es beim grammatischen Genus nicht. Spätestens, wenn wir vom „Neutrum“ reden, vom „sächlichen Geschlecht“, müsste das eigentlich klarwerden. „Das Kind“, „das Männchen“, „das Weibchen“, sind offensichtlich keine „neutralen“ Sachen.
Die Vorstellung, die Sprache müsste die reale sexuelle Beschaffenheit von Lebewesen benennen, zeugt von sonderbarer linguistischer Naivität. Diese wird man dem Normal-User nicht vorwerfen, wohl aber Leuten, die sich anmaßen, den Sprachgebrauch neu und „gerecht“ justieren zu können.
Männer und Frauen und Sachen?
Die hauptsächliche Komplikation liegt nun darin, dass der Zusammenhang von Genus und Sexus zwar nicht völlig arbiträr ist, sondern oft, vor allem eben bei menschlichen Lebewesen, tatsächlich linguistisch-biologische Kongruenz aufweist (der Mann, die Frau, der Herr, die Dame, der Kerl, die Tussi), dass die realen Dinge dem grammatischen Geschlecht aber doch mengenmäßig zu häufig, als dass man diese Fälle durch ein paar wenige Eingriffe in die Sprache korrigieren könnte, nicht entsprechen – allein deshalb, weil sie, wenn keine Lebewesen, gar kein reales Geschlecht besitzen (der Wagen, die Karre, der Stuhl, die Couch, der Himmel, die Luft). Die Eingriffe müssten massiv sein, man müsste eine ganz neue Sprache konstruieren. Wenn man das aber wirklich tun wollte – müsste man sie dann zuvörderst geschlechtergerecht, oder nicht einfach realitätsgerecht konstruieren?
Wir sprechen gewohnheitsmäßig Deutsch. Das Hineingewachsensein in die Strukturen unseres Sprechens und damit auch des Denkens, legt uns nahe, drängt uns geradezu auf, die Welt in männlich, weiblich, sächlich einzuteilen. Aber wenn man eine neue Sprache ersinnen wollte, würde man das gewiss etwas anders handhaben.
Männlich, weiblich, sächlich – das ist, recht besehen, keine allzu sinnvolle Klassifikation. Welche Realität bildet diese Dreiheit ab? Wenn ich die Welt anschaue, sehe ich dann überall Männer und Frauen und Sachen? Man könnte doch vielleicht ebenso gut oder besser zwischen belebt und unbelebt unterscheiden. Dann gäbe es zwei Genera, die durch Artikel und Endungen irgendwie zu kennzeichnen wären.
Man könnte natürlich die Männlich-Weiblich-Dichotomie beibehalten, aber dann wären Kinder doch ganz offensichtlich nicht sächlich. Man müsste dann also vier Genera einführen: männlicher Erwachsener, weibliche Erwachsene, männliches Kind, weibliches Kind. Das wäre einigermaßen sinnvoll.
Und zudem könnte man ein Genus, also eine Gattung von Nomen, für Tiere ersinnen, dann noch ein Genus für Pflanzen, eines für technische Dinge, eines für Mineralien, eines für Abstrakta, und so weiter.
Und in der Tat gibt es Sprachen, die viel mehr Nominalklassen kennen als wir mit unseren drei Genera im Deutschen. Sie unterscheiden zum Beispiel auch noch nach „natürlich“ und „vom Menschen hergestellt“, oder „essbar“ und „nicht essbar“. Andere, wie das Englische, haben die Nominalklassen weitgehend abgeschafft.
Es hing wohl, historisch gesehen, davon ab, wie wichtig bestimmte Unterscheidungen von Aspekten der Lebenswelt für die Mitglieder der Sprachgemeinschaft waren. Für manche Kulturen war es offenbar wichtiger, die Unterschiede zwischen Früchten und Steinen grammatisch zum Ausdruck zubringen, als die Unterschiede zwischen Menschen mit Penis und solchen ohne.
Die meisten Sprachen allerdings kennen selbstverständlich die Geschlechts-Dichotomie, denn sie ist offenbar fundamental für die Existenz jedes einzelnen Menschen und jedes Kollektivs. Die Tatsache, dass man ein Mann ist oder dass man eine Frau ist – da haben die Gender-Feministen durchaus recht –, entscheidet über nahezu alles im Leben, und zwar lange bevor es um die Besetzung von Vorstandsposten geht.
Abgestufter Unfug
Können wir hier irgendwie Klarheit oder gar „Gerechtigkeit“ schaffen? Müssen wir das? Ist der gegenwärtige Zustand, in dem „der Mensch“ maskulin und „die Person“ feminin ist, ungerecht?
Es ist, nebenbei, nicht immer klar, ob die Genderistas „gerecht“ im Sinne von „angemessen“, „den Erfordernissen entsprechend“, „sachgerecht“ verwenden, oder wirklich im ethischen Sinne. Mir scheint, die Sache hat sich der missionarischen Energie entsprechend verselbständigt, es fing an mit Adäquanz und artete aus zu einer Frage der Moral (1), die bekanntlich, wenn sie von bestimmten Leuten gestellt wird, immer auch gleich apodiktisch beantwortet wird, und also wenig mit Moral, aber viel mit ihrem aufgeblasenen Stiefbruder, dem Moralismus, zu tun hat.
Der sprachpolitische Gender-Unfug ist ein abgestufter Unfug. Auf der untersten Ebene begnügt man sich damit, zu allen männlichen Wortformen, soweit sie menschliche Personen betreffen, auch die weibliche hinzuzufügen. Hier bewegen wir uns fast noch im Bereich der Höflichkeit („Meine Damen und Herren“, „Liebe Leserinnen und Leser“), wobei solche Doppelformen außerhalb direkter Anrede schon ziemlich nerven können und auf Leute mit sprachlichem Zartgefühl zuweilen übertrieben gekünstelt wirken.
Ein Text wie der Paragraph 11 der sehr lesenswerten „Verordnung über die Verwaltung und Ordnung des Seelotsreviers Ems“, in welchem ein Lotse, ein Schiffführer und ein Stellvertreter vorkommen, müsste etwa folgendermaßen lauten:
„Die Vorschriften der §§ 8 bis 10 über die Befreiung von der Lotsen- und Lotsinnenannahmepflicht gelten auch für den Stellvertreter oder die Stellvertreterin des Schiffführers oder der Schiffführerin, wenn er oder sie die nautische Führung des Schiffes übernimmt. Der Stellvertreter oder die Stellvertreterin kann seine bzw. ihre Befreiung nur dann in Anspruch nehmen, wenn auch der Schiffsführer oder die Schiffführerin von der Lotsen- und Lotsinnenannahmepflicht befreit ist.“
Ist eine Geschmacksfrage, würde ich sagen. Oder vielleicht eher eine Geschmacksverlustsfrage.
Hausarztleistungenerbringender mit Leib und Seele
Wo wir schon mal bei der Nautik waren: Als nächstes kommt das zwanghafte Umschiffen der „kritischen“ Nomina mithilfe substantivierter Partizipien: Studierende statt Studenten, Lehrende statt Lehrer, Lotsende statt Lotsen, Forschende, Gebärende, Arbeitende, Kulturschaffende, Volksvertretende, Gehirnwaschende, Unfugtreibende.
Damit verkürzt man zwar stressige Doppelformen wie „Studenten und Studentinnen“, „Möbelpacker und Möbelpackerinnen“ etc, aber um den Preis der unfreiwilligen Komik. Wobei es sich allerdings vielleicht auch nur um eine Frage der Gewöhnung handelt, und die generelle Partizipablehnung insofern als konservativer Starrsinn abgetan werden könnte.
Der genuin linguistische Einwand bezieht sich daher weniger auf die Albernheit als auf die totale semantische Ignoranz, die solchen Bildungen innewohnt: Man ersetzt einen Gattungsnamen, der auf ein geistiges Konzept referiert, durch eine nichtssagende Verlaufsform und erzeugt damit eine flüchtige Präsenz, wo vorher personale Stabilität war.
Das Wort „Lehrer“ mag ebenso wie „Lehrender“ jemanden bezeichnen, der lehrt, also ebenfalls der Form nach ein substantiviertes Verb sein, aber dieser verbale Charakter ist aus der Semantik längst entwichen. Der Lehrer ist nicht einer, der gerade eben etwas tut, sondern jemand, der dauerhaft etwas ist, und im Idealfall ist er es mit Leib und Seele. Ein Lehrender dagegen ist Funktionär einer Anstalt, in der gerade Unterricht stattfindet. Er tut etwas, und wenn er es getan hat, dann ist er kein Lehrender mehr, sondern ein Nachhausegehender und Mittagessender. Ein Lehrer bleibt Lehrer, egal was er gerade tut. Er bleibt es, wenn er ein echter Lehrer ist, sogar nach seiner Pensionierung.
Noch deutlicher wird das Ganze beim Arzt (und bei der Ärztin), wo das mit dem Partizip zum Glück auch schwieriger ist. Ein Arzt ist ein mit seinem Beruf – mit seiner Berufung – im Kern seines Wesens identifizierter Mensch. „Ich bin Arzt“, das sagt man mit Stolz und Selbstbewusstheit, im unsympathischeren Fall sogar mit Standesdünkel. Jedenfalls sagt man es anders als man sagt „ich bin Patientenbehandelnder“, „ich bin Sprechstundeabhaltender“, „ich bin Hausarztleistungenerbringender“. Und vor allem meint man es anders.
Aber gerade dieses Meinen, dieses tiefere semantische Empfinden zu verändern, ist ja das Kernanliegen der Gender-Utopisten. Sie wollen keine gefestigten Menschen, die sich ihrer Identität sicher sind, und das womöglich lebenslang. Sie wollen fluide Augenblickswesen, die sich jeden Tag neu erfinden und aushandeln. Und ich habe echt keine Ahnung, warum sie das wollen.
Regenwürmin ohne Personality
Auf der nächsten Stufe begegnen wir dem Kernproblem der Gendersprech-Debatte: Es geht ums Generische, also vereinfacht gesagt um die Frage, ob mit bestimmten maskulinen Wortformen nur Männer oder aber beide (oder von mir aus auch alle) Geschlechter gemeint sind. Aber mit Vereinfachung kommen wir hier nicht weit, denn die Sache ist durchaus anspruchsvoll. Also:
Ein Generikum ist ein verallgemeinernder Oberbegriff, mit dem nicht nach natürlichen Geschlechtern unterschieden wird. „Der Mensch“, „die Person“, „das Wesen“.
Problem: Viele generische Formen können auch spezifisch gemeint sein. „Der Bär“ kann die Gesamtheit einer Tierart oder einer Population bezeichnen („das Verbreitungsgebiet des Braunbären erstreckt sich von … bis …“), aber auch das einzelne Tier, in diesem Fall ein männliches Tier („Der Bär hat die Bärin gewittert …“).
„Der Bär“ wäre also im ersten Fall generisches Maskulinum und im zweiten Fall spezifisches Maskulinum.
Das gibt es auch bei Feminina, im Falle von Tieren sogar recht häufig: „Ziege“, „Giraffe“, „Katze“, „Maus“ – wobei hier schon Unterschiede zutage treten, da die männliche Form eines generischen Femininums selten durch eine einfache Endung abgeleitet werden kann. „Zieger“, „Giraffer“, „Katzer“ – geht alles nicht, nur bei der Maus gibt es – wie bei der Gans, der Ente und einigen weiteren – die Möglichkeit durch „-erich“ das Maskulinum zu bilden: „Mäuserich“. Ansonsten muss man sich mit Komposita behelfen („Ziegenbock“, „Giraffenbulle“) oder mit spezifischen Formen, die es aber nur für einige Tiere gibt („Kater“). (2)
Von Maskulina kann man hingegen durch das höchst produktive Suffix „-in“ sehr häufig die weibliche Form ableiten, was allerdings nur geschieht, wenn das Wesen eine gewisse Personalität aufweist, wenn es also durch Entwicklungsniveau oder Lebensgemeinschaft uns irgendwie so nah ist, dass das Geschlecht eine Rolle spielt, was erwartbarerweise vor allem auf Haustiere zutrifft. Von einer „Käferin“, „Fröschin“ oder „Regenwürmin“ würden wir hingegen wohl nur zu Belustigungszwecken reden.
Den Sprachspieß umdrehen?
Am elegantesten wäre es natürlich, wenn die generische Form immer neutral wäre („das Pferd“, „das Rind“, „das Schwein“, „das Huhn“), und es für die spezifische Form immer ein eigenes Wort gäbe, bei dem Genus und Sexus übereinstimmten („Hengst/Stute“, „Bulle/Kuh“, „Eber/Sau“, „Hahn/Henne“). Ist aber eher selten. Die Evolution einer Sprache hat mit Eleganz nicht viel am Hut, mit logischer Stringenz leider auch nicht viel. (Und mit Gerechtigkeit ganz sicher gar nichts.)
Von Nomina agentis aber – um nun zur Hauptsache zu kommen – kann man immer durch Anhängen von „-in“ die weibliche Form erzeugen (Dichter/Dichterin, Polizist/Polizistin, Praktikant/Praktikantin). Und man meint nun in gendergerechten Kreisen, dies auch tun zu müssen. Von Verben (oder auch Substantiven) abgeleitete Tätigkeits-Nomen haben historischer- und ganz ungeplanterweise die maskuline Form angenommen. Diese Planlosigkeit möchte man nicht länger hinnehmen, man möchte neu planen und den Wörtern die feminine Form als die generische aufzwingen. Man soll sich also (nach einer besonders toxischen Spielart des Neusprechwahns) daran gewöhnen, dass mit einer Formulierung wie „die Politikerinnen im Bundestag“ alle gemeint sind, Frauen und Männer. Also einfach den Spieß umdrehen, denn wenn es früher hieß „die Politiker im Bundestag“, dann sollten ja angeblich auch die Frauen mitgemeint sein. Es gibt bereits Entwürfe für Gesetzestexte, die durchgängig feminin formuliert sind (was möglicherweise juristisch mal interessant werden könnte, wenn gerichtlich festgestellt würde, dass sich so ein Gesetz dann gar nicht auf Männer bezieht). (3)
Generisches Femininum
Generisches Femininum – gibt es das nur für Tiere oder auch für Menschen? Klar, auch für Menschen: „Die Person“, „die Wache“, „die Koryphäe“, „die Aufsicht“, „die Geisel“, „die Waise“ – können alles Männlein oder Weiblein sein (und ich glaube nicht, dass je ein Mann das Bedürfnis verspürt hat, hier etwas irgendwie sexuell richtigzustellen, wenn er mit solchen Vokabeln benannt wurde). Ist aber eine movierte (also durch „-in“ abgeleitete) weibliche Form generisch? Oder kann sie es werden, nach einer bestimmten Gewöhnungszeit vielleicht? Wenn ich von den „Leserinnen meines Blogs“ rede, sind dann im selben Maße Männer und Frauen gemeint wie bei der Formulierung „die Leser meines Blogs“? Da ich diese Fragen mit „nein“ beantworten würde, frage ich mal andersherum:
Gibt es einen guten, einen starken Grund außer meinem persönlichen Sprachgefühl, unter „Leserinnen“ nur die weiblichen Leser zu verstehen, unter „Lesern“ aber männliche und weibliche Leser – vielleicht sogar weder männliche noch weibliche, sondern geschlechtlich weitgehend neutralisierte Leser –, und die maskuline Form daher als „Normalform“ beizubehalten?
Man begegnet häufig der spöttischen Klage, dass die konsequente Feminisierung zu absurden Stilblüten wie etwa der „Bürgerinnenmeisterin“ oder der „Kanzlerinnenkandidatin“ führt, aber das scheint mir noch kein ausreichendes Argument abzugeben.
Der Begriff der „Markiertheit“ fällt hin und wieder auf Seiten der Gendersprachkritiker. Er kommt aus der Phonologie und der Morphologie, lässt sich aber auch auf andere linguistische Bereiche anwenden. Um es nicht zu theoretisch zu machen: Ein unmarkiertes Element zeigt die merkmallose, simple Normalform, sozusagen die neutrale Nulllinie, während markierte Formen komplexer, also zusammengesetzt, flektiert, affigiert und damit merkmalhaltig sind, das heißt also von der Grundform abweichend. Das Markierte ist das Besondere, das Speziellere, das Signifikantere gegenüber dem Normalen und Allgemeinen, dem Unmarkierten.
Bis in die Träume und Flüche hinein
Zu meiner nicht geringen Überraschung wird im Zeitgeistlexikon Wikipedia der höchst reputierliche Linguist Peter Eisenberg mit der Behauptung zitiert: „Während die feminine Form Lehrerin ein Sexusmerkmal hat, weist die maskuline Form Lehrer ein solches Merkmal nicht unbedingt auf. Das Wort kann sich auf Männer beziehen, muss es aber nicht, während dem Wort Lehrerin der Bezug auf weibliche Wesen fest eingeschrieben ist.“(4)
Außerdem lese ich: „Bei allen abgeleiteten Femininformen besteht eine eindeutige Übereinstimmung (Kongruenz) zwischen ihrem grammatischen Geschlecht (Genus) und dem „natürlichen“ Geschlecht (Sexus) der gemeinten Person: Als Polizistin kann nur eine Frau bezeichnet werden.“(5)
All dem würde ich wohl unumwunden zustimmen, aber gerade die Frage nach dem offensichtlichen Merkmal, der Unbedingtheit, der „festen Eingeschriebenheit“, mit einem Wort die Frage der eindeutigen Markiertheit bleibt ja letzten Endes eine Frage des Empfindens. Wenn genug Mitglieder der Sprachgemeinschaft irgendwann ihr Empfinden anpassen und sagen, sie stellen sich unter „Lehrerinnen“ sowohl Frauen als auch Männer vor, dann hat, dann hätte sich die Sprache halt gewandelt, nur halt noch etwas unlogischer als sie es schon immer getan hat.
Das Ärgernis besteht darin, dass sich eine solche Art von Wandel im Sprachusus ganz offensichtlich niemals von selbst, das heißt organisch „von unten her“ vollziehen würde. Er wird von einer kleinen, sehr kleinen, aber lauten und einflussreichen Minderheit – man scheut sich angesichts der intellektuellen Bonität dieser Leute von „Elite“ zu reden – forciert, er wird von oben geplant und penetrant vorgelebt, und wer um die Macht des Faktischen, des medial Faktischen weiß, der weiß, dass auch die absonderlichsten Absurditäten früher oder später von der Masse nachgelebt werden.
Die Frage ist am Ende wohl, ob es – gegen alle Markiertheitstheorie – möglich ist – rein psycholinguistisch –, dass die Sprecher der deutschen Sprachgemeinschaft weibliche Formen als Normalformen, als Grundformen akzeptieren, und zwar bis in ihre Träume und ihre Flüche hinein, denn nur dann könnte man von echter Einverleibung reden. Das, was spontan und unbewusst seinen Ausdruck findet, das ist zumeist die Normalform.
Mein Glaube an einen Mehrheitswillen zu Natürlichkeit und Normalität ist schon lange nicht mehr stark genug, um die Deutschen für hinreichend immun gegen die Perversitäten der Zeit zu halten. Über kurz oder lang werden sie wohl jeden Schwachsinn hinnehmen und bei jeder Manipulation freudig oder mindestens gleichgültig mitmachen.
Spätestens wenn irgendwann der Busfahrer seiner Frau, der Blumenverkäuferin, am Frühstückstisch schlaftrunken berichtet, er habe von der Bürgerinnenmeisterin geträumt, und wenn sich später noch bei der Zeitungslektüre ein politischer Streit entspinnt, auf dessen Gipfel sie ihn anschreit: „Vergiss es, ich werde diese verdammte Kanzlerinnenkandidatin ganz sicher nicht wählen, du blöde Vollidiotin!“, spätestens dann wird es wohl Zeit, die Theorie anzupassen.
Gratulation, Frau Will!
Nun kann man zwar feststellen – und damit kommen wir zur obersten, weil derzeit präsentesten Stufe des Gender-Unfugs –, dass die radikale Verwendung des „markierten generischen Femininums“(6) im Dienste der expansiv-feministischen Diskursbestimmung noch auf eine gewisse Ablehnung stößt, wie man etwa am erwähnten Gesetzestext aus dem Hause der Justizministerin Lambrecht sehen kann. (7)
Kaum auf Gegenwehr trifft hingegen die allerorten zu hörende Mehrgeschlechtlichkeits-„Sichtbarmachung“ durch gesprochenen Gender-Gap. Anstatt Anne Will für ihre „Zuschauer*innen“ und „Politiker*innen“ und „Wissenschaftler*innen“ ein paar Backpfeifen auf die Botoxbäckchen zu pfeffern oder ihr wenigstens das Studio bis zum Eichstrich vollzukotzen, sitzt das Mainstream-Luschentum von Laschet bis Lindner einfach da und lässt sich erziehen wie brave Benimmschüler in kurzen Hosen. Seltsam, denn ich bin sicher, dass sie – sofern nicht ohnehin durch akademische Ausbildung oder private Studien mit allen sprachwissenschaftlichen Wassern gewaschen – von ihren linguistischen Beraterstäben mit den vortrefflichsten Argumenten versehen sind, die man in so einer Lage vorbringen könnte. Sie werden in Rollenspielen tausendmal durchexerziert haben, was man einer Moderatorin entgegnet, die sich mit ihrem Genderscheiß derart aufdringlich und übergriffig verhält, etwa:
„Frau Will, ich empfinde diesen Genderscheiß – ich meine natürlich ‚Genderunfug‘ – als extrem aufdringlich und übergriffig. Sie können ja Ihre privaten Unterhaltungen und Ihre Selbstgespräche mit gesprochenen Sternchen verzieren, aber wenn Sie Wert auf meine Anwesenheit in Ihrer Laberrunde legen, lassen Sie das einfach bleiben, okay?“
Oder: „Frau Will, Sie versuchen durch Ihre Sprechweise, eine besondere – und besonders regelwidrige – Schreibweise, hörbar zu machen. Sie verletzen damit den ersten und unumstößlichsten Lehrsatz aller Linguistik: Sprechsprache vor Schreibsprache! Dem alltäglich gesprochenen Wort, der umgangssprachlich und dialektal produzierten Lautgestalt kommt das Primat in Sachen Sprachwandel zu. Ihr Gendergap ist aber eine reine Schriftgeburt, eine missgebildete dazu, und Ihr Bestreben, dieses grammatische Krüppelkind durch blasierte Kunstpausen zu beleben, ist – abgesehen davon, dass es, wie man in Ihren Kreisen sagt: wissenschaftsfeindlich ist – schlichtweg unappetitlich.“
Oder: „Frau Will, wenn Sie sich selbst gut zuhören würden, dann könnten Sie feststellen, dass Sie mit Ihren Zuschauer*innen keineswegs geschlechtergerecht sprechen. Sie sprechen, wenn Sie diese Ausdrucksweise verwenden, exklusiv zu den weiblichen Zuschauern. Beim Lesen mag man sich das noch zurechtreimen können, dass Männer und Frauen und auch Hermaphroditen gemeint sein sollen, aber die lautliche Gestalt bildet nur Frauen ab. Frauen mit Schluckauf. Spätestens bei Nomen, die mit Umlaut moviert werden – Koch/Köchin zum Beispiel – müsste das doch selbst Ausbündinnen an grammatischer Gefühllosigkeit wie Ihnen auffallen.“
Oder: „Frau Will, ich weiß, Ihnen wird nichts dergleichen auffallen, ich weiß auch, ich werde mit keinem meiner kleinen Denkimpulse irgendwelche skeptischen Selbstprüfungen bei Ihnen in Gang bringen, ich weiß, dass Sie von diesem Gender-Trip nicht einfach so runterkommen werden. Ich mein, dass Sie kein größeres Interesse an Rationalität und vorurteilsfreier Durchdringung komplexer Themen haben, wussten Sie ja in den zurückliegenden vierzehn Jahren Ihres Wirkens eindrucksvoll nachzuweisen. Und warum auch sollten Sie auf die wohligen Selbstwert-Schauer verzichten, die Ihnen diese herrlich moralischen Glottisschläge durchs Kleinhirn rieseln lassen … man könnte zwar der Auffassung sein, dass nach Jogi Löw und vor Angela Merkel auch Sie nun langsam mal genug verheerende Dienstjahre auf dem Buckel haben, um befriedigt den Rückzug in die private Unsichtbarkeit antreten zu dürfen. Immerhin steht Ihr Name in den Geschichtsbüchern der Zukunft neben denen der beiden andern für eine ganze Ära, für anderthalb Jahrzehnte bleierner Stabilität, für ein Berlin voller Systemgaranten, die schwer wie Beton auf ihren Posten sitzenbleiben, egal wie offensichtlich ihre Zeit schon abgelaufen ist. Aber das ist ein Nebenthema – ich wollte auf etwas anderes hinaus:
Frau Will, ist Ihnen je in den Sinn gekommen, dass Ihr gottverdammter, hirnverbrannter, fanatisch-verrannter Genderscheiß – ich meine natürlich ‚Genderunfug‘ – nicht nur eine Frage von Grammatik und feministoider Gerechtigkeit ist, sondern auch eine Frage des Stils? Und gestattet Ihnen Ihre zeitgeistig geglättete Weltanschauung vielleicht, wenigstens einen Augenblick lang den Gedanken zuzulassen, dass Stil im Bereich der Sprache nicht etwa blumige Verzierungen oder emphatische Ausrufezeichen oder vorschulhafte Syntax verlangt, sondern vor allem eines: Präzision? Und in Kontexten, wo der Präzision Grenzen gesetzt sind, auch mal Poesie. Ihr widerwärtiger Genderscheiß hingegen – ich glaube, ich meine doch tatsächlich ‚Genderscheiß‘ – ist weder präzise noch poetisch. Sondern politisch und pietistisch, blind und bösartig, mit einem Wort: ideologisch.
Den Präzisionsgrad einer sprachlichen Äußerung, den guten Stil eines Textes erkennen Sie daran, dass die Sprache hinter der Sache verschwindet, man hört kein Gesprochenes und keinen Sprecher mehr, es entsteht einfach eine Vorstellung im Kopf, eine Vorstellung von Inhalten, über die man sich mit einem Gesprächspartner austauschen möchte.
Ihr Genderscheiß dagegen macht das Gesprochene andauernd sichtbar und verhindert damit systematisch den leichten und zwanglosen Fluss des Gedankens von einem Geist zum andern. Und eben das ist ja Ihre Intention, Sie wollen keine Leichtigkeit und keine Zwanglosigkeit, Sie wollen durch Ihre akustischen Stolpersteine die Ungezwungenheit zu Fall bringen, Sie wollen auf Ihre wahnhaften Missstände aufmerksam machen, Sie wollen aufrütteln und provozieren. Und Sie haben – das will ich gern anerkennen – Erfolg damit, bei mir jedenfalls haben Sie immensen Erfolg, ich fühle mich bei jedem Ihrer Gender-Gaps aufgerüttelt, durchgeschüttelt und provoziert. Sie provozieren mich zu Texten wie dem hier vorliegenden, wobei ich mir allerdings nicht vorstellen kann, dass dies allen Ernstes das eigentliche Ziel Ihrer Provokation sein soll.
Außerdem aber, und peinlicherweise, provozieren Sie mich zu groben Fehlern, denn wenn ich den oben irgendwo gesetzten Anführungszeichen trauen darf, dann spricht hier gerade eigentlich immer noch ein politisches Fantasywesen, eine Mischfigur aus Laschet und Lindner, aber ganz offensichtlich bin ich komplett aus der Rolle gefallen und in mein Autoren-Ich zurückgefallen, was wohl auch dadurch, dass ich es gerade erkenne und verbalisiere, nicht zu entschuldigen ist. Sie sehen, was Sie anrichten, Frau Will. Sie sehen, Ihre Provokation funktioniert glänzend, Ihr Stolpersprech ist unbestreitbar auf der Siegerstraße. Ich gratuliere. Zum Teilsieg wenigstens. Für den Endsieg müssten Sie wahrscheinlich doch noch ein wenig mehr Gewalt anwenden, Gewalt gegen die Natur und den gesunden Menschenverstand. Ich bezweifle keine Sekunde, dass Sie und Ihresgleichen dazu bereit sein werden.“
(1) Anatol Stefanowitsch: Eine Frage der Moral – Warum wir politisch korrekte Sprache brauchen, Dudenverlag, Berlin 2018
(2) Ein interessanter Fall ist die Seekuh, bei der die armen Männchen sich die identitätsverwirrende Bezeichnung „Seekuhbulle“ gefallen lassen müssen. Sollte man mich dereinst an der Konstruktion einer neuen deutschen Sprache beteiligen, so würde ich als Allererstes die Seekuh in ein „Seerind“ umtaufen.
(3) https://www.tagesschau.de/inland/streit-gesetzestext-weibliche-form-101.html
(4) Normalerweise gibt es dann auf Wikipedia zu solchen Aussagen noch ein Kapitel „Kritik“, das doppelt so lang ist wie der eigentliche Eintrag, und in dem zwanzig „Rechtsextremismusexperten“ zitiert werden, die dem Leser durch ihre Einschätzungen klarmachen, warum solche Aussagen unwissenschaftlich, menschenverachtend, demokratiefeindlich, rassistisch, klimaleugnerisch und hitlerverherrlichend sind.
(5) https://de.wikipedia.org/wiki/Nomen_Agentis
(6) Übrigens verstehen das viele Genderaktivisten nicht so ganz, die denken, „Lehrerinnen“ wäre unmarkiertes generisches Femininum und „LehrerInnen“ wäre markiertes generisches Femininum. Es ist aber beides markiert, und das zweite ist zusätzlich auch noch orthografiefeindlich geschrieben. Ganz abgesehen davon, dass es eben eigentlich (noch) keine generischen Feminina gibt, außer den erwähnten „Personen“, „Geiseln“ etc.
(7) https://www.tagesschau.de/inland/insolvenzrecht-generisches-maskulinum-101.html
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© Marcus J. Ludwig 2021.
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